
Aber Anna hatte diesen Moment der Stille als Beweis dafür interpretiert, daß ihr Vater mehr als nur menschlich war, etwas, das nur vorgab, lebendig zu sein. Der letzte Eintrag war vom Tag des Geburtstags. Heute werde ich 18. Heute sagen die Stimmen, dass Papa den Kuchen vergiften wird. Ich muss vorher handeln. Es geht um Ihnen oder mich. Sie lügen nie.
Doktorin Richter diagnostizierte paranoide Schizophrenie im akuten Stadium. Sie erklärte dem Richter, dass Anna an systematisierten Verfolgungswarnvorstellungen, auditiven Befehlshalluzinationen und Denkstörungen litt, dass ihre Krankheit monatelang ohne Behandlung fortgeschritten war, dass die Stimmen, die sie hörte, keine Metaphern oder Übertreibungen waren.
Es waren reale Symptome einer schweren Psychose, die ihre Wahrnehmung der Realität vollständig verzerrte. Der psychiatrische Bericht detaillierte, dass Anna das sogenannte Capgrassyndrom erlebte, die wahnhafte Überzeugung, dass eine nahestehende Person durch einen identischen Betrüger ersetzt wurde. In Kombination mit auditiven Befehlshalluzinationen hatte dieser Warn sie dazu gebracht, ihren Vater als tödliche Bedrohung wahrzunehmen, die beseitigt werden musste. Der Prozess begann im November 1964.
Ganz München sprach über den Fall. Die Zeitungen nannten es der Geburtstagsvatermord. Die Mütter in der Nachbarschaft benutzten Annas Geschichte, um ihre Töchter zu erschrecken. Das passiert, wenn du deinem Vater nicht gehorchst. Aber niemand verstand, was wirklich geschehen war.
Niemand außer Doktorin Richter und einer Hand voll Spezialisten, die über die Natur der Schizophrenie aussagten. Sie erklärten, dass Befehlshalluzinationen ohne Behandlung unwiderstehlich werden können. Wenn ein Patient wirklich glaubt, dass sein Leben in Gefahr ist, fühlt sich das Handeln gegen die vermeintliche Bedrohung wie Überleben an, nicht wie Gewalt. Dr. Hoffmann sagte drei Stunden lang aus.
Er beschrieb seine Konsultation mit Anna im Mai. Er erklärte, dass er ernst vor der Gefahr gewarnt hatte, dass er ihn angefleht hatte, seine Tochter einweisen zu lassen. Er weinte auf dem Zeugenstand, als man ihn fragte, ob das Verbrechen hätte verhindert werden können. “Ja”, antwortete er. Wenn der Vater die Behandlung akzeptiert hätte, wäre seine Tochter in einem Krankenhaus statt in einer Zelle und er wäre noch am Leben. Die Verteidigung plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit.
Der Anwalt, ein junger Mann namens Rafael Estrada, der den Fall fast unentgeltlich übernommen hatte, präsentierte das Tagebuch die medizinischen Gutachten die Aussagen der Nachbarn. Er zeigte, dass Anna seit Monaten psychisch abgebaut hatte, dass erst Hilfe gesucht, aber nicht genug bekommen hatte, dass das System keine wirklichen Optionen für Familien wie die Schmidz bot.
Der Staatsanwalt argumentierte, dass ein Verbrechen ein Verbrechen sei, das Wahnsinn, das vergossene Blut nicht auslösche, dass München wissen müsse, dass auch Geisteskranke für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Er zeigte Fotos vom Tatort, das Messer, der Kuchen, das befleckte weiße Kleid, die 18 Kerzen, die Geschworenen berieten 11 Stunden lang.
Sie befanden Anna des Totschlags mit mildernden Umständen für schuldig. Das Urteil: Unbefristete Unterbringung in der psychiatrischen Klinik in Har, bis die Ärzte feststellen würden, dass sie keine Gefahr mehr für sich oder andere darstellte. Die Klinik in H war die Hölle. Ein riesiger Komplex aus grauen Gebäuden, endlosen Korridoren, vergitterten Fenstern, Höfen, in denen die Insassen stundenlang im Kreis liefen. Anna kam im Dezember 196 an.
