Ein greller Feuerball zerreißt die Dunkelheit über dem Industriegebiet von Stalingrad. Glassplitter regnen wie tödlicher Hagel in die offenen Kellerfenster. Irgendwo stürzt ein Betontreppenhaus krachend in sich zusammen. In einem niedrigen Versorgungstunnel, nur beleuchtet von einer flackernden Karbitlampe, kniet ein deutscher Pionier.

Die Finger an der kalten Zündschnur, das Herz hämmert bis in den Hals. Über ihm liegt Halle vier des Stahlwerks, die Martin Ofenhalle, ein Monstrum aus Stahl und Beton, das ihm als Ziel um jeden Preis befohlen wurde. Hinter ihm drängen Männer mit Flammenwerfern und Sprengsäcken. Vor ihm ist nur ein schwarzes Loch, aus dem hin und wieder das kurze Aufblitzen sowjetischer Mündungsfeuer zuckt.
Hunderte Kilometer weiter westlich schlägt zur gleichen Stunde in Berlin die Küchentür einer Mietskaserne ins Schloss. Eine Frau hängt den nassen Mantel an den Haken, reibt sich die erfrorenen Hände und setzt sich an den wacklig Tisch. Neben dem Teller mit dünner Steckrübensuppe liegt ein Feldpostbrief. Stalingrad ist hart, aber wir halten durch, hat ihr Sohn geschrieben.
Aus dem Nebenzimmer dröhnt der Volksempfänger. Eine heisere Stimme feiert unerschütterliche Helden an der Wolga. Das Wort Stalingrad füllt den Raum, doch seine wirkliche Bedeutung bleibt für sie ein Schatten. Sie weiß nicht, dass der Krieg, der dort geführt wird, längst jede Grenze von Vernunft und Verantwortlichkeit überschritten hat.
Der Weg in diese Falle beginnt Monate zuvor auf den Lagekarten der Heresgruppe Süd. Am 23. August 1942 setzt sich die sechste Armee mit über einer Million Soldaten in Bewegung. Die grünen Pfeile auf den Karten scheinen ein klares Bild zu zeichnen. Über den Donn durch ukrainische Dörfer vorbei an Kornfeldern hin zur Wolga.
Stalingrad erscheint als Schlüsselstellung, als Knotenpunkt für dreig Millionen Tonnen Güter im Jahr, darunter mehrere Millionen Tonnen Öl. In der Sprache der Stäbe ist es ein Operationsziel, ein Verkehrsknoten, eines Brückenkopf. Für die Männer in den Kolonnen ist es vorerst nur ein Name. Viele von ihnen sind jung.
Jahrgänge 1916 bis Anfang der 20er Jahre. Sie haben die Arbeitslosigkeit der Weimarer Zeit erlebt, den Zwangscharakter des Reichsarbeitdienstes, die Formungen der Hitlerjugend. In den Dörfern verabschieden Mütter ihre Söhne auf Bahnhöfen, drücken ihnen Päckchen mit Speck und Brot in die Hand, während Lautsprecher vom endgültigen Sieg im Osten sprechen.
In den Städten stehen Menschen an den Gleisen und winken, Fahnen wehen, Kapellenpielen. Noch immer trägt die Propaganda den Klang deser Blitzkriegs in sich, des scheinbar unaufhaltsamen Vorstoßes, der Polen, Frankreich, weite Teile der Sowjetunion überrollt hat. Doch je näher Stalingrad rückt, desto deutlicher klafft die Lücke zwischen Bild und Wirklichkeit. Am 23.
August 194 beginnt ein massiver Luftangriff der Luftwaffe auf die Stadt. Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen, Theater. Alles wird unter Bombenteppichen begraben. Unter den Trümmern liegen Familien, die glaubten, der Krieg werde an ihnen vorbeiziehen. Züge mit Evakuierten werden unterwegs von Jagdbombern angegriffen.
Auf der Wolga treiben brennende Trümmer. Die Zerstörung, die eigentlich den militärischen Widerstand brechen soll, schafft in Wahrheit die Bühne für einen beispiellosen Häuserkampf. In den folgenden Wochen verwandelt sich Stalingrad in ein Labyrinth aus Trümmern, Kellern, Feuerlöchern und improvisierten Stellungen.
