Vincent Albrecht war ein Mann, der nichts dem Zufall überließ. In seinem Leben, das von Bilanzen, Aktienkursen und Bauplänen bestimmt wurde, war Kontrolle die wichtigste Währung. Doch in seiner Villa in Grünwald, einem imposanten Anwesen am Rande von München, herrschte eine andere Art der Kontrolle.

Er hatte überall versteckte Kameras installieren lassen. Winzige, kaum wahrnehmbare Linsen, die in Rauchmeldern, hinter Buchrücken und in dekorativen Vasen verborgen waren. Sie deckten jeden Winkel ab: die hochmoderne Küche mit ihren glänzenden Edelstahlflächen, das weitläufige Wohnzimmer mit den italienischen Ledermöbeln und vor allem den Flur, der zum Kinderzimmer führte.
Vincent tat dies nicht aus purer Bosheit oder weil er ein Voyeur war. Er tat es, weil sein Herz zu einer Festung geworden war, deren Brücken er längst hochgezogen hatte. Seit dem tragischen Tod seiner Frau Susanne war er ein zynischer, verschlossener Mann geworden. Er vertraute niemandem mehr, und schon gar nicht dem Personal, das er in sein Haus ließ.
Vincent war Milliardär. Sein Bauunternehmen war eines der größten in Europa, sein Vermögen wurde auf 800 Millionen Euro geschätzt. Er besaß Oldtimer, deren Wert jährlich stieg, und Kunstwerke, die in Museen hängen könnten. Doch all dieser Reichtum konnte ihm nicht das kaufen, was er am meisten brauchte: Seelenfrieden und Vertrauen.
In den letzten sechs Monaten hatte sich sein Haus in einen Drehtür-Arbeitsplatz verwandelt. Fünf Kindermädchen waren gekommen und gegangen. Die Gründe waren so vielfältig wie enttäuschend. Die Erste hatte wertvollen Schmuck seiner verstorbenen Frau in ihrer Handtasche verschwinden lassen. Die Zweite hatte versucht, Paparazzi-Fotos seines einjährigen Sohnes Felix an ein Klatschmagazin zu verkaufen. Die Dritte, eine junge Frau, die mehr Zeit mit ihrem Smartphone als mit dem Kind verbrachte, hatte auf Instagram gepostet: “Babysitting beim einsamsten Milliardär Münchens #Luxusleben” und damit fast ein Sicherheitsproblem ausgelöst.
Nun waren nur noch er und Felix übrig. Felix war ein stilles Kind mit großen, graublauen Augen, die immer ein wenig zu ernst für sein Alter wirkten. Er lachte selten und mit einem Jahr konnte er noch immer nicht laufen, als würde die Schwere, die auf dem Haus lastete, auch seine kleinen Beine niederdrücken.
An einem verregneten Montagmorgen stand sie vor der Tür. Helena Weber. Sie war keine der Agentur-Nannys in gestärkten Uniformen oder mit übertriebenen Referenzen. Sie trug eine schlichte Jeans, eine weiße Bluse und einen einfachen Wollmantel. Ihr hellbraunes Haar war praktisch zusammengebunden, und in ihrem Gesicht lag eine Ruhe, die Vincent sofort irritierte.
“Guten Morgen, Herr Albrecht”, sagte sie, als er die schwere Eichentür öffnete. Ihre Stimme war warm, ohne aufdringlich zu sein. “Was für ein wunderschönes Haus. Und dieser Kleine…”, ihr Blick wanderte zu Felix, den Vincent auf dem Arm hielt, “…wie süß er lächelt, auch wenn er gerade etwas skeptisch schaut.”
Vincent musterte sie mit jenem kalten, durchdringenden Blick, der schon so manchen Geschäftspartner nervös gemacht hatte. Niemand war so freundlich ohne Hintergedanken. Freundlichkeit war in Vincents Welt meistens nur eine Maske für Gier.
“Sparen Sie sich den Charme, Frau Weber”, sagte er schroff. “Wir haben klare Regeln. Sie kümmern sich um den Haushalt und das Kind. Sie beginnen in der Küche, dann das Wohnzimmer. Mein Arbeitszimmer ist tabu. Sie fassen dort nichts an. Und…” er trat einen Schritt näher, seine Stimme wurde leiser, aber härter, “…Sie nehmen den Jungen nicht auf den Arm, es sei denn, es ist absolut notwendig oder ich erlaube es. Verstanden?”
Helena blinzelte nicht. Sie wich seinem Blick nicht aus, wirkte aber auch nicht eingeschüchtert. “Natürlich, Herr Albrecht”, antwortete sie mit einem Lächeln, das nichts forderte, aber viel verstand. “Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um zu stören.”
Er ließ sie herein, aber das ungute Gefühl blieb.
So begann Vincents seltsames Doppelleben. Tagsüber war er der knallharte CEO, der Wolkenkratzer in Frankfurt und Brücken in Hamburg baute. Aber nachts, wenn die Welt schlief, saß er in seinem abgedunkelten Arbeitszimmer. Das bläuliche Licht seines Tablets spiegelte sich in seinen müden Augen wider, während er die Aufnahmen des Tages durchging.