„Mit 65 nannte sie ihre fünf Unverzeihlichen“ – Nenas späte Abrechnung zwischen Ikone, Wunde und Wahrheit
Ein Satz wie ein Donnerschlag. „Ich habe lange geschwiegen. Zu lange vielleicht, aber jetzt ist es Zeit.“ Mit dieser türöffnenden Beichte setzt Nena – die Stimme der 80er, das Gesicht der Freiheit, die ewige Rebellin mit den 99 Luftballons – den Ton für ein seltenes, schonungsloses Bekenntnis. Keine grellen Kulissen, kein Retro-Glitter, nur eine Frau im Spätsommer ihres Lebens, die Bilanz zieht: fünf Namen, fünf Geschichten, fünf Wunden. Was folgt, ist keine Klatschparade, sondern ein Seelenprotokoll über Verrat, Stolz, verlorenes Vertrauen – und die überraschendste Feindin von allen: sie selbst.
Die Ikone und der Schatten. Jahrzehntelang war Nena das Pop-Phänomen, das Grenzen sprengte: Energie, Unangepasstheit, ein Lächeln, das Bühnen flutete. Doch hinter dem Bühnenlicht, so erzählt es ihre späte Abrechnung, stand die andere Wirklichkeit: Einsamkeit, innere Kämpfe, Narben, die nicht schlossen. Was macht der Ruhm mit einem Menschen, der für Millionen stark sein musste, während die eigene Seele nach Stille schrie? Nenas Antwort ist nicht elegant, nicht poliert – sie ist roh. Und genau deshalb trifft sie ins Mark.
Name 1 – Der Verrat im Flüsterton. Die Erzählung setzt in den frühen 80ern an: Festivalplakate, TV-Shows, die neue Deutsche Welle pulsiert. Neben Nena strahlt „der Sunny Boy“ – eine perfekte Projektionsfläche der Medien, zwei Seiten ein und derselben Generation. Doch hinter den Kulissen, so heißt es in Nenas Erinnerung, beginnen die kleinen Stiche: spöttische Kommentare, Augenrollen im Backstage, das leise Gift in Produzentenohren. Aus Andeutungen werden Konsequenzen – ein lukrativer Auftrag kippt, der Rampenplatz rutscht davon. Es ist kein Schlag mit der Faust, es ist die Rasierklinge unter der Oberfläche. Und es ist der Moment, in dem Nena lernt: In der Popwelt verliert man selten fair – man verblutet langsam.
Name 2 – Die kühle Demontage. Jahre später, eine neue Generation steht auf den Charts. Eine jüngere Pop-Queen, glamourös, erfolgreich, modern. Auf die Frage nach Vorbildern: große Männernamen – und die spitze, beiläufige Bemerkung über Nena als angeblichen Glücksfall eines einen Songs. Ein Satz, der bleibt wie ein Splitter: nicht laut, nicht skandalös, aber präzise, elegant, tödlich. Nena spricht von einer „stillen Feindschaft“, die nie in Überschriften, sondern in Blicken existierte. Kein Shitstorm, keine Hashtags – nur die Erfahrung, als Pionierin plötzlich zur Fußnote erklärt zu werden. Für die eine PR-Formulierung, für die andere eine Entwertung von Jahrzehnten Arbeit.
Name 3 – Der Bruder im Geiste, der zum Fremden wurde. Dann der Bruch, der tiefer geht als Karrierefragen: ein Seelenverwandter, mit dem Nena einst über Glauben, Freiheit, Kunst sprach. Zwei Nonkonformisten, die dasselbe Feuer sahen – bis Linien überschritten wurden. Worte mit Gewicht, die aus Nenas Sicht in ideologische Extreme drifteten. Aus langen Telefonaten wird Schweigen, aus Nähe Distanz. Eine private Nachricht, die sie trifft wie ein Keulenschlag: „Du bist Teil des Problems.“ Nicht mehr nur Meinungsverschiedenheit, sondern gefühlter Verrat. Der Schmerz: Nicht die Gegner verwunden am tiefsten, sondern die, die man in die innere Festung ließ.
Name 4 – Das Idol, das vom Sockel stürzt. Manchmal zerbrechen nicht Feindschaften, sondern Verehrungen. Nena erzählt von einer ersehnten Zusammenarbeit mit einer lebenden Legende, die zum Trauma wird: zu spät, zu cool, zu spöttisch – „Lass das mal die Männer machen.“ Offiziell „kreative Differenzen“, inoffiziell der Moment, in dem ein Vorbild zur Mauer wird. Für Nena bricht etwas Größeres: Nicht nur ein Projekt scheitert, sondern die Idee von Solidarität unter Rebellen. Der Satz, den Idol-Hände leichtfertig hinwerfen, kann ein ganzes Selbstbild zertrümmern.
