Wieder Stille, schwer, dicht, unausweichlich. Timo blickte zu seiner Crew, aber niemand sah ihn an. Seine Schultern sackten zusammen.
„Es tut mir leid“, murmelte er.
Mia hob eine Augenbraue. „Lauter, bitte.“
Er schluckte. „Es tut mir leid, Frau Krüger.“
Und dann folgte die Crew mit leisen Entschuldigungen. Kein Trotz, kein Gelächter, nur die plötzliche Erkenntnis: Sie hatten verloren.
Mia nickte. Nicht gönnerhaft, nicht triumphierend, einfach sachlich. Dann drehte sie sich wieder zur Tafel, als wäre das alles nichts weiter als eine harmlose Zwischenfrage gewesen. Der Unterricht ging weiter, sachlich, klar, ruhig. Und doch keiner in Raum 204 war derselbe wie noch eine halbe Stunde zuvor.
VI. Die Wandlung des Raumes und der Dritte Test
Was eben geschehen war, sprach sich schnell herum. Noch vor der großen Pause summte das ganze Goethegymnasium. Die Lehrerin, die Timo Berger bloßgestellt hatte, ohne zu schreien, ohne Drohungen, ohne einen Schüler zum Direktor zu schicken, war plötzlich Gesprächsthema Nummer 1.
Mia selbst saß in der Ecke des Lehrerzimmers. Ihre Bluse war immer noch leicht feucht, ein Sandwich in der Hand, ein Stapel Aufsätze auf dem Schoß. Sie korrigierte still und lächelte. Sie wusste, dass Respekt an dieser Schule nicht einfach so kam, dass Timo und seine Crew es vielleicht noch einmal versuchen würden. Aber sie hatte gezeigt: Sie würde nicht weichen.
Die folgenden Wochen veränderten Raum 204. Timo wurde nie warm mit Mia, doch er hörte auf, sie zu provozieren. Sein Trotz wurde ersetzt durch zähneknirschenden Respekt.
Der Dritte Test: Die Massenverweigerung (Woche 3)
Drei Wochen nach dem Flaschenvorfall kam der dritte Test, diesmal nicht von Timo direkt, sondern von der Masse. Mia hatte einen anspruchsvollen, aber hochaktuellen Essay des Autors Saša Stanišić zur Lektüre aufgegeben, der sich mit den Herausforderungen der Integration und Identität in Deutschland befasste.
Am Tag der Diskussion herrschte eine lähmende, bewusste Stille im Raum.
Mia begann: „Wer kann die zentrale These des Essays zusammenfassen?“
Stille. Keiner hob die Hand. Nicht einmal die normalerweise fleißigen Schüler in der ersten Reihe. Es war ein stiller, passiver Streik. Die Augen der Schüler lagen starr auf ihren Heften oder dem Fenster. Timo grinste kaum sichtbar; dies war die beste Taktik: Man kann niemanden bestrafen, der nichts tut.
Mia wartete, zählte innerlich bis zwanzig. Die Stille dehnte sich, wurde schwer.
„Ich verstehe“, sagte Mia ruhig. „Ihr wollt mir damit sagen, dass ihr diesen Text nicht relevant findet. Oder zu schwer. Oder dass ihr schlichtweg keine Lust habt.“
Sie ging zur Tafel, nahm die Kreide und schrieb das Wort Passivität auf.
„Das ist ein mächtiges Werkzeug“, fuhr sie fort. „In einer Demokratie kann Passivität ein Protest sein. In diesem Raum ist sie aber nur Zeitverschwendung. Wir können den Essay heute nicht besprechen, weil ihr euch entschieden habt, nicht zu antworten. Fein.“
Sie ließ die Kreide fallen. „Wir werden uns stattdessen mit einem anderen Thema beschäftigen, das ihr anscheinend sehr gut beherrscht. Und zwar mit Angst.“
Die Klasse zuckte. Angst?
Mia Krüger setzte sich auf die Tischkante, ihre Beine lässig gekreuzt, ihr Ton wurde leiser, intimer. „Warum habt ihr Angst, das Falsche zu sagen? Warum habt ihr Angst, dass eure Meinung nicht relevant ist? Das ist die wahre Frage. Wer in diesem Raum hält sich für so unbedeutend, dass er lieber gar nichts sagt, als möglicherweise einen Fehler zu machen?“
Leila rollte mit den Augen. „Das hat nichts mit Angst zu tun, Frau Krüger. Wir sind einfach nur gelangweilt.“
„Gelangweilt ist nur das, was wir nicht verstehen, Leila“, konterte Mia, ohne ihre Stimme zu heben. „Wenn ich dich frage, warum die Miete in Neukölln steigt, weißt du die Antwort. Wenn ich dich frage, warum ein Autor über seine Herkunft schreibt, weißt du die Antwort. Aber ihr entscheidet euch für die Mauer der Langeweile. Das ist eine Entscheidung, die aus der Angst vor dem Urteil kommt. Und Angst“, Mia sah direkt Timo an, der plötzlich seine verschränkten Arme löste, „ist das genaue Gegenteil von dem, worüber wir mit Atticus Finch sprechen.“