Das Ultimatum von Washington: Wird Europa am Verhandlungstisch verraten und zur Kasse gebeten?

Article: Das Ultimatum von Washington: Wird Europa am Verhandlungstisch verraten und zur Kasse gebeten?
Während die diplomatischen Fäden zum Ende des Krieges in der Ukraine heiß laufen, stellt sich in Europa eine beunruhigende Frage: Wer diktiert die Bedingungen des Friedens, und wer bezahlt am Ende die Rechnung? Die jüngsten Verhandlungen in Abu Dhabi, an denen amerikanische, russische und ukrainische Vertreter teilnahmen, machten eine schmerzhafte Realität unübersehbar: Europa war nicht nur nicht am Tisch, es war faktisch außen vor.
Die Kernbefürchtung, die Politikwissenschaftler und Ökonomen wie Ralf Schöllhammer in ihren Analysen teilen, ist dramatisch: Die USA könnten den Krieg beenden – und Europa würde die Rolle des Zahlmeisters zugewiesen bekommen. Es droht eine gefährliche Konstellation, in der die Europäische Union (EU), obwohl sie ein wirtschaftlicher Riese ist, als politischer und militärischer Zwerg behandelt wird, der ohne Mitspracherecht eine halbe Billion Dollar für den Wiederaufbau schultern soll.
Die Illusion des europäischen Schwergewichts
Die Verwirrung über Europas Rolle speist sich aus einem fundamentalen Missverständnis über die eigene Stärke. Ralf Schöllhammer bringt es auf den Punkt, indem er das Gewicht Europas hinterfragt: Ja, Europäer sind ein Schwergewicht, aber ein theoretisches. Er zieht einen treffenden Vergleich zum Kraftsport: Wenn jemand 100 kg wiegt, ist die erste Frage, wovon? Wasser, Fett oder Muskelmasse?
Die europäische Bilanz ist ernüchternd: Wir sind kein Schwergewicht militärisch. Wir sind kein Schwergewicht diplomatisch. Und wir sind auch kein Schwergewicht in der Industrie. In den Dingen, die in Kriegszeiten zählen, sei Europa faktisch abgemeldet. Wo die EU hingegen ein Schwergewicht ist, ist im „Schwingen von Reden und im Belehren von anderen“ – eine ernüchternde Feststellung, die die politische Relevanz der Union auf der globalen Bühne auf ihre kommunikative Fähigkeit reduziert.
Diese mangelnde Substanz hat direkte Konsequenzen: Man sei entweder ein Spieler oder eine Figur auf dem Spielfeld. Die Europäer, so die Analyse, sind momentan eher eine passive Figur, die nicht selbst aktiv agiert, sondern von anderen verschoben wird.
Die US-Strategie und Europas Schockstarre
Die Vereinigten Staaten haben mit ihrem 28-Punkte-Plan ein klares Signal gesetzt, dass sie die Kontrolle über den Friedensprozess in der Ukraine beanspruchen. Europa wurde durch diesen Plan aufgeschreckt, da es nicht von Anfang an eingebunden war. Zwar gelang es der EU, in Genf noch einen Fuß in die Tür zu bekommen, doch die Botschaft war eindeutig: Die Einbindung Europas findet nur mehr sporadisch und „aus Höflichkeit“ statt.
Die Hauptmotivation der USA, so die Expertenmeinung, ist nicht zwingend die Ukraine selbst, sondern die globale strategische Ausrichtung. Mit einem Fokus auf China und Südamerika spielt die Ukraine keine zentrale Rolle in Washingtons höchster Priorität. Besonders unter einer möglichen Trump-Regierung, die eine starke isolationistische Strömung in der Republikanischen Partei widerspiegelt, wird ein möglichst rascher Friedensschluss angestrebt, um das Thema von der Agenda zu bekommen. Dies bedeutet auch, dass die USA bereit sind, Russland territoriale Zugeständnisse zu machen, um den Deal zu sichern.
Interessanterweise zeigt sich Russland selbst in den Verhandlungen flexibler als erwartet. Während noch vor zwei Jahren eine maximale Truppengröße der Ukraine von 85.000 Mann akzeptiert werden sollte, ist nun von bis zu 600.000 Mann die Rede. Auch „NATO-ähnliche“ Sicherheitsgarantien und eine demilitarisierte Zone sind Verhandlungsmasse geworden. Dies deutet darauf hin, dass Moskau seine momentane Oberhand im Abnutzungskrieg nutzt, um die bestmöglichen Bedingungen zu erzielen – was in Kiew mittlerweile ebenfalls registriert werden dürfte.
Die tödlichen Kosten des Wiederaufbaus
Der zentrale Konfliktpunkt zwischen Washington und Brüssel ist die Finanzierung des Wiederaufbaus. Die Weltbank schätzt die notwendigen Mittel auf eine halbe Billion Dollar und mehr.
Die US-Seite signalisiert, dass sie zwar bereit ist mitzuzahlen, aber primär auf das eingefrorene russische Vermögen in den USA zurückgreifen will. Von Europa wird hingegen erwartet, seinen Beitrag aus eigenen Mitteln zu leisten. Dies nährt die Sorge, dass die USA politisch und möglicherweise auch wirtschaftlich (durch Aufträge) profitieren, während Europa die massiven Kosten trägt.
