Der stille Feldweg von Güstrow – und das unbegreifliche Schicksal des kleinen Fabian
Es war ein gewöhnlicher Sonntagnachmittag im September, als Anneliese Krüger, 62, ihren gewohnten Spaziergang entlang eines abgelegenen Feldwegs am Rande von Güstrow machte. Die Sonne stand tief, ein goldener Schimmer lag über den Feldern. Nichts deutete auf das Unheil hin, das nur wenige Meter entfernt lauerte.
„Ich sah zuerst etwas Buntes, dachte an ein weggeworfenes Spielzeug“, erinnert sich Krüger später mit zitternder Stimme. „Aber als ich näherkam, erkannte ich kleine Schuhe… und dann das Gesicht.“
Das Gesicht des achtjährigen Fabian S., der seit zwei Tagen vermisst wurde.
Die Polizei hatte zuvor eine groß angelegte Suchaktion gestartet. Drohnen, Spürhunde, Freiwillige – das ganze Dorf hatte nach ihm gesucht. Niemand wollte glauben, dass das fröhliche Kind, das man oft lachend mit seinem Fahrrad durchs Viertel flitzen sah, nicht mehr nach Hause kommen würde.

Der Albtraum beginnt
Als die ersten Streifenwagen den Ort erreichten, war schnell klar: Das war kein Unfall. Der Körper des Jungen wies Spuren von Gewalt auf – Würgemale, Kratzer und eine unnatürliche Haltung. Der Fundort selbst wirkte arrangiert, fast symbolisch: mitten auf einem schmalen Weg zwischen Maisfeldern, weit genug vom Dorf entfernt, um unbemerkt zu bleiben, aber nah genug, um gefunden zu werden.
„Der Täter wollte, dass wir ihn finden“, sagte Hauptkommissar Dieter Lenz auf der ersten Pressekonferenz. „Und vielleicht wollte er, dass wir seine Botschaft verstehen.“
Doch welche Botschaft?
Das Leben eines unschuldigen Kindes
Fabian war das einzige Kind von Nadine und Torsten S. – beide Mitte 30, unauffällig, freundlich, beliebt in der Nachbarschaft. Die Mutter arbeitete halbtags in einer Bäckerei, der Vater war Elektriker. „Fabian war unser Sonnenschein“, sagte die Mutter später unter Tränen. „Er hat alle zum Lachen gebracht. Er hatte keine Feinde. Wer würde so etwas einem Kind antun?“
Doch die Ermittler fanden schnell Hinweise darauf, dass Fabians Verschwinden kein Zufall war. Am Tag seines Verschwindens – einem Freitag – war er zuletzt auf dem Schulweg gesehen worden. Eine Klassenkameradin erinnerte sich, dass ein dunkler Kombi in der Nähe des Schulhofs langsam gefahren sei. Niemand achtete damals darauf.
Ein Dorf unter Schock
In Güstrow, einer kleinen mecklenburgischen Stadt, wo jeder jeden kennt, breitete sich eine Mischung aus Angst und Misstrauen aus. Eltern begleiteten ihre Kinder zur Schule, Nachbarn schauten sich mit misstrauischen Blicken an. Gerüchte machten die Runde – über einen Fremden, der in den letzten Wochen in der Gegend gesehen worden sei, über einen ehemaligen Lehrer, der „zu nett zu Kindern“ war, über einen arbeitslosen Nachbarn, der nachts oft durch die Straßen lief.
„Plötzlich war jeder verdächtig“, sagte eine Bewohnerin. „Und das Schlimmste war, dass man nicht wusste, wem man trauen konnte.“
Die Spur im Regenmantel
Drei Tage nach dem Fund machte die Kriminaltechnik eine überraschende Entdeckung: An Fabians Kleidung hafteten winzige Fasern – blaue Kunstfäden, wie sie von einem speziellen Regenmantel stammen könnten, der nicht mehr im Handel war.
Eine Faseranalyse führte schließlich zu einem alten Modell aus den 90er Jahren, hergestellt von einer kleinen Firma in Rostock. Nur wenige solcher Mäntel existierten noch. Ein Durchbruch – oder so schien es.
Denn ein solcher Mantel hing tatsächlich im Schuppen von Uwe M., einem 48-jährigen Mechaniker aus der Nachbarschaft. Ein Mann mit einer schwierigen Vergangenheit – zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung, Alkoholprobleme, sozial isoliert.