Für die deutsche sechste Armee ist das Terrain ein Albtraum. Häuser, die gestern noch Orientierung boten, sind heute nur noch rauchende Ruinen. Straßen existieren nur noch als Schneisen zwischen Schuttbergen. In den Fabriken kämpfen Deutsche und Sowjets oft imselben Gebäude. Der eine im Erdgeschoss, der andere im Keller oder Dachgeschoss.
Ein österreichischer Soldat des Jägerregiments 54 erinnert sich später. Wer einen Schritt zu weit machte, stand vor einem Loch, aus dem plötzlich eine Hand mit einer F1 Granate auftauchte. Gerade dieses Jägerregiment 45 zu einem großen Teil aus Österreichern bestehend, wird in den Kämpfen um das Stahlwerk Roter Oktober und das Artilleriewerk rote Barrikaden zerrieben.
Längst ist jeder Häuserblock, jede Halle, jeder Kellergang vermient, verbarrikadiert, mit Scharfschützen besetzt. Deutsche Verluste lassen sich kaum ersetzen. Auf sowjetischer Seite werden jede Nacht über die Volgangeführt, oft schlecht ausgerüstet, aber mit dem Wissen, dass hinter der Wolger die Heimat beginnt. Für sie ist Stalingrad nicht nur eine Stadt, sondern eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.
Während im Osten um jeden Meter gekämpft wird, steht im Westen das Novemberfest des Regimes auf dem Programm. Am 8. November 1942 drängen sich Parteigenossen S Männer und alte Kämpfer im Münchner Löwenbreukeller. Die Luft ist schwer von Zigarrenrauch und nationalistischem Patos. Auf der Bühne steht Adolf Hitler und inszeniert sich als Stratege, der alles unter Kontrolle hat.
Er spricht über Stalingrad, nicht als Ort menschlichen Leidens, sondern als Knoten im Getriebe seines Kriegsplans. Dort schneiden wir den Bolschewismus von seinem Öl ab, verkündet er sinngemäß und lässt keinen Zweifel daran, dass er entschlossen ist, die Stadt um jeden Preis zu halten. Diese Rede übertragen ins Ganze Reich soll Zuversicht verbreiten.
Doch für den Gegner ist sie ein Geschenk. In Moskau ließ Georgi Schukow, der Chef des sowjetischen Generalstabs Hitlers Worte mit kalter analytischer Ruhe. Nach den Erfahrungen vor Moskau hatte er vermutet, dass die Wehrmacht die sechste Armee im Herbst aus Stalingrad zurücknehmen würde, um sie vor dem Winter zu schonen. Meldungen über schwach gesicherte Flanken über rumänische und italienische Verbände als Deckung hatten ihn misstrauisch gemacht.
Vielleicht war dies alles nur eine Falle. Hitlers Rede nimmt ihm diese Zweifel. Der Feind wird Stalingrad nicht freiwillig räumen. Er bindet seine besten Kräfte an einem Punkt, während seine Flanken weich wie Butter bleiben. Auf sowjetischen Karten werden diese Flanken mit dicken roten Pfeilen markiert.
Operation Uranus: Der Plan zur Einkesselung, nimmt Gestalt an. Während vorn in den Fabriken noch um jeden Hallenpfeiler gekämpft wird, rollen im Hinterland sowjetische Panzerverbände an ihre Bereitstellungsräume. Zugleich versucht die deutsche Führung verzweifelt in Stalingrad selbst eine Entscheidung zu erzwingen. Am 1. November 1942 trifft sich Generaloberst Friedrich Paulus mit Generaloberst von Weiks und Generaloberst Wolfram von Richthofen.
Sie stehen unter Druck. Der Herbst hat sich über Nacht in einen Winter mit Temperaturen von -2 bis 30° verwandelt. Der Nachschub leidet unter überlasteten Straßen und Eisenbahnlinien. Die Männer sind ausgelaugt, krank, teilweise unterernährt. Trotzdem bleibt der Auftrag unverändert. Die letzten sowjetischen Bastionen in den nördlichen Industriegebieten müssen fallen.
Richthofen kritisiert die bisherigen Angriffe als zu breit, zu unkoordiniert, zu verlustreich. In den Trümmern der Stadt sei klassische Infanterietaktik mit breiten Angriffswellen Selbstmord. Stattdessen fordert er kleine hochmobile Stoßtrups, hauptsächlich Pioniere, die mit Sprengstoff und Flammenwerfern systematisch Raum für Raum erobern.
