Der Satz halte den ganzen Tag in Anjas Kopf wieder und verhinderte ihre Konzentration. Welches Interesse sollte ein erwachsener Mann an einem fremden Kind haben? Lena sprach kaum mit ihren Cousins bei Familienreffen. Wie konnte sie mit einem Reinigungsmitarbeiter reden? Am dritten Mittwoch wuchs Anjas Unruhe bis zur Unerträglichkeit.
Um 15:47 Uhr in ihrem Panoramabüro sitzend tat sie etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte. Sie öffnete das Sicherheitsüberwachungsüystem des Gebäudes auf ihrem Computer. Kamera für Kamera suchte sie nach ihrer Tochter, bis sie sie in einem Winkel des Servicekorridors im 32. Stock fand, einem Ort, wo Lena niemals hätte sein dürfen. Was sie sah, raubte ihr den Atem.
Ihre Tochter, normalerweise so zurückhaltend, lachte ausgelassen, während der Hausmeister neben ihr auf dem Boden sitzend etwas in einem abgenutzten Buch zeigte. Lena gestikulierte mit ungewöhnlicher Begeisterung, zeigte auf die Seiten. Ihre Augen strahlten vor Leben, das Anja selten erlebte. Mit zitternden Händen nahm Anja das interne Telefon. Sicherheit. Jürgen ans Telefon.
Jürgen, ich brauche Sie in meinem Büro. Jetzt wenige Minuten später stand der Sicherheitschef, ein Ex-Polizist mittleren Alters, vor ihr. Zeigen Sie mir die Aufzeichnungen der letzten Mittwoche. Befahl sie. Ihre Stimme trotz des inneren Aufruhs kontrolliert neutral. Fokus auf den Hausmeister, der in der Nachmittagsschicht arbeitet und meine Tochter.
Eines nach dem anderen enthüllten die Aufzeichnungen ein Muster, das etwas in Anja zerschlug. An fast jedem Mittwoch der letzten fünf Monate unterbrach der Hausmeister seine Arbeit, wenn Lena auftauchte. Sie saßen auf dem Boden des Servicekorridors, fernab der wachsamen Augen des Kindermädchens und teilten Momente, die für beide kostbar schienen. Sie lasen zusammen.
Er hörte ihren Geschichten mit echter Aufmerksamkeit zu, lehrte neue Wörter, machte lustige Stimmen für Charaktere. In einer Aufnahme zeigte er dem Mädchen, wie man einfaches Origami aus Recycling Papier faltet. In einer anderen zeichnete er, während sie eine anscheinend erfundene Geschichte erzählte. Aber was Anja wirklich zerstörte, war eine spezifische Szene von vor drei Wochen.
Lena weinte leise in einer Ecke des Korridors, versteckt hinter einem Zirgefäß und der Hausmeister kniete neben ihr, bot diskret ein sauberes Taschentuch an und schlug das Buch auf einer markierten Seite auf. Mit hochgedrehter Audioaufnahme der Kamera drangen seine Worte klar durch. Erinnerst du dich an diese Geschichte? Über die mutige Prinzessin, die das Königreich rettete, auch als alle an ihr zweifelten, das Mädchen nickte und wischte sich Tränen ab. “Du bist auch mutig, Lena.
Traurig zu sein ändert das nicht. Mama wird aber nie traurig”, antwortete Lenas Stimmchen. Sie sagt: “Gfühle stören nur.” Der Hausmeister schwieg einen Moment, als würde er seine Worte sorgfältig abwägen. “Weißt du”, sagte er schließlich, “manchmal sind die stärksten Menschen diejenigen, die am meisten verbergen, was sie fühlen.
Vielleicht muss deine Mutter ihr Herz schützen, so wie die Prinzessin in der Geschichte ihr magisches Amulett beschützte. In diesem Moment in ihrem luxuriösen Büro sitzend, spürte Anja, wie etwas in ihrer Brust zusammenbrach. Sie wusste nicht, ob es die Mauer war, die sie um ihr Herz gebaut hatte oder das Bild, das sie von sich selbst als Mutter hatte. Jürgen, ihre Stimme zitterte leicht.
Ich will einen vollständigen Bericht über diesen Mitarbeiter. Name, Hintergrund, wie lange er hier arbeitet, alles. Bis morgen früh, als der Sicherheitschef gegangen war, blieb Anja regungslos sitzen und starrte auf den eingefrorenen Bildschirm, wo ein einfacher Hausmeister in 5 Monaten mehr Verständnis für ihre Tochter gezeigt hatte, als sie in 7 Jahren zustande gebracht hatte.
Was verpasste sie noch, während sie Imperien baute? Was würden Sie tun, wenn Sie entdecken würden, dass ein völlig Fremder Ihr Kind besser versteht als Sie selbst? Kommentieren Sie nur das Wort Enthüllung, wenn Sie schon einmal einen Moment erlebt haben, in dem ihnen klar wurde, dass Sie kostbare Momente mit geliebten Menschen verpassen.