(1870, Thüringen) Unter dem Bordell lagen 97 Leichen – Der Unheimliche Fall der Brandt-Schwestern
Das kleine Dorf Schwarzburg in Thüringen strahlte im Herbst 1870 jene beschauliche Ruhe aus, die man den ländlichen Regionen Deutschlands gerne zuschreibt. Eingebettet in sanfte Hügel und umgeben von dichten Wäldern, schien die Gemeinde vor den großen Dramen der Welt geschützt. Doch unter der Oberfläche eines verfallenen Gasthauses lag ein Abgrund verborgen, der das idyllische Bild für immer zerbrechen ließ und die Behörden vor ein Rätsel stellte, das in seiner Grausamkeit und methodischen Kälte beispiellos war.
Der Zimmermann Friedrich Weiß war es, der am Dorfrand das Gebäude namens „Zur Goldenen Rose“ abriss, als sein Werkzeug auf ungewöhnlichen Widerstand stieß . Unter den Bodenbrettern des Kellers fand er einen zweiten, versteckten Kellerraum . Die Luft, die ihm aus der Öffnung entgegenschlug, war von einem süßlichen, fauligen Geruch durchzogen. Was Friedrich Weiß dort in der Feuchtigkeit und Dunkelheit entdeckte, war ein Albtraum aus Knochen und Verfall: die Überreste von Menschen, arrangiert in einer makabren Ordnung. Am Ende zählte die örtliche Gendarmerie 97 Leichname in verschiedenen Stadien der Verwesung . Es war kein zufälliges Massengrab, sondern eine systematische Sammlung des Todes, die über Jahrzehnte angesammelt worden war.
Die drei Gesichter der Tücke
Das Gasthaus zur Goldenen Rose war seit 1827 unter der Leitung der Brandt-Schwestern – Martha, Elisabeth und Johanna . Die drei unverheirateten Nichten hatten das Geschäft von ihrer Tante übernommen und es über 40 Jahre lang mit eiserner Disziplin geführt. In Schwarzburg wusste man, dass das Haus neben Unterkunft und Verpflegung auch „diskrete Dienstleistungen“ anbot . Wohlhabende Kaufleute und Herren aus Erfurt oder Weimar, die Anonymität suchten, waren regelmäßige Gäste.
Die Schwestern teilten die Rollen ihrer tödlichen Arbeitsteilung perfekt unter sich auf:
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Martha, die Älteste: Sie war die Verwalterin und das Gesicht nach außen. Martha führte die Bücher, pflegte den Kontakt zu den Behörden und sorgte mit unerschütterlicher Ruhe und scharfem Verstand für eine Fassade der Respektabilität. Sie war es auch, die großzügige Spenden an die Kirche leistete, um das Gewissen des Pfarrers zu beruhigen und die Ambivalenz des Dorfes zu nähren .
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Elisabeth, die Kräftige: Sie war die Köchin und die Vollstreckerin. Elisabeth war für die Küche, die Vorräte und, wie sich herausstellen sollte, für die schreckliche „Verarbeitung“ der Opfer zuständig . Sie wurde oft am Brunnen beobachtet, wo sie ungewöhnlich große Mengen Wäsche wusch, deren Wasser manchmal eine rötliche Färbung aufwies.
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Johanna, die Jüngste und Schönste: Sie war die Lockvögelin. Ihr natürlicher Charme und ihre scheinbar unschuldige Schönheit dienten dazu, die Opfer zu verführen und zu überzeugen, in dem abgelegenen Gasthaus zu übernachten und den angebotenen Wein zu trinken .

Die lange Ignoranz der Behörden
Die Gerüchte über Gäste, die in der Goldenen Rose verschwanden und nie wieder gesehen wurden, galten lange als „Dorftratsch“ [02:31]. Die Opfer waren zumeist wohlhabende Männer, die allein reisten und beträchtliche Geldsummen bei sich trugen – aber die Spuren waren professionell beseitigt, es gab keine Anzeichen von Raub oder Gewalt [06:23].