Paulus weiß, daß ihm die Infanterie fehlt, um diese Erfolge zu halten, aber seine Bitten um frische Divisionen werden vom Oberkommando des Heeres abgeschmettert. Die Entscheidung fällt nicht mehr in Stalingrad, sondern im Führerhauptquartier. In Berlin überzeugt Richthofen den Luftwaffengeneralstab von seinem Konzept.
Hitler stimmt zu und ordnet an, die Schlusskämpfe um Stalingrad mit Pionierbataillonen zu führen. Acht solcher Bataillone werden herangeführt, soweit das in Mitten der chaotischen Verkehrs- und Versorgungslage möglich ist. Die Operation erhält den Tarnamen Hubertus. Auf dem Papier ist das eine konzentrierte Kraftentfaltung.
In der Realität bedeutet es die letzten Reserven in einen immer enger werdenden Korridor zu pressen. Weil keine frischen Infanterieverbände verfügbar sind, ordnet Paulus die Bildung von Kampfgruppen an. zusammengestückelte Einheiten aus Resten ausgelaugter Infantergegiment, aus Bodentruppen der Luftwaffe, aus Schreiber innen der Kompanieschreibstuben, aus Nachschubsoldaten, die bisher Kisten verladen und Formulare abgestempelt haben.
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Ein Zahlenschreiber aus einem Heeresverpflegungsamt findet sich plötzlich mit Karabiner und Handgranaten in einem feuchten Keller wieder mit dem Auftrag se Rücken und Flanke der Pioniere zu sichern. So wird aus einem bürokratischen Apparat eine hastig bewaffnete Masse, die für den Häuserkampf kaum ausgebildet ist. Die letzten Oktobertage bringen einen Sie in der Zeternos trügerische Pause, bevor Hubertus beginnt.
Schnee legt sich über die Trümmer, erstickt die Schreie nicht, aber dämpft sie. In einem improvisierten Verbandsplatz sitzt ein deutscher Sanitätsunteroffizier auf einem Hocker zwischen zwei Reihen von Verwundeten. Er tauscht die Verbände, die längst an den Wunden festgefroren sind und hört nebenbei den Gerüchten zu.
Pioniere kommen, dann ist es vorbei, sagt der eine. Wenn wir Wolga erreichen, können wir endlich in Winterquartiere, hofft ein anderer. Der Sanitäter weiß, dass der Winter nicht aufhört, nur weil man die Ufer eines Flusses erreicht. Doch er schweigt. Es fehlt ihm nicht nur Schmerzmittel, sondern auch Worte. Am 9. November 194, dem Tag, den die Propaganda im Reich als Jahrestag des Putschversuchs von 1923 mit Fackelzügen feiert, beginnen die Angriffe von Adezan Hubertus.
Entlang der Frontstarten Ablenkungsoffensiven, Artillerie dröhnt, der Himmel glüht. Hinter dieser lärmenden Kulisse schleichen sich die Pioniergruppen durch Keller, über Schutt durch die Reste von Produktionshallen. Sie tragen Sprengladungen auf dem Rücken wie Rucksäcke. Flammenwerfertanks drucken ihnen die Luft ab.
Die Hände sind taub vor Kälte und Nervosität. Der Kampf reduziert sich auf wenige Meter Raum. Eine Mauer, hinter der jemand atmet, ein Treppenabsatz, hinter dem ein MG lauert. Die Pioniere sprengen Wände, werfen Blend und Splittergranaten, stürzen sich hinein in Wolken aus Staub und Rauch. Die sowjetischen Verteidiger antworten mit genau denselben Mitteln: Nahkampf heißt, dass jeder Fehler tödlich ist.
Ein falscher Schritt durch eine Tür und eine ganze Gruppe wird von einer gut platzierten Sprengfalle ausgelöscht. Immer wieder gelingt es diesen Stoßtrups tiefer in die sowjetischen Stellungen einzubrechen, als es reguläre Infanterie je geschafft hat. Sie erobern Räume, Gänge, Stellungen, nur um kurz darauf zu merken, dass ihre Flanken ungesichert sind.
Die Kampfgruppen im Rücken aus übermüdeten, unerfahrenen Männern zusammengesetzt, bleiben in Deckung, verlieren die Orientierung in den zerstörten Straßenzügen oder ziehen sich beim ersten konzentrierten Gegenfeuer zurück. So entstehen auf der Karte kleine blaue Vorsprünge, aber auf dem Gelände sind es dünne gefährdete Spitzen, die sich nicht halten lassen.
