Das Krankenhaus war ein Labyrinth aus weißen Fluren und dem Geruch nach Desinfektionsmittel. Robert ging im Wartebereich auf und ab. Seine Frau Victoria war inzwischen eingetroffen, kühl und beherrscht wie immer, aber Robert konnte ihre Anspannung spüren. Dr. Klaus Hartmann, der Chefarzt der Augenheilkunde, trat aus dem Untersuchungszimmer. Er wirkte erschüttert. „Es ist medizinisch unerklärlich, Herr von Maxfeld“, sagte er und nahm seine Brille ab. „Niklas leidet an Leberscher Kongenitaler Amaurose. Er sollte blind sein. Aber seine Netzhautzellen… sie reagieren. Es ist, als wäre eine blockierte Tür aufgetreten worden. Die Struktur der Proteine hat sich verändert.“ „Wird es bleiben?“, fragte Robert leise. „Wir wissen es nicht. Wir müssen herausfinden, was genau das ausgelöst hat.“
„Es war das Mädchen“, sagte Robert fest. „Die Seife. Oder… sie.“ Eine Krankenschwester trat heran. „Herr von Maxfeld, Ihr Sohn fragt ununterbrochen nach dem Mädchen vom Schulhof. Er will wissen, ob es ihr gut geht.“ Robert sah den Arzt an. „Wo ist sie?“ Die Schwester senkte den Blick. „Kinderonkologie. Fünfter Stock. Ihr Name ist Emilia Walter. Und… es sieht nicht gut aus.“
Das Wort Onkologie traf Robert wie ein physischer Schlag. Er ließ Victoria und den Arzt stehen und fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock. Er fand Emilias Zimmer. Es war schlicht, fast trostlos, nur geschmückt mit ein paar selbstgemalten Bildern. Emilia lag im Bett, klein und zerbrechlich. Neben ihr saß eine Frau, Sabine, die Hand ihrer Tochter haltend. Sie sah erschöpft aus, eine Frau, die zu lange gekämpft hatte.
Robert klopfte leise. Sabine schreckte hoch, Angst in den Augen. „Frau Walter? Ich bin Robert von Maxfeld. Niklas‘ Vater.“ Sabine erhob sich sofort, defensiv. „Es tut mir leid, was Emilia getan hat. Sie ist ein Kind, sie wusste nicht…“ „Mein Sohn kann sehen“, unterbrach Robert sie sanft. Sabine erstarrte. „Was?“ „Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er mein Gesicht. Er sieht Farben. Er sieht Sie.“ Robert trat näher. „Ich bin nicht hier, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Ich bin hier, um Danke zu sagen. Und um zu fragen: Wie kann ich helfen?“
Sabine sank zurück auf den Stuhl. „Niemand kann helfen. Der Krebs… er streut. Die Ärzte geben ihr noch drei Monate.“ Vom Bett her erklang ein schwaches Flüstern. „Hat es geklappt?“ Emilia hatte die Augen geöffnet. Sie waren trüb, aber sie lächelte. Robert kniete sich neben das Bett. „Ja, Emilia. Es hat geklappt. Niklas sieht.“ Emilia strahlte, obwohl ihr kleiner Körper vor Anstrengung zitterte. „Dann kann er jetzt lila sehen. Lila ist wichtig.“
Robert traf eine Entscheidung, die sein Leben verändern sollte. Er mobilisierte sein gesamtes Vermögen, seinen Einfluss, seine Macht. Er ließ Dr. Hartmann und die besten Onkologen des Landes einfliegen. Er verlegte Emilia in die Privatstation, in das Zimmer direkt neben Niklas. Victoria war entsetzt. „Du riskierst den Ruf der Firma für ein fremdes, sterbendes Kind?“, zischte sie ihm beim Abendessen zu. Auch ihr Vater, Harald Thomsen, der Patriarch der Familie, tobte. „Es ist kein fremdes Kind“, sagte Robert ruhig. „Sie ist der Grund, warum unser Sohn die Welt sieht.“
In den folgenden Wochen geschah etwas Merkwürdiges. Niklas und Emilia wurden unzertrennlich. Niklas, mit einer Spezialbrille, saß stundenlang an Emilias Bett. Sie malten zusammen. Emilia brachte ihm die Namen der Farben bei, die er nun sehen konnte. „Das ist Rot“, sagte sie und zeigte auf einen Apfel. „Wie Wut, aber auch wie Liebe.“ „Und das?“ Niklas zeigte auf den Himmel draußen. „Blau. Wie Kälte. Oder wie Freiheit.“