Der Verdächtige
Uwe M. wurde verhaftet, nachdem man in seinem Haus nicht nur den Mantel fand, sondern auch ein altes Notizbuch mit beunruhigenden Einträgen: Zeichnungen von Kindern, Sätze wie „Sie sind so rein“ und „Ich muss sie bewahren“.
Doch M. schwieg. Tagelang. Kein Geständnis, keine Reaktion. Nur ein leerer Blick, wenn man ihn auf Fabian ansprach.
„Ich habe nichts getan“, sagte er schließlich in einer kurzen Befragung. „Ihr sucht am falschen Ort.“
Doch DNA-Spuren – an Fabians Jacke und an einer leeren Limonadenflasche in M.s Werkstatt – sprachen eine andere Sprache.
Das Dorf atmet auf – doch zu früh
Als die Polizei verkündete, sie habe den mutmaßlichen Täter gefasst, feierte Güstrow einen Moment der Erleichterung. Doch der Frieden hielt nicht lange. Nur eine Woche später veröffentlichte die Staatsanwaltschaft neue Informationen: Eine zweite DNA-Spur war gefunden worden – sie gehörte nicht zu Uwe M.
Und dann, kurz darauf, verschwand ein weiteres Kind.
Die siebenjährige Emma, die nur zwei Straßen von Fabians Familie entfernt wohnte, wurde an einem Montagmorgen als vermisst gemeldet.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Dieses Mal reagierte die Polizei schneller. Straßensperren, Hubschrauber, Warnmeldungen auf Handys – das ganze Land verfolgte die Suche. Und tatsächlich, zwei Tage später fand man Emma – lebend, aber verstört – in einem verlassenen Ferienhaus am Rande eines Waldes.
„Er war groß, trug eine Kapuze, roch nach Benzin“, sagte sie den Ermittlern. Sie konnte keine Details nennen, aber sie erwähnte etwas, das alle schockierte: „Er hat gesagt, Fabian war sein Freund.“
Die Wahrheit, die niemand erwartete
Eine Woche später gelang der Durchbruch. Eine Überwachungskamera auf einem Parkplatz zeigte einen Lieferwagen, der an Fabians Verschwindenstag in der Nähe des Schulwegs geparkt war. Das Nummernschild führte zu einem Mann, der zunächst nie im Verdacht stand: Torsten S., Fabians eigener Vater.
Was zunächst wie ein schrecklicher Irrtum wirkte, wurde bald zu einer unfassbaren Enthüllung. Torsten hatte sich in den letzten Monaten stark verändert – verschlossen, unruhig, verschuldet. Ermittler fanden auf seinem Laptop Suchanfragen über „verschwundene Kinder“ und „Polizeiermittlungen in Mecklenburg“.
Unter Druck gestand er schließlich: Er hatte Fabian versehentlich im Streit getötet.
Das unbegreifliche Geständnis
Laut seinem Geständnis war es an jenem Freitag zu einem heftigen Streit gekommen. Fabian habe geweint, weil der Vater laut geworden sei – „wegen einer dummen Kleinigkeit“. Torsten habe ihn festgehalten, angeschrien – und dann sei „alles schwarz“ geworden.
Als er bemerkte, was geschehen war, sei Panik ausgebrochen. Er habe den Körper in sein Auto gelegt und später am Feldweg abgelegt, um es wie ein Verbrechen durch Fremde aussehen zu lassen.
Die angebliche „zweite DNA-Spur“ stellte sich später als die von einem Polizisten heraus – ein Ermittlungsfehler.
Ein Dorf in Trümmern
Als die Wahrheit ans Licht kam, herrschte in Güstrow Fassungslosigkeit. Nadine, Fabians Mutter, brach zusammen, als sie erfuhr, dass ihr Mann der Täter war. „Er war nicht mehr derselbe in den letzten Monaten“, sagte sie leise. „Aber ich hätte niemals gedacht…“
Torsten S. wurde wegen Totschlags und Störung der Totenruhe verurteilt. Das Urteil: 12 Jahre Haft.
Nachklang
Heute, Monate nach der Tat, ist der Feldweg bei Güstrow ein Ort der Stille. Blumen, Stofftiere, kleine Kerzen – eine ganze Gemeinde trauert um einen Jungen, der nie hätte sterben dürfen.
Anneliese Krüger, die Spaziergängerin, geht dort immer noch entlang, aber sie bleibt nie lange stehen. „Ich rede leise mit ihm, wenn ich vorbeikomme“, sagt sie. „Ich hoffe, er hat jetzt Frieden.“
Doch in Güstrow wird nichts mehr so sein wie vorher.