Der dramatischste Ausdruck dieser Logik ist der Angriff auf Halle 4, die Martin Ofenhalle. Dieses gigantische Gebäude ist nicht nur eine Fabrikhalle, sondern ein Symbol. Wer sie nimmt, meint man im Deutschen Hauptquartier, der hat den sowjetischen Widerstand im Norden der Stadt gebrochen.
Generalleutnant Richard Graf von Schwerin, der verantwortliche Divisionskommandeur, sitzt 10 km entfernt in einem relativ sicheren Gefechtsstand und start auf Lagekarten. Er ordnet Hauptmann Helmut Welz, dem Kommandeur des Pionierbataillons 179, an die Halle zu stürmen. kennt die Lage vor. Er weiß, dass die Halle durch ein System von Rohrleitungen und unterirdischen Gängen mit der sowjetischen Uferfront der Wolger verbunden ist, dass Panzerabwehrkanonen und Maschinengewehre in Nischen versteckt sind, dass Scharfschützen in den Stahlträgern sitzen. Er weist auf
die hohen Verluste der vergangenen Tage hin. Doch Schwerin reagiert gereizt, fühlt seine Autorität angegriffen. Ich brauche keine Ratschläge.”, fährt er den Pionieroffizier an. “Ich erwarte Ergebnisse.” In diesem Satz bündelt sich ein ganzes System von Befehl und Gehorsam, das jede Kritik als Schwäche diffiert. Am 11.
November greift das Bataillon erneut an. Unter Artillerie und Sturmartilleriefeuer stoßen die Pioniere in das Innere der Halle vor. Granaten sprengen Löcher in die Stahlkonstruktion. Überall ist Staub, Beton, Funken. Aus der Dunkelheit brechen sowjetische Gegenschläge. Handgranaten fliegen hin und her.
Flammenwerfer zünden Nischen an, die sich als Fallen erweisen, in denen sowjetische Soldaten bis zur letzten Patrone ausharren. Nach etwa 70 m ist der Angriff zu Ende. Von den etwa 700 Pionieren und den unterstützenden kroatischen Soldaten bleibt nur ein Rest übrig. Wels gerät in Gefangenschaft. Sein Bataillon existiert faktisch nicht mehr.
In sowjetischer Gefangenschaft ringt Wels später mit der Erinnerung. Er schreibt von der Stuld, ein ganzes Bataillon in den Tod geführt zu haben, trotz aller Bedenken, trotz B besseren Wissens. Dieser persönliche Konflikt steht stellvertretend für eine tiefere Frage. Wo endet militärischer Gehorsam? Wo beginnt persönliche Verantwortung? In Stalingrad prallen diese Fragen aufeinander, ohne dass die Beteiligten eine Antwort finden.
Sie werden erst Jahrzehnte später im Rahmen der deutschen Vergangenheitsbewältigung offen diskutiert. Trotz aller Opfer bleibt die operative Lage unverändert. Die entscheidenden sowjetischen Stellungen in den Fabrikanlagen halten. Halle 4 bleibt sowjetisch. Am 18. November zieht General Walter von Seitlitz Kurzbach die Reißleine und erklärt Hubertus für beendet.
Damit ist die Offensive im Häuserkampf faktisch erschöpft. Am nächsten Tag beginnt die Offensive, die das Schicksal der sechsten Armee endgültig besiegelt. Am 19. November 1942 rollen im Morgengrauen sowjetische Panzer nordwestlich von Stalingrad an. Kalter Wind treibt Schnee über die Stellungen der rumänischen Divisionen, deren Soldaten in dünnen Mänteln und mit veralteter Ausrüstung versuchen, die Linie zu halten.
Die ersten russischen Granaten schlagen ein. Kurz darauf brechen T34 Panzer durch, denen die Rumänen kaum etwas entgegensetzen können. Ähnliches spielt sich südlich von Stalingrad ab. Innerhalb weniger Tage kollabieren ganze Frontachte. Die Flanken, die in deutschen Lagebesprechungen jahrelang nur eine Randnotiz waren, werden nun zum Zentrum des Geschehens.
Für viele deutsche Soldaten ist die Nachricht von der Einkesselung zunächst abstrakt. Sie sehen auf ihre unmittelbare Umgebung dieselben Trümmer, dieselben Feinstellungen, derselbe Kampf von Haus zu Haus. Doch als die Meldungen eintreffen, daß sowjetische Verbände bis nach Kalsch vorgestoßen und der Landweg nach Westen abgeschnitten ist, verändert sich etwas.
