Seine Knie gaben beinahe nach.
Darin befand sich ein winziges Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte seinen Vater, Johann Albrecht, Arm in Arm mit einer Frau, die Vincent noch nie gesehen hatte. Sie wirkte einfach, trug eine Schürze, aber sie strahlte über das ganze Gesicht.
Vincent klappte das Medaillon zu. Wer war diese Frau? War Helena eine illegitime Tochter? Eine Erpresserin? Warum trug sie ein Bild seines Vaters wie einen Schatz bei sich?
Zwei Tage vergingen, in denen Vincent innerlich brannte. Er sprach Helena nicht an, aber seine Blicke waren kälter, prüfender. Er fühlte sich verraten, obwohl er noch nicht einmal die Wahrheit kannte. Er war zerrissen zwischen Wut und einer seltsamen, unerklärlichen Hoffnung, dass es eine harmlose Erklärung gab.
Dann kam der Dienstagmorgen, der alles veränderte.
Vincent saß in seinem Arbeitszimmer, angeblich vertieft in Verträge, aber sein Blick hing am Monitor. Im Kinderzimmer kniete Helena vor Felix auf dem weichen Teppich. Sie hielt ihn an beiden Händen fest.
“Komm schon, mein kleiner Champion”, ermutigte sie ihn. “Du kannst das. Nur einen Schritt. Trau dich.”
Sie ließ ihn los.
Vincent hielt den Atem an. Felix schwankte. Er ruderte mit den Ärmchen. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen. Dann noch einen.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf Schritte.
Wackelig, taumelnd, aber er lief. Er fiel lachend in Helenas ausgebreitete Arme. Sie drückte ihn fest an sich, und Vincent sah über die hochauflösende Kamera, wie Tränen über ihre Wangen liefen.
“Du hast es geschafft!”, rief sie, ihre Stimme erstickt vor Glück. “Du bist gelaufen, mein Schatz! Oh, wenn dein Papa das sehen könnte…”
Vincent saß allein in seinem kühlen Büro. Seine eigenen Augen wurden feucht. Doch es waren bittere Tränen. Die ersten Schritte seines Sohnes. Ein Meilenstein. Und Felix lief nicht zu ihm, dem Vater, sondern in die Arme einer Frau, die er nicht kannte, der er nicht vertraute und die Geheimnisse vor ihm hatte.
Der Schmerz war der Katalysator. Er musste es beenden. Heute noch.
Am Abend, als Felix friedlich in seinem Bettchen schlief, rief er Helena in sein Arbeitszimmer. Die Atmosphäre war geladen wie vor einem Gewitter.
Helena trat ein, zögernd. Sie rieb ihre Hände nervös an ihrer Jeans ab. Sie spürte, dass dies kein gewöhnliches Gespräch über den Einkaufsplan war. “Setzen Sie sich”, sagte er kühl und deutete auf den Stuhl vor seinem massiven Mahagoni-Schreibtisch.
Sie gehorchte. “Herr Albrecht, habe ich etwas falsch gemacht? Ist mit Felix…” “Hören Sie auf!”, unterbrach er sie scharf. Er knallte das silberne Medaillon auf die Tischplatte. Das metallische Klirren hallte laut in der Stille wider.
Helena erbleichte. Ihre Hand fuhr instinktiv zu ihrem Hals, wo das Medaillon normalerweise hing. “Sie… Sie haben in meinen Sachen gestöbert?”, flüsterte sie entsetzt.
“Das ist mein Haus”, erwiderte Vincent ungerührt. “Und ich habe Kameras. Überall. Ich habe gehört, was Sie zu Felix gesagt haben. Über meine Mutter. Über meinen Vater. Sie tun so, als wären Sie Teil dieser Familie. Also frage ich Sie jetzt ein einziges Mal: Wer sind Sie wirklich, Helena? Und was wollen Sie von uns?”
Helena starrte auf das Medaillon. Die Stille im Raum war so dicht, dass man sie hätte schneiden können. Dann atmete sie tief ein, und als sie ihn ansah, war die Angst aus ihren Augen verschwunden. An ihre Stelle trat eine tiefe, traurige Ruhe.
“Ich bin nicht hierhergekommen, um Sie zu bestehlen oder zu täuschen, Vincent.” Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen ohne das förmliche ‘Herr’ benutzte. Es klang nicht respektlos, sondern vertraut.
“Meine Mutter hieß Therese Weber”, begann sie leise. Sie stand auf und ging langsam zum Fenster, blickte hinaus in den dunklen Garten. “Sie hat in diesem Haus gearbeitet. Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war. Ich war damals neun Jahre alt.”
Vincent blinzelte. Therese. Der Name weckte etwas. Ganz fern in seiner Erinnerung sah er das Bild einer stillen Frau, die in seiner Kindheit manchmal den Staub von den Büchern wischte, die ihm Kakao brachte, wenn seine Eltern auf Geschäftsreise waren.