Der erste offizielle Hinweis kam 1855, als der Landstreicher Paul Grim Unterschlupf in einem Schuppen hinter dem Gasthaus suchte [06:42]. Er sah, wie die drei Schwestern einen großen, in Decken gehüllten Gegenstand, der die Form eines menschlichen Körpers hatte, in Richtung Keller trugen [07:06]. Elisabeths Schürze war blutbefleckt. Doch der Dorfvorsteher Weber tat den Bericht des „Trinkers“ als Fantasie ab [07:16].
Gendarmerie Hauptmann Karl Hoffmann aus Rudolstadt führte 1855 eine oberflächliche Untersuchung durch. Martha Brand empfing ihn mit unerschütterlicher Ruhe [07:53]. Sie präsentierte ein akkurat geführtes Gästebuch, in dem jeder Gast – einschließlich des verschwundenen Stoffhändlers Gustav Richter – mit korrekter Abreisezeit verzeichnet war [08:53]. Hoffmann, beeindruckt von der Ordnung und der Diskretion der Schwestern, schloss die Akte, da er politische Komplikationen mit den einflussreichen Stammgästen der Brandschwestern vermeiden wollte [10:36]. Die Akte wurde geschlossen – 20 Jahre zu früh.
Das Grauen des „Arbeitsbereichs“
Nach Hoffmanns Entschluss kehrte eine trügerische Normalität zurück. Doch aufmerksame Beobachter bemerkten Ungereimtheiten:
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Der Dorfschmied Wilhelm Kessler musste immer wieder schwere Eisenwaren, Ketten und Vorhängeschlösser für unbekannte Zwecke liefern [11:58].
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Pfarrer Gottschalk bemerkte, dass Martha Brand bei Predigten über das Jüngste Gericht vorzeitig die Kirche verließ [13:23].
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Der Bote Jakob Weber wurde im Sommer 1858 Zeuge eines erschreckenden Details [15:44]. Elisabeth Brand führte ihn versehentlich durch einen ansonsten verschlossenen Kellerraum, der nicht im Gästebereich lag. Dort sah Jakob schwere eiserne Ketten, große Zinkwannen, Äxte, gekrümmte Messer und Holztische, übersät mit tiefen Kerben [16:39]. Elisabeth behauptete, dies sei der Raum für die „neue Wurstproduktion“ [16:57]. Doch an einer Wand hingen Kleidungsstücke und Stiefel der vermeintlich abgereisten Gäste [17:23].
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Marthas Notizbücher enthielten kryptische Einträge wie „KV erledigt am 12.08.“ und „JB zu laut geworden, Elisabeth muss sanfter vorgehen“ [18:36], was auf die Verarbeitung menschlicher Überreste hindeutete.
Der Wendepunkt kam erst 1859, als der misstrauische Wandergeselle Anton Busch im Gasthaus einkehrte [23:46]. Busch bemerkte den bitteren Nachgeschmack im Wein und spürte, wie seine Glieder schwer wurden. Als er durch das Schlüsselloch beobachtete, wie die drei Schwestern mit Seilen, Tüchern und einem großen Küchenmesser durch den Flur schlichen [25:07], sprang er aus dem verriegelten Fenster des ersten Stocks und floh zur Gendarmerie in Rudolstadt [25:41].
Die Aufdeckung des Grauens und das Motiv
Buschs detaillierte Aussage zwang Hauptmann Hoffmann zur Wiederaufnahme der Ermittlungen. Am 12. September 1859 fand die Razzia statt. Nach stundenlanger ergebnisloser Suche entdeckte ein Gendarm eine frisch verputzte Stelle in der Kellerwand, die einen Hohlraum verbarg [27:13].