Ein Funker schreibt in sein Tagebuch: “Heute hieß es: “Wir seien eingekesselt, ein Wort und doch ein ganzes Leben. Es ist der Moment, in dem der Horizont, der bisher irgendwo hinter der Wolga oder hinter der Steppe lag, plötzlich auf den Umfang eines Kessels zusammenschrumpft. Hitler verbietet den Ausbruch. Stattdessen ordnet er an, die sechste Armee solle den Kessel als Festung halten und verspricht sie aus der Luft zu versorgen.
Göring behauptet öffentlich, die Luftwaffe könne die nötigen 300 bis 500 Tonnen Nachschu pro Tag liefern. In der Praxis bleiben es oft kaum mehr als hundert Tonnen, manchmal weniger. Die wenigen Maschinen, die landen, bringen Mehl, etwas Munition, gelegentlich Verwundete hinaus. Was sie nicht bringen können, sind Hoffnung und Perspektive.
Mit dem Kessel verengt sich auch die Lebenswirklichkeit. In Stellungen wird gefrorenes Pferdefleisch gekocht. Brotportionen werden dünner. Zigaretten werden in der Mitte geteilt. Erfrierungen, Hungertyfus, Ruhe greifen um sich. In einem Unterstand der sechsten Armee sitzt ein Arzt vor einer Schlange von Soldaten, die Frostbeulen, Husten, Durchfall haben.
Er hat kaum Medikamente, oft nicht einmal genug Verbände. Er weiß, dass viele von ihnen statistisch ohnehin nicht zurückkehren werden, nicht nur wegen der sowjetischen Gefangenschaft, sondern weil die Kälte, der Hunger, die Überforderung stärker sind als jede ärztliche Kunst. Er behandelt sie trotzdem, einer nach dem anderen, mit der stohischen Routine eines Menschen, der weiß, dass er gegen eine Welle arbeitet, die er nicht aufhalten kann.
Während im Kessel das Überleben von Tag zu Tag fraglicher wird, erreicht Stalingrad auch die deutschen Wohnzimmer, allerdings in verzerrter Form. Die Wochenschauen zeigen Karten mit Pfeilen, die noch immer nach vorne weisen. Die Sprache spricht von Heldentum, Aufopferung, Fronttreue. Gleichzeitig beginnen Feldpostbriefe aus Stalingrad auszubleiben.

In Ruandstätdten, in sächsischen Kleinstädten, in bayerischen Dörfern erhalten Familientelegramme mit der knappen Formel. Wird vermisst. Ein Gefühl der Unruhe breitet sich aus, das schwer zu benennen ist. In einer Kleinstadt in Westfalen sitzt eine junge Frau im Wohnzimmer ihrer Schwiegereltern. Auf dem Tisch liegt das Telegramm daneben das Foto ihres Mannes in Uniform.
Aufgenommen im Sommer 1948, lächelnd, selbstbewusst. Die Schwiegermutter murmelt von Pflicht von Opfer für die Nation. Der Schwiegervater schweigt und starrt aus dem Fenster. Im Radio wiederum spricht Göbbels von Schicksalskampf. In dieser Mischung aus pathos, Schweigen und ratloser Wut beginnt etwas zu bröckeln. Nicht laut, nicht öffentlich.
Bigander Tot, aber in den inneren Räumen der Menschen. Der Untergang der sechsten Armee hat nicht nur militärische, sondern tiefgreifende gesellschaftliche Folgen. Hunderttausende Väter, Söhne, Brüder kehren nie zurück. Eine gesamte Alterskohorte, jene Jahrgänge, die die wirtschaftliche und soziale Zukunft des Landes hätten tragen sollen, wird dezimiert.
In Schulklassen fehlen plötzlich mehrere Väter. In betrieben rücken junge Männer in Positionen nach, für die sie nie vorgesehen waren. Witwen und Halbweisen füllen die Wartesele von Behörden, beantragen Renten, Wohnraum, Lebensmittelkarten. Der Staat, der ihre Männer in den Krieg geschickt hat, begegnet ihnen mit Formularen und Phrasen.
Gleichzeitig versucht die Propaganda aus der Niederlage, politisches Kapital zu schlagen. Göbbels Sportpalastrede vom 18. Februar 1970 ist die direkte Antwort auf Stalingrad. Die Niederlage wird umgedeutet in einen Beleg dafür, dass Deutschland nicht hart genug gekämpft habe, dass man nun alles einsetzen müsse.
