“Mein Vater starb bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle”, fuhr Helena fort, ohne sich umzudrehen. “Meine Mutter blieb allein zurück. Drei Kinder. Keine Ersparnisse. Schulden. Wir standen vor dem Nichts. Ihre Anstellung hier war unsere einzige Rettung.”
Sie drehte sich um. Tränen glitzerten in ihren Augen. “Ihr Vater, Herr Albrecht… Johann. Er war anders als die anderen Reichen. Er sah uns. Er fragte meine Mutter nicht nur, ob die Arbeit erledigt war, sondern ob wir genug zu essen hatten. Er bezahlte ihre Überstunden doppelt, oft dreifach, ohne dass sie darum bat. Zu Weihnachten…” sie lächelte wehmütig, “…zu Weihnachten fuhr er persönlich bei unserer kleinen Wohnung vorbei. Er brachte Kisten voller Lebensmittel, Spielzeug für meine Brüder und mich. Er war der Grund, warum wir nicht auf der Straße landeten.”
Vincent schluckte schwer. Das klang nach Johann. Sein Vater war ein Mann gewesen, dessen Großzügigkeit oft an Naivität grenzte. Er hatte immer gesagt: Wenn man mehr hat, als man braucht, baut man längere Tische, nicht höhere Zäune.
Helena trat wieder an den Tisch und berührte das Medaillon sanft. “Dieses Medaillon… er hat es ihr geschenkt, als sie krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte. Er legte es ihr in die Hand und sagte: ‘Therese, du wirst das schaffen. Und wenn du es schaffst, vergiss nie, dass es noch gute Menschen gibt.’ Meine Mutter hat es bis zu ihrem Tod vor drei Jahren wie einen Heiligtum bewahrt. Auf dem Sterbebett gab sie es mir und ließ mich versprechen, die Güte ihres Wohltäters eines Tages zurückzugeben.”
Vincent ließ sich langsam in seinen Ledersessel sinken. Die Wut entwich ihm wie Luft aus einem Ballon, zurück blieb Scham.
“Aber… warum jetzt? Warum so heimlich?”, fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
“Weil das Versprechen an meine Mutter nur der erste Teil war”, sagte Helena. Ihre Stimme zitterte nun merklich. “Vor einem Jahr arbeitete ich als Pflegehelferin in einer Privatklinik am Starnberger See. Dort wurde Ihre Frau eingeliefert. Susanne.”
Vincent riss den Kopf hoch. “Was?”
“Sie hatte Komplikationen nach der Geburt. Es war kritisch. Ich war in ihrer letzten Nacht bei ihr.” Helena weinte jetzt offen. “Sie hatte Angst. Nicht um sich selbst, sondern um Felix und um Sie. Sie hielt meine Hand so fest… Sie sagte: ‘Wenn ich es nicht schaffe, wird mein Mann zerbrechen. Er wird sich verschließen. Jemand muss auf meinen Sohn aufpassen. Jemand muss Vincent daran erinnern, wie man liebt.'”
Helena wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort. “Ich habe in ihre Akte gesehen. Ich las den Namen Albrecht. Ich fragte sie, ob sie mit Johann Albrecht verwandt sei. Als sie sagte, sie sei seine Schwiegertochter, wusste ich, dass es kein Zufall war. Es war Schicksal.”
“Ich habe ihr versprochen, auf Felix zu achten”, flüsterte Helena. “Ich konnte keines dieser Versprechen brechen. Aber wer hätte mir geglaubt? Wenn ich hier aufgetaucht wäre und diese Geschichte erzählt hätte, hätten Sie mich für verrückt erklärt oder für eine Betrügerin gehalten. Also habe ich mich als Haushälterin beworben. Ich wollte nur da sein. Ich wollte mein Versprechen halten.”
Eine lange, schwere Stille senkte sich über den Raum. Nur das Ticken der Standuhr war zu hören, unerbittlich, gleichmäßig.
Vincent stand auf. Er fühlte sich taub. Er ging zu dem großen Wandgemälde hinter seinem Schreibtisch, schob es beiseite und öffnete den Safe. Nicht um Geld zu holen, sondern eine kleine, alte Holzkiste. Sie war beschriftet mit der geschwungenen Handschrift seines Vaters.
Er öffnete sie. Zwischen vergilbten Urkunden und alten Verträgen lag ein Briefumschlag, auf dem nur stand: Für Vincent. Zu öffnen, wenn du den Glauben an die Menschen verlierst.
Vincent hatte den Brief nie geöffnet. Er hatte Angst vor der Sentimentalität seines Vaters gehabt. Doch jetzt riss er ihn auf.
Er las mit zittrigen Fingern.
Mein lieber Sohn, wenn du dies liest, bin ich vielleicht nicht mehr da. Ich habe dir vieles hinterlassen – Geld, die Firma, Immobilien. Aber das Wichtigste, was ich dir geben kann, ist eine Lektion, die ich spät gelernt habe. Es gibt eine Familie, der du vielleicht eines Tages begegnen wirst. Die Familie unserer treuen Seele Therese Weber. Ich habe versucht, ihnen zu helfen, wo ich konnte. Aber Geld ist kalt. Echte Hilfe ist Wärme. Sollten ihre Kinder jemals Hilfe brauchen, oder solltest du jemals Hilfe brauchen, erinnere dich: Wir sind alle miteinander verbunden. Das Gute, das du in die Welt gibst, kommt immer zu dir zurück, oft auf Wegen, die du nicht erwartest. Sei nicht so hart zu dir selbst, Vincent. Und sei nicht so hart zur Welt. In Liebe, dein Vater.