Willkommen zu einer weiteren verstörenden Geschichte. Kommentieren Sie, von wo aus Sie zuschauen und wann genau Sie diese Geschichte hören. Im Jahr 1875 stand das Anwesen Altenburg wie ein stummer Wächter über den sanften Hügeln des sächsischen Vogtlandes. Das dreistöckige Herrenhaus mit seinen charakteristischen Türmchen und der langen Lindenallee war seit Generationen im Besitz der Familie von Altenburg.
Doch an einem nebligen Oktobertag dieses Jahres sollte sich ein Detail offenbaren, das alle Gewissheiten ins Wanken bringen würde. Der Hausverwalter Heinrich Müller war es, der beim Durchgang durch die Archive im Ostflügel eine Unstimmigkeit bemerkte.

In den Familienregistern, die akribisch seit 1702 geführt worden waren, fehlte für das Jahr 1860 ein Eintrag. Zwischen den Namen Johann Friedrich von Altenburg, geboren im März, und seinem Bruder Wilhelm, geboren im November, klaffte eine Lücke von 8 Monaten. Die Handschrift der Baronin war deutlich erkennbar, aber dort, wo ein dritter Name hätte stehen müssen, war das Papier sauber radiert worden.
Was Müller zunächst für einen Schreibfehler hielt, erwies sich bei genauerer Betrachtung als systematische Tilgung. Die Radierung war so sorgfältig durchgeführt worden, daß nur bei schrägem Lichteinfall schwache Spuren der ursprünglichen Tinte sichtbar wurden. Drei Buchstaben ließen sich noch erahnen. Mara seit das Anwesen Altenburg lag etwa 12 km südwestlich von Plauen, versteckt zwischen bewaldeten Hügeln und nur über einen schmalen Sandsteinweg erreichbar.
Die nächsten Nachbarn, die Familie Hofmann, bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof in 4 km Entfernung. In dieser Abgeschiedenheit hatte sich über die Jahre ein eigenes Universum aus Gewohnheiten und unausgesprochenen Regeln entwickelt. Die Entdeckung der radierten Stelle war nicht das einzige Detail, das Müller aufgefallen war.
In den Haushaltsausgaben für das Jahr 1860 fand sich ein Posten, der ihn stutzen ließ. Sondermobiliar für drittes Kinderzimmer, 45 Reichstaler. Das dritte Kinderzimmer im Westturm war seit Menschengedenken als Abstellkammer genutzt worden. Niemand konnte sich erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre.
Als Müller diese Beobachtungen dem Baron Friedrich von Altenburg mitteilte, reagierte dieser mit ungewöhnlicher Schärfe. “Alte Papiere”, sagte er knapp, “Irrtümer und vergessene Träume. “Wir haben wichtigeres zu tun, als in verstaubten Büchern nach Gespenstern zu suchen.” Seine Stimme trug einen Ton, den Müller in 20 Jahren Dienst noch nie gehört hatte.
Doch an diesem Abend, als das Anwesen in nächtlicher Stille lag, vernahm Müller aus dem Westturm etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war nicht mehr als ein leises Klopfen, gleichmäßig wie ein langsamer Herzschlag, das durch die dicken Steinmauern drang. Drei Schläge, dann eine Pause, wieder drei Schläge. Es wiederholte sich eine volle Stunde lang, bevor es verstummte.
Das Leben der Familie von Altenburg folgte seit Jahrzehnten einem unveränderlichen Rhythmus. Baron Friedrich, ein Mann von Jahren mit graumeliertem Vollbad, verbrachte seine Vormittage in der Bibliothek, wo er sich der Verwaltung seiner Ländereien und der Korrespondenz mit Geschäftspartnern in Dresden widmete.
Seine Frau Baron in Charlotte, sech Jahre jünger und von zierlicher Statur, beaufsichtigte das Hauspersonal und pflegte ihre ausgedehnte Korrespondenz mit Verwandten in München und Berlin. Die beiden Söhne Johann Friedrich, mittlerweile 18 und Wilhelm 17 bereiteten sich auf Ihr Jura Studium in Leipzig vor.
Ihre Tage vergingen mit Unterricht bei dem Hauslehrer Magister Brem, einem schmächtigen Mann Mitte 40, der bereits den Baron in seiner Jugend unterrichtet hatte. Die Unterrichtsstunden fanden im Erdgeschoss statt in einem holgetäfelten Raum mit Blick auf den formellen Garten. Das Personal des Anwesens bestand aus sieben Personen, dem Hausverwalter Müller, der Köchin Agnes Bartsch, zwei Hausmädchen, einem Kutscher, einem Gärtner und der Wirtschafterin Frau Kemper, einer energischen Frau von 45 Jahren, die bereits der vorigen Generation gedient hatte. Jeder kannte
seinen Platz und seine Aufgaben. Gespräche zwischen Personal und Herrschaft beschränkten sich auf das Notwendige. Die Mahlzeiten wurden stets pünktlich serviert. Frühstück um 7 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr, Abendessen um 6:30 Uhr. Die Familie versammelte sich im großen Speisesaal, wo unter dem Ölgemälde des Stammvaters ein schwerer Eichentisch stand.