Stalingrad wird zur rhetorischen Rampe, von der aus der totale Krieg ausgerufen wird. Das Leid der Soldaten im Kessel und der Hinterbliebenen zu Hause wird benutzt, um noch mehr Opfer zu fordern. Ein zynischer Kreislauf der Eskalation. Dabei wird ausgeblendet, wofür diese sechste Armee überhaupt gekämpft hat. Stalingrad ist keine isolierte Tragödie.
Die sechste Armee war Teil eines Angriffskrieges, der mit dem Überfall auf Polen begann und über West und Nordeuropa bis tief in die Sowjetunion führte. Sie war beteiligt an der Vernichtungspolitik im Osten, an der Hungerstrategie, an der Zerstörung ganzer Dörfer, an Deportationen. Das mindert nicht das Leid der einzelnen Soldaten und ihrer Familien, aber es gehört zu einer ehrlichen Betrachtung dazu.
Die Opfer waren zugleich Teil eines Unrechtsregimes, das selbst unermessliches Leid über andere brachte. Nach 1945 wird Stalingrad für die deutsche Gesellschaft zu einem schwierigen Erinnerungsort. In der frühen Bundesrepublik dominieren zunächst die Stimmen der Heimkehrer, die von Kameratschaft, Verrat der Führung und seinen Sinnlosigkeit sprechen.
Ihre Berichte zeichnen das Bild einer Opfergemeinschaft, in der die politische Dimension des Krieges oft ausgeblendet bleibt. Viele von ihnen sind gebrochene Männer, körperlich ausgezehrt nach Jahren in sowjetischer Gefangenschaft, seelisch belastet von dem, was sie erlebt und getan haben. Nicht selten finden sie wenig Verständnis.
Die junge Generation will nach vorne schauen. Der kalte Krieg schafft neue Frontlinien. In der DDR hingegen wird Stalingrad in die Erzählung vom antifaschistischen Sieg eingeordnet. Die Niederlage der Wehrmacht dient als Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus, für die historische Notwendigkeit. Deutsche Opfer werden erwähnt, aber vor allem als Mahnung, sich der sowjetischen Schutzmacht verpflichtet zu fühlen.
Stalingrad ist hier kein komplexer Erinnerungsraum, sondern ein Baustein in einem politischen Lehrgebäude. Zwischen diesen Polen, Opfermythos im Westen, Siegesmythos im Osten, versuchen über Jahrzehnte Historiker, Schriftsteller, Filmemacher eine differenzierte Sicht zu entwickeln.
Sie fragen nicht nur nach den militärischen Abläufen, sondern nach den Menschen dahinter, nach dem Pionier im Keller von Halle vier, nach der Mutter am Küchentisch, nach dem rumänischen Soldaten in der Steppe, nach den sowjetischen Arbeiterinnen, die in den Fabriken Kampfstellungen ausheben, bevor sie selbst unter Beschuss geraten. Und sie fragen nach den langfristigen Folgen für die deutsche Gesellschaft, für eine Generation von Kindern, die ohne Väter und häufig ohne Antworten aufgewachsen ist.
Bis heute ist Stalingrad in der deutschen Erinnerungskultur präsent. in Gedenkfeiern, in Schulbüchern, in Romanen, in Dokumentationen. Es ist ein Symbol für die hybrismitärischer Planung, für das Scheitern einer Führung, die lieber hunderttausende opfert, als einen Fehler einzugestehen. Aber es ist auch ein Spiegel.
Es zeigt, wie leicht eine Gesellschaft sich von Versprechen der Stärke, von Karten mit klaren Pfeilen, von der Illusion der Kontrolle verführen läßt und wie schwer es ist rechtzeitig nein zu sagen, wenn der Preis dafür nicht abstrakte Verluste, sondern konkrete Leben sind. Gerade deshalb stellt sich aus heutiger Sicht eine doppelte Frage.
Was bedeutet Stalingrad für uns, wenn wir nicht nur auf die Gefallenen im Kessel schauen, sondern auch auf die Menschen, die unter dem Angriffskrieg Deutschlands gelitten haben in Russland, in der Ukraine, in Belarus, in Polen. Und wie wachsam sind wir heute wirklich, wenn Politiker, Medien oder auch einfache Parolen wieder schnelle Siege, einfache Antworten und notwendige Opfer versprechen und dabei darauf bauen, dass niemand genau hinschaut, wer am Ende den höchsten Preis bezahlt.