Sebastian musterte sie jetzt richtig. Sie war vielleicht 28, ihr einfacher Pferdeschwanz war praktisch, nicht modisch, und ihre Augen waren die ehrlichsten, die er je gesehen hat. Sie wirkte zerbrechlich, aber in ihren Augen loderte ein unerschütterlicher Mut.
„Wer sind Sie?“, fragte er, die Stirn gerunzelt.
„Camilla Santos. Ich reinige die Büros nachts. Ich weiß, es klingt verrückt, aber diese Fusion, sie ist nicht, was sie scheint. Sie werden alles verlieren.“
Ein Schock durchfuhr Sebastian. Sein Geschäftssinn, sein Lebenskompass, sagte ihm, dass dies Wahnsinn war. Und doch sagte ihm etwas in Camilas Stimme, dass sie die Wahrheit sprach.
„Was genau wissen Sie?“, fragte er leise.
Camila sah zur Tür des Konferenzraums, bevor sie antwortete. „Ihr Partner, Herr Torres. Ich habe ihn nachts telefonieren hören. Er und Castellanos planen das seit Jahren. Castellanos’ Firma ist pleite, Herr Morales. Sie wollen ihre Schulden auf Sie übertragen. Sobald Sie unterschreiben, gehört Ihnen alles – auch die Schulden. Sie sind ruiniert.“
Sebastian spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Miguel. Sein Bruder im Herzen. Der Mann, der bei der Beerdigung seiner Mutter an seiner Seite war. Der mit ihm in einer 20-Quadratmeter-Wohnung die erste Firma gegründet hatte. „Unmöglich“, murmelte er, doch seine eigene Stimme klang ihm fremd und hohl.
„Ich habe Beweise“, sagte Camilla und zog ihr altes Handy hervor. „Fotos, Aufnahmen. Alles ist hier.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Konferenzraums. Miguel steckte den Kopf hinaus. „Sebastian, alles okay? Man wartet auf dich, Bruder.“
Sebastian schaute zwischen Camilla und Miguel hin und her. Sein ganzes Weltbild wankte. „Ich komme gleich“, antwortete er und wandte sich wieder Camilla zu.
„Wenn Sie lügen…“
„Ich lüge nicht“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß, Sie haben keinen Grund, mir zu glauben, aber ich konnte nicht schweigen, wenn Sie sich selbst zerstören.“ Die Angst in ihren Augen, gepaart mit dem Mut, den sie aufbrachte, ließ Sebastian verstummen. Sie riskierte ihren Job, ihre Zukunft, um ihn zu warnen. Und in seinem Innersten, wo all seine verdrängten Zweifel wohnten, wusste er: Sie sagt die Wahrheit.
„Zeigen Sie mir die Beweise“, flüsterte er.
Camilla führte ihn in sein privates Büro. Ihre Hände zitterten, während sie die Tür schloss und das Schloss betätigte. „Ich sollte das nicht tun“, murmelte sie, als sie ihr Handy entsperrte. „Wenn sie mich erwischen, verliere ich meinen Job. Und Menschen wie Herr Castellanos können dafür sorgen, dass ich nie wieder irgendwo Arbeit finde.“
„Warum tun Sie es dann?“ Sebastian beobachtete sie, während sie in ihrer Galerie dutzende Fotos durchsuchte.
Camila sah ihn direkt in die Augen. „Weil ich gesehen habe, was mit Menschen passiert, wenn die Mächtigen sie ausnutzen. Mein Vater hat alles verloren, weil er dem Falschen vertraut hat. Ich kann nicht zulassen, dass Ihnen dasselbe passiert.“
Sie zeigte ihm das erste Foto: ein Finanzdokument der Firma Castellanos. Tiefrote Zahlen überall. „Das habe ich vor drei Wochen aufgenommen. Ich war gerade am Putzen, als er diese Unterlagen offen auf seinem Schreibtisch liegen ließ. Castellanos ist pleite, Herr Morales. Sie schulden über 200 Millionen Pesos.“
Sebastian wurde übel. Die Zahlen logen nicht. Camilla zeigte das nächste Foto: ein geöffneter E-Mail-Thread.
Torres: L Miguel, alles bereit für die letzte Phase. Sobald Morales unterschreibt, übertragen wir alle Hauptschulden auf seinen Namen. Der Idiot ahnt nichts. In sechs Monaten sind wir frei und er ruiniert.
RC: Perfekt. Sebastian war immer zu vertrauensselig. Nach all den Jahren in seinem Schatten bekomme ich endlich, was ich verdiene.
Sebastian sank auf seinen Stuhl. Miguel, sein Bruder. Sein engster Vertrauter. Es gab keine Zweifel mehr.
Kapitel 3: Die Nachtschicht der Ermittler
Die nächste Stunde zeigte Camilla ihm Foto um Foto, Aufnahme um Aufnahme. Miguel hatte Deals sabotiert, Informationen verkauft und – was Sebastian am tiefsten traf – seine Beziehung zu Elena Jimenez, der Frau, die er vor drei Jahren geliebt hatte, manipuliert. Manipulierte Nachrichten und gefälschte Fotos, die Elena glauben ließen, Sebastian hätte sie betrogen. Damals war Elena über Nacht verschwunden. Jetzt verstand er, warum.