Die Unterhaltung beschränkte sich auf Höflichkeiten und praktische Belange. Über persönliche Empfindungen oder gar Probleme wurde nicht gesprochen. Sonntags fuhr die Familie zur Kirche nach Plauen. Der Gottesdienst in der St. Johanneskirche war einer der wenigen Anlässe, bei denen die von Altenburgs mit anderen Menschen in Kontakt kamen. Doch auch hier hielten sie Abstand.
Nach dem Gottesdienst kehrten sie unmittelbar zum Anwesen zurück, ohne sich auf Gespräche mit anderen Gemeindemitgliedern einzulassen. Die Abende verbrachte die Familie im Salon. Der Baron las Zeitungen oder Fachliteratur. Die Baronin war mit Handarbeiten beschäftigt. Die Söhne studierten ihre Lektionen. Gegen 9 Uhr zog sich jeder in seine Gemächer zurück.
Das Anwesen versank dann in eine Stille, die nur von dem gelegentlichen Knarren der alten Holzböden oder dem Säuseln des Windes in den hohen Bäumen unterbrochen wurde. Doch seit Müllers Entdeckung in den Archiven schien sich etwas Unmerkliches verändert zu haben. Die Baronin blickte häufiger als sonst zum Westturm hinüber, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu sein.
Der Baron sprach noch weniger als gewöhnlich und wirkte oft in Gedanken versunken. Selbst das Personal bemerkte eine Spannung, die vorher nicht da gewesen war. Besonders auffällig war das Verhalten von Wirtschafterin Camper. Sie, die normalerweise jeden Winkel des Anwesens kannte und überwachte, miet den Westturm vollständig.
Wenn eines der Hausmädchen Fragen zu den oberen Räumen stellte, lenkte sie abrupt ab oder erfand eine dringende Aufgabe an anderer Stelle. Es war, als hätte Müllers Entdeckung einen Riss in die sorgfältig aufrechterhaltene Ordnung geschlagen. Ein Riss, durch den etwas Verborgenes zu dringen begann. Drei Wochen nach der ersten Entdeckung erreichte ein Brief das Anwesen Altenburg, der die fragile Ruhe endgültig erschüttern sollte. Der Absender war Dr.
Hermann Volkert, ein Genealoge aus Dresden, der sich auf die Erforschung sächsischer Adelsfamilien spezialisiert hatte. In seinem Schreiben teilte er mit, daß er im Rahmen seiner Studien über die Familie von Altenburg auf interessante Diskrepanzen in den kirchlichen Registern gestoßen sei. Dr. Volgert erwähnte einen Taufeintrag in den Büchern der Plauener St. Johanneskirche vom 15. August 1860.
Dort war die Taufe einer Margarete von Altenburg vermerkt, Tochter des Baron Friedrich und der Baronin Charlotte. Gleichzeitig fanden sich jedoch in späteren Jahrgängen keinerlei weitere Erwähnungen dieses Kindes. Keine Konfirmation, keine Heirat, kein Sterbeeintrag. Der Genealoge bat um Aufklärung dieser kleinen historischen Unstimmigkeit und kündigte seinen Besuch für den kommenden Monat an.
Er wolle seine Forschungen durch einen Blick in die Familienarchive vervollständigen. Baron Friedrich empfing diesen Brief in seinem Arbeitszimmer in Anwesenheit von Hausverwalter Müller. Die Reaktion des Barons war bemerkenswert. Seine normalerweise so beherrschte Miene verfärbte sich aschfahl. Seine Hände begannen unmerklich zu zittern.
Ohne ein Wort stand er auf, ging zum Kamin und warf den Brief in die Flammen. Dror Volkert wird keine Antwort erhalten, sagte er schließlich mit gepresster Stimme. “Und er wird dieses Haus nicht betreten. Ist das verstanden, Müller?” An diesem Abend verließ die Baronin zum ersten Mal seit Jahren das Anwesen nach Einbruch der Dunkelheit.
Müller beobachtete vom Fenster seines Zimmers aus, wie sie einen dunklen Umhang über ihre Nachtkleider zog und durch den Garten in Richtung des kleinen Familienfriedhofs ging, der etwa 100 Meter vom Haupthaus entfernt lag. Sie blieb dort über eine Stunde. Als sie zurückkehrte, trug sie etwas in ihren Händen, ein kleines Bündel in ein weißes Tuch gewickelt.
