„So ein Wetter hab ich seit Jahren nicht mehr gesehen“, sagte Jake, als er sich auf einen Hocker neben der Kasse setzte. Seine Jacke hing nun offen, enthüllte weitere Patches – „President“ stand in fetten Buchstaben darauf, daneben Dienstabzeichen, die auf eine militärische Vergangenheit hindeuteten, und eine kleine amerikanische Flaggennadel, die seltsam patriotisch wirkte für jemanden, den die Gesellschaft als Gesetzlosen betrachtete.
Sarah goss Kaffee in die dicken weißen Becher – das vertraute Ritual beruhigte ihre Nerven.
„Zucker und Sahne stehen auf dem Tresen“, sagte sie. „Bedient euch.“
Während die Männer ihre Hände an den heißen Bechern wärmten, nahm Sarah ihre Lage in Gedanken auseinander. 15 Hell’s Angels, eine fast leere Vorratskammer und 47 Dollar in der Kasse. Das waren keine Männer, die man hungrig oder enttäuscht wegschicken wollte.
Aber als sie ihre Gesichter betrachtete – wettergegerbt, müde, dankbar für einfache Wärme – erkannte sie, dass sie trotz der Lederjacken, Abzeichen und des furchteinflößenden Rufs einfach nur Menschen waren, die in einem Sturm gefangen waren.
Bis 22 Uhr hatte sich der Sturm noch verschlimmert. Der Wind heulte wie ein lebendiges Wesen, und der Schnee fiel so dicht, dass die Fenster aussahen, als wären sie weiß gestrichen.
Jakes Vorhersage über die Straßensperre war optimistisch gewesen. Laut Radio war der Interstate 70 in beide Richtungen gesperrt – ohne Schätzung, wann er wieder geöffnet würde.
„Könnte morgen früh sein, vielleicht in zwei Tagen“, sagte Jake, als Sarah ihm zum dritten Mal Kaffee nachschenkte. „Die Staatsstreife versucht gar nicht erst zu räumen, bis der Wind nachlässt.“
Sarah nickte, machte in Gedanken Berechnungen, die egal wie sie sie drehte, nicht aufgingen. 15 Männer, zwei Tage, und praktisch kein Essen mehr. Eier und Speck waren längst weg, die Bratkartoffeln nur noch eine Erinnerung. Sie hatte ein paar Dosen Suppe in der Vorratskammer gefunden, aber das würde nicht reichen.
Ihre 47 Dollar würden vielleicht für einen Tag reichen – wenn die Straßen frei und die Läden geöffnet wären, was sie nicht waren.
Die Biker hatten sich für die Nacht eingerichtet, einige dösten in den Sitzen, andere spielten Karten mit einem abgewetzten Deck, das Pete aus seiner Jacke gezogen hatte. Sie hatten angeboten, für die Mahlzeit zu zahlen, aber Sarah hatte abgewinkt. Wie konnte sie Geld für die paar Reste verlangen, die sie mühsam zusammengebracht hatte?
Dany war eingeschlafen, den Kopf auf dem Tisch, die Erschöpfung hatte ihn schließlich überwältigt. Im Schlaf sah er noch jünger aus, vielleicht 22 oder 23 – mit einem Gesicht, das eher in einen Hörsaal passte als auf den Rücken einer Harley.
Marcus hatte seine Lederjacke über die Schultern des Jungen gelegt – eine so sanfte Geste, dass Sarah die Kehle eng wurde.
„Er erinnert mich an meinen Sohn“, erklärte Marcus leise, als er bemerkte, dass Sarah ihn beobachtete. „Gleiches Alter, gleicher Dickkopf. Immer am Beweisen, dass er härter ist, als er wirklich ist.“
„Wo ist Ihr Sohn jetzt?“, fragte Sarah.
„Afghanistan“, antwortete Marcus. „Dritter Einsatz. Kommt nächsten Monat nach Hause – hoffentlich.“
Seine Stimme trug das Gewicht der Sorge eines Vaters, die nie ganz verschwindet, egal wie alt die Kinder sind.
Sarah goss sich selbst eine Tasse Kaffee ein und lehnte sich an die Theke, betrachtete ihre unerwarteten Gäste. Im grellen Neonlicht wirkten sie weniger bedrohlich als bei ihrer Ankunft. Ihre Lederjacken hingen über Stuhllehnen, darunter trugen sie ganz normale Kleidung: Flanellhemden, abgetragene Jeans, Arbeitsstiefel, die schon bessere Tage gesehen hatten.