Man wies ihr den Pavillon für gewalttätige Frauen zu. Sie teilte eine Zelle mit 17 anderen Patientinnen. Die ersten medizinischen Berichte dokumentieren ihre anfängliche Reaktion auf die Antipsychotika. Die Stimmen wurden seltener. Die Paranoia ließ nach. Sie hörte auf zu glauben, dass die Pfleger Spione waren. Sie begann zu essen, ohne dass man sie dazu zwingen musste.
Im März 1965 notierte ein Psychiater: “Die Patientin zeigt eine deutliche Besserung. Sie berichtet nicht mehr über aktive auditive Halluzinationen. Sie erkennt an, dass die Stimmen ein Produkt ihrer Krankheit waren. Sie zeigt jedoch Episoden unkontrollierbaren Weinens, wenn ihr Vater erwähnt wird. Im Juni 1967 hatte Anna ihren ersten Moment verheerender Klarheit. Sie bat darum, Fotos von Ernst zu sehen.
Eine Krankenschwester besorgte ihr ein Foto, das in den Akten des Falles verblieben war. Anna hielt es mit beiden Händen. Sie starrte 10 Minuten lang auf das Gesicht ihres Vaters, ohne zu blinzeln. Dann begann sie zu weinen. Ein stilles Weinen, das ihren ganzen Körper erschütterte. Sie flüsterte: “Ich habe ihn getötet.” Die Stimmen waren nicht echt. “Ich habe ihn getötet.
” Sie wiederholte diesen Satz sechs Stunden lang. Die Ärzte mußten sie sedieren. Als sie aufwachte, hatte sich die Schuld wie ein permanentes Gewicht auf ihre Brust gelegt. Sie begann das Essen zu verweigern. Sie sagte, sie verdiene es nicht zu leben. Man solle sie als Strafe sterben lassen.
Die nächsten Jahre waren ein Kreislauf aus Medikamentenanpassungen, Rückfällen und vorübergehenden Stabilisierungen. Jede Besserung brachte ein größeres Bewusstsein für ihre Tat mit sich. Und mit diesem Bewusstsein kam ein Schmerz, den die Antipsychotiker nicht lindern konnten. 1969 versuchte Anna sich mit einem Laken zu erhängen. Sie wurde rechtzeitig gefunden. 1971 schluckte sie ein Fläschchen mit Tabletten, die sie wochenlang gesammelt hatte. Man pumpte ihr den Magen aus.
Sie überlebte, hörte aber zwei Monate lang aufzusprechen. Die Klinik in Haar war überfüllt. Es gab mehr als 3000 Patienten in einem Raum, der für 1us ausgelegt war. Das Personal war unzureichend, die Behandlungen rudimentär. Vergewaltigungen unter Patienten waren an der Tagesordnung. Schläge von den Wertern häufig.
Anna lernte unsichtbar zu werden. Sie saß in einer Ecke des Hofes und starrte stundenlang auf den Boden. 1973 gab es einen Verwaltungsfehler. Ein schlecht kommunizierter Schichtwechsel. Anna erhielt vier Tage hintereinander, keine Medikamente. Am fünften Tag kehrten die Stimmen zurück. Lauter als je ihr zuvor, eindringlicher.
Diesmal befahlen sie ihr nicht jemanden zu töten. Sie befahlen ihr, sich selbst zu töten. Sie sagten ihr, es sei der einzige Weg, das wieder gut zu machen, was sie getan hatte, dass ihr Vater auf der anderen Seite auf sie warten würde, dass sie ihn persönlich um Verzeihung bitten könne. Anna gehorchte.
Sie benutzte den Schnürsenkel ihrer Schuhe. Sie band ihn an das Gitter des Fensters ihrer Zelle. Sie erhängte sich im Morgengrauen, als die Krankenschwestern Schichtwechsel hatten. Man fand sie um 6 Uhr morgens. Sie war 27 Jahre alt. Der Abschlussbericht des Krankenhauses stellt fest, dass sie nie aufhörte, die Stimmen zu hören.