Müller konnte nicht erkennen, was es war, aber die Art, wie sie es hielt, wirkte zärtlich, fast mütterlich. In derselben Nacht erwachte das gesamte Hauspersonal von einem Geräusch, das niemand später genau beschreiben konnte. Es kam aus dem Westturm und klang wie ein leises Weinen, vermischt mit einem rhythmischen Klopfen an Holz.
Das Geräusch hielt etwa eine halbe Stunde an und verstummte dann so plötzlich, wie es begonnen hatte. Am nächsten Morgen fanden sich auf dem Weg zum Westturm kleine feuchte Fußabdrücke. Zu klein für einen Erwachsenen, aber deutlich erkennbar im morgendlichen Tau.

Die Spuren führten von der Eingangstür direkt zum Turm und verschwanden an der schweren Eichentür, die seit Jahren verschlossen war. Wirtschafterin Camper entdeckte die Spuren als erste. Ohne zu zögern holte sie einen Eimer Wasser und spülte sie weg, bevor jemand anders sie bemerken konnte. Doch Müller hatte bereits alles gesehen.
Als er sie zur Rede stellen wollte, blickte sie ihm direkt in die Augen und sagte nur: “Manche Türen sollten verschlossen bleiben, Herr Müller, manche Geschichten gehören begraben.” Dr. Volkert angekündigter Besuch wurde abgesagt. Ein kurzes Telegramm teilte mit, dass der Genealoge aufgrund unvorhergesehener Umstände seine Forschungen über die Familie von Altenburg einstellen müsse.
Die Nachricht erreichte das Anwesen an einem grauen Novembermorgen und schien den Baron sichtlich zu erleichtern. Doch die Unruhe im Anwesen ließ sich nicht so einfach beseitigen. Die nächtlichen Geräusche aus dem Westturm wiederholten sich in unregelmäßigen Abständen. Mal war es ein leises Klopfen, mal ein Scharen, als würde jemand an den Wänden kratzen. Das Personal begann, sich darüber zu unterhalten, wenn auch nur in geflüsterten Gesprächen in der Küche oder im Waschhaus.
Magister Brem, der Hauslehrer, lieferte die erste offizielle Erklärung. Bei einem Gespräch mit der Familie nach dem Abendessen erwähnte er beiläufig, daß alte Gebäude oft von Nageletieren bewohnt würden. Mer und Ratten könnten in den Zwischenwänden ihr Unwesen treiben und dabei Geräusche verursachen, die in der nächtlichen Stille verstärkt wahrgenommen würden.
Diese Erklärung wurde dankbar aufgenommen. Die Baronin nickte zustimmend und erwähnte, dass sie schon öfter verdächtige Geräusche auf dem Dachboden gehört habe. Baron Friedrich ordnete an, dass der Kammerjäger aus Plauen bestellt werden solle, um das Problem zu lösen.
Der Kammerjäger, ein älterer Mann namens Weber, erschien drei Tage später mit seinen Fallen und Giften. Er untersuchte das gesamte Anwesen gründlich mit einer Ausnahme. Der Westturm blieb verschlossen. Baron Friedrich erklärte, dort würden nur alte Möbel und Familienerbstücke gelagert, die keiner regelmäßigen Kontrolle bedürften.
Weber legte seine Fallen aus und versicherte, dass das Problem binnen einer Woche gelöst sein würde. Tatsächlich fing er mehrere Ratten und zwei Merupthaus und in den Wirtschaftsgebäuden. Aus dem Westturm kam weiterhin kein Tier, dafür aber verstummten die Geräusche für mehrere Wochen vollständig. Die Familie schien erleichtert. Bei den Mahlzeiten kehrte die gewohnte, distanzierte Höflichkeit zurück. Die Baronin nahm ihre Handarbeiten wieder auf.
Die Söhne konzentrierten sich auf ihre Studien, selbst das Personal wirkte entspannter. Doch Hausverwalter Müller ließ sich nicht so leicht beruhigen. Er hatte in seinen Jahren des Dienstes genug echte Tierplagen erlebt, um zu wissen, wie sie klangen. Was er aus dem Westturm gehört hatte, war etwas anderes gewesen. Zu rhythmisch, zu menschlich.
Wirtschafterin Camper schien seine Zweifel zu bemerken. Eines Abends, als sie allein in der Küche waren, sprach sie ihn direkt an. Herr Müller sagte sie leise. Es gibt Dinge in alten Häusern, die sich nicht mit Fallen und Gift beseitigen lassen. Manchmal ist es besser, die Ratten für die Geräusche verantwortlich zu machen.
Verstehen Sie, was ich meine? Müller verstand, aber er verstand auch, dass hinter dieser bequemen Erklärung etwas lauerte, das größer und dunkler war als alles, was sich in den Mauern verstecken mochte. Die Stille war nicht das Ende des Problems. Sie war nur eine Atempuse. Der Winter 1878 legte sich wie eine schwere Decke über das Anwesen Altenburg. Der Schnee dämpfte alle Geräusche und isolierte die Familie noch weiter von der Außenwelt.
