Kapitel 1: Die geflüsterte Warnung
Der Konferenzsaal im obersten Stockwerk von Morales Tech war ein Spiegelbild von Sebastian Morales’ Erfolg: dunkles Kirschholz, ein makelloser Marmortisch und eine Glasfront, die das nächtliche Funkeln von Bogotá einfing. Doch an diesem Abend war die polierte Oberfläche trügerisch. Die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können, erfüllt von der Spannung sechsmonatiger Verhandlungen.
Sebastian, vierzig Jahre alt, ein Selfmade-Millionär mit der rastlosen Energie eines Programmierers, stand kurz davor, den wichtigsten Vertrag seines Lebens zu unterzeichnen. Vor ihm lag der Fusionsvertrag, der seine Firma mit dem Konzern von Ricardo Castellanos vereinen sollte – eine Unterschrift, die sein Vermögen mutmaßlich verfünffachen würde.
Ricardo Castellanos, ein Mann von fünfzig Jahren in einem tadellosen, silbergrauen Anzug, lehnte sich zurück, die Lippen zu einem Anflug von Überlegenheit verzogen. Seine Ungeduld manifestierte sich in dem nervösen Trommeln seines Mittelfingers auf dem Holz. Neben Sebastian saß Miguel Torres, sein Partner, seit zwei Jahrzehnten sein Anker und sein engster Vertrauter. Miguel strahlte eine Mischung aus väterlicher Fürsorge und geschäftlicher Aufregung aus.
Sebastian hob den Stift, seine Hand zögerte. Es war nicht die Komplexität des Deals; es war ein kaltes, leises Unbehagen, das er beiseitegeschoben hatte – bis zu diesem Moment.
Die Tür öffnete sich leise und Camilla trat ein. Ihr schlichter, hellblauer Reinigungskittel war ein Kontrast zur luxuriösen Umgebung. Monatelang hatte sie unbemerkt in diesem Gebäude gearbeitet, ein Geist, der nach Mitternacht wischt und poliert. Für Castellanos und Miguel war sie unsichtbar.
Sie näherte sich dem Tisch, das feuchte Tuch auf ihrem Wagen. Als sie sich über den Tisch beugte, um mit einer vorgetäuschten Gründlichkeit einen nicht existierenden Fleck vor Sebastian zu wischen, senkte sie ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Hauchen.
„Unterschreiben Sie nicht, es ist eine Falle.“
Sebastian erstarrte. Sein Stift, der nur Millimeter über dem gedruckten Papier schwebte, gehorchte ihm nicht mehr. Er sah nicht auf das Tuch, das den Tisch wischte, sondern auf die Bewegung ihrer Lippen, auf die Dringlichkeit in ihren Augen, die in diesem Moment seine eisblauen Augen trafen. Es waren ehrliche, angsterfüllte Augen, verpackt im Gesicht einer jungen Frau, die er nie wirklich beachtet hatte.
„Sie wollen Ihnen alles wegnehmen und die Schulden auf Sie übertragen“, fügte Camilla hinzu, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. Die kühle Härte des Marmortisches unter ihrer Hand fühlte sich wie ein rettender Anker an.
Sebastian spürte, wie sein Herz nicht mehr schlug, sondern wie eine Kriegstrommel gegen seine Rippen hämmerte. Die Dringlichkeit ihrer Warnung traf ihn tiefer als jede Due-Diligence-Prüfung.
„Nur einen Moment“, sagte Sebastian, deutete auf einen zufällig gewählten Paragraphen, um Zeit zu gewinnen.
Ricardo Castellanos’ Schärfe durchbrach die Stille. „Morales, wir verhandeln seit sechs Monaten. Sie haben zwei Möglichkeiten. Jetzt unterschreiben oder der Deal ist weg.“
Miguel, sein Partner, beugte sich vor, seine Stimme geölt mit Besorgnis. „Bruder, das ist unser Traum. Deine Techfirma fusioniert mit Castellanos. Du wirst der reichste Mann Kolumbiens. Was brauchst du noch?“
Zehn Jahre Arbeit. Sebastian sah das Kleingedruckte: Aktienübertragung, neue Positionen, Finanzprognosen, die sein Vermögen verfünffachen würden. Alles stand auf dem Spiel. Aber Camillas geflüsterte Worte klangen in seinem Kopf: „Es ist eine Falle.“
Er stand abrupt auf, seine Bewegung so unerwartet, dass beide Männer zurückzuckten. „Geben Sie mir fünf Minuten, Miguel. Ich muss ein paar Zahlen überprüfen.“ Er fixierte Miguel, der eine winzige Sekunde zu lange brauchte, um sein Lächeln wieder aufzusetzen.
Sebastian verließ den Raum. Er spürte sie hinter sich. Es war Camilla, die Reinigungskraft, die den Ausgang dieser Nacht verändern wollte.
Kapitel 2: Beweise im Dunkeln
„Herr Morales“, flüsterte Camilla, als sie ihm im leeren Flur folgte. Ihr Blick huschte nervös nach links und rechts. „Ich weiß, Sie kennen mich nicht. Ich arbeite seit Monaten nachts hier. Ich habe Dinge gesehen, Gespräche gehört.“