II. Die Bestandsaufnahme und die Crew
Raum 204 war eine trostlose Zelle des Lernens: Die Klassenzimmermöbel waren angeschrammt und mit unzähligen Initialen und Botschaften übersät, die Neonlichter flackerten in einem ungesunden, gelblichen Ton, und die Wände schienen die Müdigkeit von Generationen von Schülern aufgesogen zu haben. Die 31 Jugendlichen musterten Mia wie Wölfe, die eine neue, unerwartet ruhige Beute umrunden.
Mia stellte ihre Ledertasche auf den Pult, dessen Oberfläche schon seit Jahren kein Holzmuster mehr gesehen hatte, lächelte unbeirrt und schrieb mit fester, runder Hand ihren Namen an die Tafel: Fräulein Krüger.
Das Tuscheln begann sofort, eine Welle der Spekulation, die sofort durch die Reihen lief. „Die sieht aus, als wäre sie selbst gerade noch Schülerin gewesen“, murmelte Pascal, ein Junge mit einer Nickelbrille, der immer lachte, wenn er nervös war. Ein anderer kicherte: „Wetten, die heult bis zur Mittagspause.“ Die Wetten waren längst platziert; die Quoten standen 1:3 für Tränen vor der ersten großen Pause.
Ganz hinten saß die unangefochtene Autorität des Raumes: Timo Berger, der Anführer der 10. Klasse. Er war breitschultrig, mit kurz geschorenen Haaren und einem harten, dauerhaften Grinsen, das selten etwas Gutes bedeutete. Seine Lederjacke, die er selbst in der überheizten Klasse nicht auszog, trug er wie eine Plakette seiner Unabhängigkeit. Seine Disziplinarkte hatte mehr Einträge als manche Schülernoten, und jeder dieser Einträge war ein stummer Beweis seiner Verachtung für das System. Mit verschränkten Armen lehnte er sich zurück. In seinem Kopf begann bereits der Plan zu reifen, wie man der Neuen den Tag zur Hölle machen konnte. Timo war nicht wütend auf Mia, er war gelangweilt von der Schule und von der vorhersehbaren Reaktion der Erwachsenen. Und gelangweilte Autorität war gefährlich.
II.5 Die inneren Welten der Crew
Mia jedoch ließ sich nichts anmerken. Sie begann ihren Unterricht über Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört mit einer klaren, einnehmenden Stimme, als ob sie wirklich glaubte, jeder einzelne im Raum würde an ihren Lippen hängen. Ihre Begeisterung für Atikus Finch und sein moralisches Rückgrat schien eine Provokation für die gesamte Klasse zu sein.
Timos engste Crew bestand aus drei ebenso komplexen Persönlichkeiten, die er mit seinem lauten Auftreten band:
- Jan (Der Künstler): Sein drahtiger Körper war ständig in Bewegung. Er war Timos nervöser Vize, der ständig am Kritzeln war und eine erschreckende Begabung für präzise, aber obszöne Karikaturen besaß. Jan lebte in einer lauten Wohnung in Wedding, sein Fluchtweg war das Papier. Er benutzte Humor und Ablenkung, um seine eigene Angst vor Fehlern und Konfrontationen zu verbergen. Er bewunderte Timo, weil dieser keine Angst zu haben schien. Er war derjenige, der den Stuhl mit Sekundenkleber präpariert hatte, aber er hatte danach tagelang kaum geschlafen.
- Leila (Die Zunge): Sie war mit scharfem Verstand und einer noch schärferen Zunge ausgestattet, die selbst Stahl hätte schneiden können. Leila hasste es, dass die Schule ihre Intelligenz ignorierte, weil sie aus einer Großfamilie stammte und keinen bürgerlichen Hintergrund hatte. Ihr einziges Ventil war Sarkasmus; sie glaubte, dass es besser sei, zuerst zu beißen, als gebissen zu werden. Sie war die strategische Denkerin der Crew. Ihr lila Strähne, die sie demonstrativ über ihre Schulter warf, war ein Protest gegen die unsichtbaren Regeln der Anpassung.
- Malik (Der Riese): Ein stiller Hüne, der Timo in der neunten Klasse vor einer brutalen Schlägerei beschützt hatte und ihm seitdem eine unerschütterliche Loyalität schuldete. Malik kämpfte mit massiven Sprachschwierigkeiten und Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), die in der Akte ignoriert wurden. Er fühlte sich intellektuell minderwertig und fand Trost in der klaren, körperlichen Ordnung, die Timo ihm bot. Seine Stille war eine Mauer, um seine Scham zu verbergen. Seine Augen klebten an Mia, als sie über Scouts Mut sprach, nicht aus Bewunderung für Timo, sondern weil Mia das erste Mal laut und klar gesprochen hatte, so dass Malik fast alles verstand.
Mia bemerkte weder das gefaltete Papierflugzeug, das knapp an ihrem Kopf vorbeizischte, noch das unterdrückte Lachen, als es mitten in ihren sorgfältig sortierten Kopien landete. Für Timo war Mia nur ein weiteres, junges, viel zu naives Opfer. „Die klappt zusammen wie ein Klappstuhl“, flüsterte er Jan zu. Jan, der schon begann, eine Karikatur von Mia zu zeichnen, kicherte. Leila grinste: „Mal sehen, wie lange sie durchhält, bevor sie zum Direktor rennt. Ich gebe ihr zwei Tage.“