Sie lernte nur ihnen nicht zu gehorchen. Bis die Unterbrechung der Medikation dieses zerbrechliche Gleichgewicht durchbrach. Der Leichnam wurde in einem armen Grab auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Es gab keine Beerdigung. Es waren keine Verwandten anwesend. Ernst hatte keine Geschwister. Maria auch nicht. Anna war ein Einzelkind. Die Gerichtsakten des Falles bleiben im Justizpalast in München.
Drei Pappkartons voller Aussagen, Fotos, medizinischer Berichte. Die Akte trägt einen roten Stempel mit der Aufschrift Fallgeschlossen aufgrund des Todes der Angeklagten. Aber der Fall wurde nie wirklich geschlossen. Er schwebt in den Gängen der medizinischen Fakultät, wo Psychiatrieprofessoren ihn nutzen, um über Schizophrenie bei Jugendlichen zu lehren.
Er blieb im Gedächtnis der Nachbarn der Leopoldstraße haften, die jahrelang den Blick abwandten, wenn sie am Haus der Schmidz vorbeigingen. Das Haus wurde 1975 verkauft. Eine Familie aus Hamburg kaufte es, ohne die Geschichte zu kennen. Sie zogen nach 8 Monaten aus. Sie sagten, das Haus sei zu kalt. Sie hätten sich nie wohlgefühlt. Die nächste Familie blieb kürzer.
1972 wurde das Haus abgerissen. Jetzt ist dort ein Parkplatz. Was vom Fall Anna Schmied übrig blieb, sind unbeantwortete Fragen. Fragen, die die Akten nicht lösen können. Wenn ernst die Einweisung im April akzeptiert hätte, als die Symptome noch beherrschbar waren, hätte er überlebt. Wenn der Arzt mehr darauf bestanden hätte, hätte sich etwas geändert.
Wie viele Familien in München in ganz Deutschland standen schweigend? vor identischen Situationen. Wie viele Väter wählten das Gebet statt der Medizin aus Angst vor dem Stickma? Wie viele Kinder wie Anna verloren sich im Labyrinth ihres eigenen Geistes, ohne dass jemand wusste, wie man ihnen helfen konnte? Im Jahr 1974 bedeutete über Geisteskrankheiten zu sprechen, über Scham zu sprechen.
Irrenanstalten waren Orte der Bestrafung, nicht der Heilung. Familien zogen es vor, ihre Kranken zu verstecken, anstatt sich dem sozialen Urteil auszusetzen. Und diese Wahl, multipliziert mit tausenden von Familien, Hunderten von Gemeinden, schuf ein Land, in dem der Wahnsinn hinter verschlossenen Türen verborgen wurde, bis er in einer Tragödie explodierte.
Dr. Hoffmann gab nach dem Prozess zwei Jahre lang seine psychiatrische Praxis auf. Die Schuld, weder Anna noch ihren Vater gerettet haben zu können, verzehrte ihn. Als er wieder praktizierte, widmete er den Rest seiner Karriere, der Arbeit mit Familien schizophrener Patienten und versuchte andere Eltern davon zu überzeugen, nicht den gleichen Fehler wie ernst zu machen.
Dorin Richter, die Annas Fall bis zu ihrem Tod verfolgte, schrieb 1975 einen Fachaikel mit dem Titel Schizophrenie und Vatermord. Der Fall Schmid. Darin argumentierte sie, dass der wahre Verbrecher nicht Anna war, sondern ein nicht existentes System der psychischen Gesundheitsversorgung, dass Deutschland eine Infrastruktur zur Diagnose, Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit schweren Geisteskrankheiten fehlte, dass sich Fälle wie der von Anna immer wieder wiederholen würden, bis der Staat die psychische Gesundheit als Priorität anerkennen würde. Der Artikel wurde in einer Fachzeitschrift veröffentlicht.