Was die Beamten im dahinter liegenden, geheimen Keller fanden, bestätigte die schlimmsten Gerüchte und übertraf Buschs Schilderungen. Der Raum war die zentrale Tötungs- und Verarbeitungsstätte der Schwestern [27:37]. Überreste von mindestens einem Dutzend weiterer Opfer lagen dort. Entlang der Wände hingen nicht nur Werkzeuge zur „normalen“ Fleischverarbeitung, sondern auch spezialisierte, rasiermesserscharfe, gekrümmte Messer und Äxte [28:32].
Am schrecklichsten war der große, gemauerte Ofen an der hinteren Wand, in dessen Inneren Aschespuren und angekohlte Knochenfragmente gefunden wurden [28:40]. Martha und Elisabeth hatten tatsächlich Fleisch verarbeitet – nur war es nicht das Fleisch von Tieren gewesen [28:50].
Als die Beamten mit ihren Funden ins Wohnzimmer zurückkehrten, saßen die drei Brandschwestern still und unbewegt auf dem Sofa. Martha nahm die Entdeckung mit erschreckender Gelassenheit hin: „Ich nehme an, Sie haben unseren Arbeitsbereich gefunden“, sagte sie. „Es war nur eine Frage der Zeit.“ [31:09] Sie gestand kaltblütig die Tötung von 98 Menschen (die ursprüngliche Zahl wurde später korrigiert, um ältere Fälle zu berücksichtigen) seit der Übernahme des Geschäfts.
Das Motiv, so erklärten die Schwestern, war nicht Wahnsinn, sondern kalkulierte Notwendigkeit und Überleben. Tante Berta hatte sie gelehrt, dass „manche Gäste tot mehr wert sind als lebendig“ [32:13]. Vor Gericht brachte Martha das zynische Motiv auf den Punkt: „Haben Sie jemals versucht, als unverheiratete Frau in dieser Welt zu überleben? Ohne Mann, ohne Familie, ohne Protektion? Wir haben getan, was nötig war.“ [34:27] Sie sahen ihre Opfer als bloße Ware und behandelten sie auch so.
Das Vermächtnis des Bösen
Der Prozess gegen die Brandschwestern im Frühjahr 1860 in Erfurt schlug in ganz Deutschland hohe Wellen. Tausende Schaulustige reisten an, um einen Blick auf die „Teufelinnen von Schwarzburg“ zu erhaschen [34:55]. Die Schwestern zeigten keine Reue, sondern beantworteten alle Fragen mit der präzisen Sachlichkeit von Geschäftsfrauen [35:02].
Das Urteil vom 15. Juni 1860 lautete auf Tod durch das Schwert. Bei ihrer Hinrichtung am 12. September 1860 auf dem Marktplatz von Erfurt blieben Martha und Elisabeth kalt. Martha Brands letzte Worte hallten in der Menge wider: „Wir bereuen nichts. Wir haben überlebt.“ [36:43]
Die Geschichte endete jedoch nicht mit ihrem Tod. Die Brandschwestern waren nur die Spitze eines Eisbergs. Die Behörden fanden Hinweise auf ein Netzwerk ähnlicher Geschäfte, die sich gegenseitig mit Methoden und Giftrezepten unterstützten – von Thüringen bis Bayern [37:34].
Das Gasthaus zur Goldenen Rose wurde 1869 nach einem mysteriösen Brand abgerissen und durch einen kleinen Park mit einer Gedenktafel ersetzt [43:14]. Die akribischen Aufzeichnungen von Martha Brand, die 97 Namen in sauberer Schrift listeten [43:54], blieben als stummes Zeugnis der Kälte des menschlichen Herzens erhalten. Die Tragödie von Schwarzburg ist ein unvergessliches Mahnmal dafür, dass das Böse nicht immer als tobender Wahnsinn auftritt, sondern manchmal als stille, methodische und vollkommen rationale Geschäftstätigkeit [40:25] – ausgeführt von Menschen, die sich selbst für vollkommen berechtigt hielten, über das Leben anderer zu verfügen.