Name 5 – Die härteste Anklage: Gabriele Susanne Kerner. Am Ende der Liste steht niemand Geringeres als die Frau hinter der Figur. Hier ist kein Platz für Eitelkeit. Nena richtet den Spiegel auf sich: falsche Entscheidungen, weggestoßene Menschen, vernachlässigte Freundschaften, ein Lächeln, das oft ein Nein versteckte. Sie spricht das aus, was sie am schwersten tragen konnte: den Verlust, der 1989 ein Loch in ihr Leben riss, das nie ganz vernarbte. „Ich war Nena für alle – Gabriele war allein.“ Dieses Eingeständnis ist keine Pose. Es ist das Kippen des Scheinwerfers ins Herz.
Der Preis des Rampenlichts. Zwischen Archivfotos und ausverkauften Hallen zieht Nena eine Linie: Ruhm schenkt Flügel – und bindet die Atmung ab. Hotelzimmerstille nach dem Applaus, der Spiegelblick um drei Uhr nachts: Wer bin ich, wenn niemand klatscht? In dieser Welt wird Loyalität zur Währung, Komplimente zu Münzen, die man im richtigen Moment einlöst, und Freundschaft zum Risiko. Viele gehen daran zugrunde, manche lösen sich auf – Nena blieb. Nicht als unverwundbare Amazone, sondern als Kämpferin mit Rissen, die sie jetzt endlich zeigt.
Warum gerade jetzt? „Ich will nicht, dass mein letzter Song eine Lüge ist.“ Der Satz, der hängen bleibt wie ein letztes Akkord-Sustain. Keine Marketingstrategie, kein Teaser fürs nächste Comeback – ein Vermächtnis. Es ist die Einladung, die Mythen mit der Frau dahinter zu versöhnen: die Rebellin, ja – aber auch die Mutter, die Trauernde, die Schuldnerin vor sich selbst. Das ist größer als jede Chartplatzierung, weil es das Einzige ist, was bleibt, wenn die Scheinwerfer erlöschen: Wahrheit.
Zwischen Empathie und Sensation. Wer diese Abrechnung hört, fühlt die Versuchung der großen Headline. Fünf Namen, fünf Täter – so einfach wäre das. Doch Nenas Erzählung macht einen Unterschied: Sie liefert keine juristischen Protokolle, sie liefert Seelenwetterberichte. Es sind Erinnerungen, Empfindungen, Verletzungen. Nicht alle Sätze lassen sich belegen, nicht jede Szene ist justiziabel – aber jede ist emotional plausibel. Wer urteilt, greift schnell daneben. Wer zuhört, versteht: Hier rechnet niemand mit der Welt ab. Hier macht eine Frau Frieden mit ihrer Geschichte.
Die Frage an uns. Nenas späte Offenheit ist mehr als Popgeschichte. Sie ist ein Spiegeltest. Wer steht auf unserer eigenen Liste? Welche Sätze haben uns klein gemacht? Wem tragen wir das Ungesagte nach – und wie oft sind wir unser härtester Richter? Die Pointe, die Nena hinterlässt, ist unbequem: Mut ist nicht der größte Ton auf der Bühne, sondern die leiseste Wahrheit im Zimmer, wenn keiner mehr zuhört.
Fazit – Die Größe der Verletzlichkeit. Nena bleibt die Frau, die aus einem Antikriegslied eine Generationserzählung formte. Aber ihre späte Abrechnung zeigt eine zweite, tiefere Größe: die Fähigkeit, Masken abzunehmen, ohne eine neue anzulegen. Ausgerechnet die Pop-Ikone, die zur Chiffre des ewig Jungen wurde, beweist, dass Reife nichts mit Jahren, sondern mit Wahrhaftigkeit zu tun hat. Es ist die dramatischste aller Enthüllungen – und die menschlichste: Die fünf Unverzeihlichen sind Stationen einer Reise, die am Ende zu sich selbst führt.
Und vielleicht liegt genau darin die Sprengkraft dieses Geständnisses: Es macht aus der Legende eine Frau – und aus der Frau eine Legende, die wir neu lesen müssen. Nicht als Poster im Jugendzimmer, sondern als Gegenüber auf Augenhöhe. Nicht als makellose Heldin, sondern als Mensch, der gelernt hat, die schlimmste Feindin zu umarmen: die eigene Stimme. Wenn der letzte Song keine Lüge sein soll, dann braucht er keinen Refrain. Er braucht nur Wahrheit.