Das waren Arbeiter, Männer, die wahrscheinlich mehr mit ihrem verstorbenen Mann gemein hatten als mit den filmischen Stereotypen, die sie erwartet hatte.
Jake trat an die Theke, sein Blick ernst.
„Sarah, wir müssen über die Bezahlung reden. Du warst mehr als großzügig, aber wir können nicht einfach…“
„Mach dir keine Sorgen darum“, unterbrach Sarah. „Es ist nur Essen.“
„Nein, ist es nicht“, sagte Jake bestimmt. „Es ist Gastfreundschaft. Es ist Freundlichkeit. Und es kostet dich Geld, das du wahrscheinlich nicht hast.“
Sarah spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. War ihre finanzielle Lage so offensichtlich? Sie versuchte, ruhig zu bleiben.
„Ich komme zurecht.“
Jakes Blick fiel auf die Zwangsvollstreckungsmitteilung, die unter der Registrierkasse hervorlugte, und Sarah wusste, dass ihr Versuch der Diskretion gescheitert war. Sein Gesichtsausdruck wurde weich, verständnisvoll.
„Wie lange hast du noch?“, fragte er leise.
„Sieben Tage“, gab Sarah zu, die Worte fielen ihr heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte. „Aber das ist mein Problem, nicht deins.“
„Verdammt noch mal, nein“, sagte Jake. „Du hast uns reingelassen, obwohl du nicht musstest. Du hast uns gefüttert, obwohl du es dir nicht leisten konntest. Damit ist es auch unser Problem.“
Sarah schüttelte den Kopf.
„Ich weiß die Geste zu schätzen, aber du kannst nichts tun. Ich bin drei Monate im Rückstand, und die Bank interessiert sich nicht für Mitleidsgeschichten.“
Jake schwieg einen Moment, seine rauen Hände um den Kaffeebecher gelegt. Dann sah er sie an, seine Augen blickten direkt in ihre.
„Erzähl mir von diesem Ort“, sagte er. „Wie lange hast du ihn schon?“
„15 Jahre“, antwortete Sarah. „Mein Mann Robert und ich haben ihn mit dem Erbe meiner Großmutter gekauft. Es war sein Traum – ein Ort, an dem Reisende zu jeder Zeit eine warme Mahlzeit und ein freundliches Gesicht finden können.“
„Klingt, als wäre er ein guter Mann gewesen.“
„Der Beste“, sagte Sarah, ihre Stimme zitterte leicht. „Der Krebs hat ihn vor zwei Jahren genommen. Seitdem versuche ich, den Laden am Laufen zu halten, aber…“
Sie machte eine hilflose Geste in Richtung des leeren Diners – die flackernden Lichter, der Hauch von Verfall.
„Aber es ist schwer, ein Geschäft mit Erinnerungen und guten Absichten zu führen“, beendete Jake den Satz.
„So in etwa.“
Jake schwieg wieder, und Sarah konnte sehen, dass er nachdachte, Optionen abwog, die sie sich nicht vorstellen konnte. Schließlich sprach er.
„Was, wenn ich dir sage, dass du mehr Menschen geholfen hast, als du weißt?“
„Was meinst du damit?“, fragte Sarah stirnrunzelnd.
„15 Jahre sind eine lange Zeit“, sagte Jake. „Viele Reisende kommen hier vorbei. Viele Menschen in Not, die Hilfe suchen. Erinnerst du dich an sie alle?“
Sarah schüttelte den Kopf.
„Es waren Tausende. Aber du hast ihnen allen geholfen, oder?“
„Ich hab’s versucht“, sagte Sarah. „Robert meinte immer, wir sollten ein Licht für die Menschen sein. Ein Leuchtfeuer, weißt du, jemand, der das Licht anlässt für Reisende.“
Jake lächelte – und in seinem Lächeln lag etwas Geheimnisvolles.
„Ein Leuchtfeuer“, wiederholte er. „Ja, genau das bist du.“
Bevor Sarah fragen konnte, was er meinte, entstand Unruhe in einer der Sitznischen. Pete rüttelte Dany wach, seine Stimme drängend, aber sanft.
„Junge, wach auf. Du hast einen Albtraum.“
Dany fuhr ruckartig hoch, seine Augen wild, desorientiert. Einen Moment lang sah er sich um, als wüsste er nicht, wo er war. Dann erkannte er den Ort und seufzte erleichtert.
„Sorry“, murmelte er. „Schlechte Träume. Kommen und gehen.“
„Willst du drüber reden?“, fragte Pete, setzte sich ihm gegenüber.
Dany schüttelte den Kopf, sprach dann aber doch.
