Mir blieb der Atem stehen.
„Ich… ich sehe ihm ähnlich“, murmelte ich.
„Nicht ähnlich.“
Ihre Stimme brach.
„Es bist du.“
Leo setzte sich auf das Sofa, sah uns verwirrt an.
„Mama… was meinst du?“
Sie atmete tief ein, als würde sie all ihren Mut zusammensammeln.
„Leo“, sagte sie, „du hattest einen Bruder. Einen großen Bruder.“
„Was? Du hast mir nie—“
„Er starb bei einem Brand. Auf dem Heimweg von der Schule. Die Feuerwehr… sie sagten, sie hätten seinen Körper gefunden.“
Sie blickte mich an.
„Aber er war so verbrannt… so unkenntlich… dass nur die Kleidung zur Identifizierung genutzt wurde.“
Ein schwarzes Loch tat sich in mir auf.
„Ich erinnere mich an… Feuer“, flüsterte ich. „Und dass mir jemand die Hand reichte. Ein Mann mit… einer Tätowierung am Handgelenk.“
Ein elektrischer Schlag durchzuckte die Frau.
„Ein Mann?“ Ihre Stimme bebte. „Welche Tätowierung?“
„Ein Rabe.“
Sie presste eine Hand auf ihren Mund.
„Gott… nein…“
Ich fühlte, wie Hitze in meinem Kopf aufstieg. „Wer ist dieser Mann?“
Sie zögerte — ein Zögern voller Angst.
„Michael König“, sagte sie schließlich. „Der Mann, den ich damals angezeigt habe. Wegen Menschenhandel.“
Mir stockte der Atem.
„Du glaubst… er hat mich entführt?“
„Ich weiß es“, flüsterte sie. „Ich habe ihn gesehen. Am Tag des Brandes. Er stand vor der Schule. Und zwei Wochen später… warst du tot.“
Leo starrte uns erschrocken an. „Mama… was heißt das?“
Sie kniete sich zu ihm.
„Dass dein Bruder vielleicht nie gestorben ist. Sondern… gestohlen wurde.“
Ein Pochen begann hinter meinen Augen, so intensiv, dass mir schwindlig wurde. Erinnerungen schwappten über mich hinweg wie eine schwarze Welle.
Ein Keller.
Eine Matratze am Boden.
Ein Mann, der meinen Namen ruft — nicht Jonas, sondern ein anderer.
„Was hat er mit mir gemacht?“ fragte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie heiser. „Aber du hast die gleichen Augen. Die gleiche Narbe am Kinn. Die gleiche Art zu lachen… ich habe es sofort erkannt, als du vor der Tür standest. Es gibt keine Möglichkeit, dass ich mich irre.“
Mir wurde schlecht.
„Warum“, presste ich hervor, „erinnere ich mich an nichts?“
„Trauma“, sagte sie. „Oder… er hat etwas getan, um deine Erinnerungen zu unterdrücken.“
Ich ging auf und ab, völlig überfordert.
„Was soll ich jetzt tun?“
„Bleib hier“, sagte sie schnell. „Bitte. Vielleicht können wir gemeinsam—“
Ein lautes Poltern an der Tür ließ uns alle zusammenzucken.
Leo sprang auf. „Was war das?“
Die Frau wurde kreidebleich.
„Er weiß es“, flüsterte sie. „Michael… er weiß, dass du hier bist.“
Mir stockte der Atem.
„Leo“, sagte sie scharf, „geh in dein Zimmer. Sofort.“
Er rannte los. Ich spürte, wie mein Herz raste.
Dann — ein weiterer Schlag gegen die Tür. Diesmal stärker.
Ich trat instinktiv einen Schritt vor sie. „Lassen Sie mich die Polizei rufen.“
„Nein“, wisperte sie. „Wenn er draußen ist, dann…“
Ein weiterer Schlag. Holz splitterte.
„…dann kommt er nicht, um zu reden.“
Ich suchte verzweifelt die Wohnung nach etwas, womit ich mich verteidigen konnte. Ein Kerzenständer lag auf der Kommode. Ich packte ihn. Meine Hände zitterten.
„Was will er von mir?“ fragte ich.
„Dass du schweigst“, antwortete sie. „Für immer.“
Der Rahmen der Tür knackte.
Und dann brach sie auf.
Ein Mann stand im Türrahmen. Groß. Schwarz gekleidet. Ein Rabe auf dem Handgelenk tätowiert.
Sein Blick fiel auf mich — und er lächelte.
Ein kaltes, schneidendes Lächeln.
„Da bist du ja“, sagte er.
Seine Stimme war ein dunkler Strich durch die Stille.
„Jonas.“
Ich hob den Kerzenständer, obwohl ich wusste, wie lächerlich das war.
Der Mann lachte leise. „Du glaubst doch nicht, du könntest—“
Doch er erstarrte.
Etwas hinter mir bewegte sich.
Ein kleiner Schatten.
„Lass meinen Bruder in Ruhe!“
Leo.
Mit einem Küchenmesser in der Hand. Zitternd, aber entschlossen.
„Leo, nein!“ schrie seine Mutter.
Der Mann drehte sich.
Ich wusste: Er durfte nicht näher kommen.
In mir riss eine Saite.
Ein Gefühl, so stark, so alt, so vertraut — wie ein Instinkt, der nur darauf gewartet hatte, wieder zu erwachen.
Ich stürzte vor, traf ihn mit dem Kerzenständer am Kopf. Ein Aufschrei. Er wankte, fiel zu Boden.