Der Mythos der einmaligen Aufrüstung

Diese finanzielle Belastung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Europa ohnehin vor der Notwendigkeit einer dauerhaften militärischen Aufrüstung steht. Die oft verbreitete politische Erzählung, Sondervermögen und erhöhte Rüstungsausgaben seien eine kurzfristige Maßnahme, ist laut Schöllhammer ein Mythos. Rüstungsgüter müssen dauerhaft gewartet und modernisiert werden. Das sind dauerhaft höhere Ausgaben, deren Geld dem zivilen Bereich – Sozialprogrammen, Bildung, Infrastruktur – entzogen wird.
Hier manifestiert sich das Dilemma der europäischen Bevölkerung. Ob sie bereit ist, diesen permanenten Kaufkraftverlust und die Kürzung sozialer Leistungen zugunsten von Rüstung und Wiederaufbau hinzunehmen, ist momentan „sehr, sehr fragwürdig“.
Die Büchse der Pandora: Das eingefrorene Vermögen
Angesichts der massiven Haushaltslöcher – die Ukraine benötigt allein für die nächsten zwei Jahre 137 Milliarden Euro – gerät die Europäische Union in Versuchung, ebenfalls auf die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zurückzugreifen. Der Großteil dieses Vermögens der russischen Zentralbank lagert bei Euroclear in Belgien.
Dieser Schritt ist jedoch rechtlich extrem heikel und wird von Experten als das Öffnen einer Büchse der Pandora betrachtet. Zwar haben die Russen mit ihrem Einmarsch Völkerrecht verletzt, doch das bedeutet nicht, dass andere internationale Verträge automatisch ihre Gültigkeit verlieren. Eine Konfiszierung von Zentralbankvermögen würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen: Andere Staaten könnten befürchten, dass ihre Vermögen in Europa ebenfalls konfisziert werden, falls ihr politisches Verhalten den Europäern missfällt. Ein solches Vorgehen würde den Finanzplatz Europa massiv destabilisieren und signalisiert die finanzpolitische Verzweiflung der EU-Kommission.
Die rechtlich saubere Lösung ist, dass die Gelder eingefroren bleiben und stückweise freigegeben werden, im selben Ausmaß, in dem sich Russland freiwillig am Wiederaufbau beteiligt – ein Deal, der die Sache über Bande spielt, aber die Rechtsgrundlagen respektiert.
Das drohende prärevolutionäre Klima
Der größte innenpolitische Sprengstoff liegt jedoch in der Gefahr einer massiven Instabilität in Europa selbst. Schöllhammer sieht Europa in einem prärevolutionären Klima. Er erinnert an die Französische Revolution: Sie brach nicht wegen äußerer Feinde aus, sondern weil sich der französische Staat 1776 bei der Unterstützung der amerikanischen Unabhängigkeit verausgabt hatte.
Die Situation heute ist ähnlich: Wenn die Europäer nun nach dem Motto „kost’ es, was es wolle“ den Wiederaufbau der Ukraine finanzieren, während in den eigenen Ländern das Geld fehlt – etwa in Deutschland für marode Brücken, Straßen und Hochspannungsleitungen –, wird sich ein gewaltiger Unmut breitmachen.
Die Konsequenz: eine Revolution an der Wahlurne. Das Erstarken neuer Bewegungen wie der AfD in Deutschland oder älterer, ehemals mittig platzierter Parteien wie der FPÖ in Österreich, ist ein direktes Indiz für die wachsende Unzufriedenheit. In einer noch schärferen Wirtschaftskrise könnten diese Parteien weitere zehn Prozentpunkte hinzugewinnen. Sollten Regierungen versuchen, diesen Populismus mit zweifelhaften Maßnahmen im Keim zu ersticken, wäre nicht auszuschließen, dass die Menschen am Ende die Option der Straße wählen.
Die ungeschminkte moralische Bilanz
Man könnte die Frage stellen: Haben wir als Land mitten in Europa nicht eine moralische Verpflichtung, der Ukraine beizustehen? Die Antwort lautet ja, aber sie ist mit einem bitteren Beigeschmack versehen.
Diese Verpflichtung hätte spätestens seit 2014, wenn nicht schon seit 2013, auf der Agenda stehen müssen. Russland hat sich seit mindestens einem Jahrzehnt auf einen möglichen Konflikt mit dem Westen vorbereitet; Europa hingegen hat nichts getan. Die politischen Entscheidungen der Vergangenheit haben Konsequenzen. Moral ist wichtig, aber wie Bertolt Brecht einst sagte: „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Wenn ein Staat wie Russland zehn Jahre im „Fitnessstudio“ trainiert hat, während Europa zehn Jahre auf der Couch saß, dann wird derjenige, der trainiert hat, im Wettkampf besser dastehen. Europa verfügt zwar theoretisch über ein riesiges Potenzial, doch Russland hat sein Potenzial in der Kriegführung realisiert. Die russische Industrie ist auf Kriegswirtschaft umgestellt – die europäische nicht.
Die europäischen Politiker, so Schöllhammer, stehen sinnbildlich „mit runtergelassener Hose“ da. Weder Tweets noch Pressekonferenzen können diesen Mangel an militärischer und finanzieller Substanz ändern. Die Ukraine-Krise ist der erste Konflikt eines neuen Kalten Krieges, und Europa muss nun entscheiden, wie viel „Pulver“ es in diesem Stellvertreterkrieg verschießen will, ohne die eigene Stabilität aufs Spiel zu setzen. Die Rechnung für das Versäumnis der letzten zehn Jahre ist in Brüssel eingetroffen.