„Es ist immer derselbe Traum. Ich bin auf einer dunklen Straße verloren. Mein Motorrad ist kaputt, und es gibt keinen Ort, wo ich hin kann. Kein Licht, keine Hilfe, nur endlose Dunkelheit.“
Er blickte in das warme Diner, auf die Gesichter seiner Kameraden, auf Sarah hinter der Theke.
„Aber dann wache ich auf, und ich bin hier, und alles ist gut.“
Sarah spürte, wie sich etwas in ihr bewegte – eine Erkenntnis, die sie nicht ganz benennen konnte. Wie viele Menschen hatten an diesen Tischen gesessen, Trost im selben Licht gefunden? Wie viele Reisende waren verloren, kalt, verzweifelt gewesen – nur um hier Zuflucht zu finden in dem Leuchtfeuer, das sie und Robert einst erschaffen hatten?
Sie blickte zu Jake, der sie mit demselben wissenden Lächeln ansah.
„Was verschweigst du mir?“, fragte Sarah.
„Nichts, was du nicht bald selbst herausfinden wirst“, antwortete Jake mit einem leichten Lächeln. „Aber im Moment müssen wir uns auf das Praktische konzentrieren. Du hast gesagt, die Bank will drei Monate Rückstände?“
Sarah nickte zögerlich.
„Wie viel?“
„Zwölftausend Dollar“, gab sie zu. „Plus Mahngebühren und Anwaltskosten. Wahrscheinlich eher fünfzehn.“
Jake pfiff leise durch die Zähne. „Das ist eine Menge Geld.“
„Mehr, als ich jemals haben werde“, sagte Sarah. „Ich weiß deine Absicht zu schätzen, aber fünfzehntausend Dollar findet man nicht in den Sofakissen. Dieser Ort ist am Ende. Vielleicht ist das okay. Vielleicht ist es einfach Zeit.“
„Nein“, sagte Jake, seine Stimme so scharf, dass sie ihre Resignation durchschnitt. „Es ist nicht Zeit. Nicht für einen Ort wie diesen. Und nicht für eine Frau wie dich.“
Er stand auf, zog sein Handy aus der Tasche.
„Ich muss ein paar Anrufe tätigen.“
„Jake?“, fragte Sarah überrascht über den Nachdruck in seiner Stimme.
Er sah sie an. „Gib jetzt nicht auf. Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende.“
Als Jake zur Tür ging, offenbar um besseren Empfang zu bekommen, starrte Sarah ihm hinterher. Sie verstand nicht, was hier geschah, wusste nicht, wen er anrief oder welchen Unterschied das machen konnte. Aber zum ersten Mal seit Monaten spürte sie ein kleines Flackern von etwas, das sie fast vergessen hatte – Hoffnung.
Jake kehrte nach fast einer Stunde zurück. Schnee klebte in seinem Haar, und sein Gesicht war unlesbar. Draußen hatte er hin und her telefoniert, seine Stimme war durch den Wind gedrungen, manchmal laut, manchmal gedämpft. Die anderen Biker hatten ihn durch die Fenster beobachtet, sich wortlos Blicke zugeworfen, als wüssten sie mehr als sie.
„Und?“, fragte Pete, als Jake endlich wieder hereinkam, den Schnee von den Stiefeln stampfend.
„Morgen früh“, sagte Jake knapp. „Vielleicht früher, wenn die Straße frei ist.“
„Was passiert morgen früh?“, fragte Sarah.
Jake lächelte nur und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein.
Es war Marcus, der die Spannung brach. Der ältere Biker hatte bisher kaum etwas gesagt, war zufrieden gewesen, Karten zu spielen und seinen Kaffee zu trinken. Jetzt jedoch musterte er Sarah mit einem Blick, der sie unruhig machte.
„Weißt du“, sagte er langsam, „du kommst mir bekannt vor.“
Sarah hob eine Augenbraue. „Das bezweifle ich. Ich geh’ kaum noch raus in letzter Zeit.“
„Nein, im Ernst.“ Marcus legte die Karten beiseite und sah sie richtig an, den Kopf leicht schräg, als versuche er, sich zu erinnern. „Wie lange sagtest du, führst du diesen Laden?“
„15 Jahre.“
„Und davor?“
„Vorher haben Robert und ich in Denver gelebt. Er war Trucker, fuhr Langstrecken im Westen. Ich hab als Disponentin für seine Firma gearbeitet.“
Marcus schnippte plötzlich mit den Fingern, so laut, dass mehrere der anderen Biker aufblickten. „Das ist es! Tommy Patterson!“
Sarah runzelte die Stirn. „Tut mir leid, ich—“