Doch während Niklas‘ Sehkraft stabil blieb, verschlechterte sich Emilias Zustand. Die aggressive Chemotherapie schien nicht anzuschlagen. Dr. Hartmann rief Robert und Sabine in sein Büro. Er wirkte aufgeregt, fast manisch. „Wir haben die Proben analysiert. Emilias Speichel, ihr Blut… und das von Niklas. Da ist eine Verbindung.“ „Was für eine Verbindung?“, fragte Sabine. „Ein Enzym“, erklärte Hartmann. „Emilias Körper produziert aufgrund der Krebserkrankung ein extrem seltenes, mutiertes Enzym. Es scheint, als hätte genau dieses Enzym, übertragen durch den Speichel auf der Seife, die defekten Rezeptoren in Niklas‘ Augen vorübergehend repariert.“ Er machte eine Pause. „Aber das ist noch nicht alles. Wir haben Spuren dieses Enzyms auch in Niklas gefunden – aber in einer stabilisierten Form. Sein Körper hat es angenommen und… angepasst.“ Robert lehnte sich vor. „Was bedeutet das?“ „Es bedeutet“, sagte Hartmann leise, „dass Niklas‘ Blut möglicherweise das Gegenmittel enthält, das Emilia braucht. Sein Immunsystem hat ihr Enzym genommen und eine Antwort darauf entwickelt, die nicht nur seine Augen heilt, sondern vielleicht auch ihren Krebs bekämpfen kann.“
Es war eine Theorie. Ein medizinisches Wagnis. Aber es war ihre einzige Hoffnung. Victoria wollte es verbieten. „Du wirst meinen Sohn nicht als Versuchskaninchen benutzen!“, schrie sie. Aber Niklas, der das Gespräch belauscht hatte, trat in den Raum. Er nahm seine Brille ab und sah seine Mutter direkt an. „Sie hat mir meine Augen geschenkt, Mama“, sagte er fest. „Ich gebe ihr mein Blut. Ich gebe ihr alles.“
Die Behandlung begann. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Weihnachten stand vor der Tür, und der Schnee fiel dicht über die Stadt. Im Krankenhauszimmer hatten Niklas und Sabine einen kleinen, künstlichen Weihnachtsbaum aufgestellt – lila, wie Emilia es sich gewünscht hatte. Emilia war schwach. Sie schlief viel. Niklas hielt ihre Hand, Stunde um Stunde. Wenn sie wach war, erzählte er ihr, was er sah. Den Schnee. Die Lichter. Ihr Gesicht.
Am Heiligabend verschlechterte sich ihr Zustand dramatisch. Die Monitore piepten hektisch. Dr. Hartmann und sein Team arbeiteten fieberhaft. Sabine weinte leise in einer Ecke. Robert stand am Fenster und betete zum ersten Mal seit Jahren. Plötzlich wurde es still im Zimmer. Emilia öffnete die Augen. Sie atmete tief ein, ohne das rasseln, das sie seit Wochen begleitete. Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. „Ich habe Hunger“, flüsterte sie. Dr. Hartmann starrte auf die Monitore. „Die Werte… sie stabilisieren sich. Die Tumormarker sinken. Rapide.“
Es war ein Weihnachtswunder, wissenschaftlich erklärbar und doch magisch. Niklas‘ Blut hatte Emilias Körper beigebracht, wie er den Krebs bekämpfen konnte. Sie hatten sich gegenseitig gerettet.
Am nächsten Morgen betrat Harald Thomsen, der harte Patriarch, das Krankenzimmer. Er hatte von dem Durchbruch gehört. Er sah den Jungen, seinen Enkel, der sehen konnte. Und er sah das kleine Mädchen, das im Bett saß und Pfannkuchen aß. Harald räusperte sich. Er wirkte ungewohnt unsicher. „Dr. Hartmann hat mir noch etwas gezeigt“, sagte er in den Raum hinein. „Die genetischen Analysen.“ Alle sahen ihn an. „Dieses Enzym… diese Kompatibilität… das ist kein Zufall. Es ist extrem selten. Es tritt fast nur innerhalb von… Blutlinien auf.“ Er drehte sich zu Sabine. „Ihr verstorbener Mann, Jakob Walter… er stammte aus dem Kohlegebiet in Pennsylvania, nicht wahr?“ Sabine nickte verwirrt. „Ja.“ Harald seufzte schwer. „Mein Vater, Maximilian von Maxfeld Senior, hatte dort in den 50er Jahren Geschäfte. Und… eine Affäre.“ Stille füllte den Raum. „Emilia“, sagte Harald leise, „ist meine Urenkelin. Sie ist Niklas‘ Cousine zweiten Grades.“
Die Puzzleteile fielen an ihren Platz. Das Enzym, die Verbindung, das Wunder. Es war das Blut, das nach seinem eigenen rief. Victoria, die im Türrahmen stand, begann zu weinen. Sie ging zu Sabine und umarmte sie. Die Barrieren aus Stand und Vorurteilen brachen zusammen, weggeschwemmt von der Wahrheit und der Liebe zweier Kinder.