Die Tage wurden kurz, die Nächte endlos lang. In dieser Zeit der Abgeschiedenheit begannen sich subtile Veränderungen im Verhalten der Bewohner zu zeigen. Baronin Charlotte entwickelte die Gewohnheit, lange Spaziergänge durch die verschneiten Gärten zu unternehmen.
Sie ging dabei stets allein und miet die Gesellschaft der anderen. Ihre Routen führten sie regelmäßig am Westturm vorbei, wo sie oft mehrere Minuten verharrte und zu den vergitterten Fenstern in den oberen Stockwerken hinaufblickte. Das Personal bemerkte, daß die Baronin begonnen hatte, kleine Gegenstände zu sammeln.
Getrocknete Blumen, bunte Bänder, manchmal auch Kinderspielzeug, das auf den Märkten in Plauen erworben worden war. Diese Dinge verschwanden ebenso geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht waren. Hausmädchen Anna fand einmal ein kleines Holzpferdchen unter der Bank im Garten, konnte sich aber nicht erinnern, es jemals zuvor gesehen zu haben.
Baron Friedrich zog sich immer mehr in seine Bibliothek zurück. Er verbrachte ganze Tage dort, angeblich mit der Bearbeitung von Geschäftspapieren, doch Müller beobachtete, daß er oft einfach nur reglos in seinem Sessel saß und aus dem Fenster starrte. Wenn man ihn ansprach, fuhr er zusammen, als würde er aus tiefen Gedanken gerissen.
Die beiden Söhne Johann, Friedrich und Wilhelm begannen, sich anders zu verhalten. Sie waren früher unzertrennlich gewesen, doch nun suchten sie immer häufiger die Einsamkeit. Wilhelm entwickelte die Angewohnheit, nachts durch die Gänge zu wandeln, während Johann Friedrich sich in obsessive Studien der Familiengeschichte vertiefte.
Magister Brem bemerkte diese Veränderungen bei seinen Schülern. Wilhelm war unaufmerksam und schreckhaft geworden. Johann Friedrich stellte merkwürdige Fragen über verstorbene Familienmitglieder und längst vergessene Ereignisse. Als der Hauslehrer dies vorsichtig beim Baron ansprach, wurde er schroff abgewiesen. Der Westturm selbst schien eine eigene Präsenz zu entwickeln.
An manchen Tagen wirkten die Fenster dunkler als gewöhnlich, als würde das Innere das Licht verschlucken. Das Personal miet die Nähe des Turms instinktiv. Selbst die Hunde der Familie, die normalerweise überall herumliefen, umgingen diesen Bereich vollständig. Wirtschafterin Camper verhielt sich immer seltsamer.
Sie entwickelte die Gewohnheit, leise vor sich hinzusummen. Einfache Kinderlieder, die sie scheinbar unbewusst wiederholte. Wenn man sie darauf ansprach, verstummte sie sofort und blickte verwirrt drein, als wüsste sie nicht, dass sie gesummt hatte. In den langen Winternächten schien das ganze Anwesen zu atmen. Die alten Balken knarrten in einem unregelmäßigen Rhythmus.
Türen schwangen in zugigen Gängen leise auf und zu und manchmal hörte man Schritte auf den Treppen, auch wenn alle Bewohner in ihren Zimmern waren. Es war in dieser Zeit, dass Müller eine weitere beunruhigende Entdeckung machte. Bei einer Routinekontrolle der Heizungsanlagen bemerkte er, dass der Westturm trotz der Kälte warm blieb. Es gab dort kein Heizsystem, keine Öfen, keine Kamine.
Dennoch bildete sich an den Fenstern kein Eis und wenn man die Hand an die Außenmauer legte, spürte man eine unerklärliche Wärme. Die Stille des Winters verstärkte alles. Jedes Geräusch, jeder Schatten, jede Veränderung wurde zu einem Ereignis. Das Anwesen Altenburg war zu einem Ort geworden, an dem die Vergangenheit näher schien als die Gegenwart und an dem jeder Tag neue Fragen aufwarf, die niemand zu beantworten wagte.
Was sich hinter der verschlossenen Tür des Westturms befand, blieb für die Öffentlichkeit ein Geheimnis. Doch aus verschiedenen Quellen, verstreuten Tagebuchfragmenten, Zeugenaussagen ehemaliger Bediensteter und den späteren Aufzeichnungen des Gemeindepfarrers lässt sich rekonstruieren, was sich in den Jahren zwischen 1860 und 1878 in dem abgeschlossenen Turmzimmer abgespielt haben könnte.
Das erste Fragment stammt aus dem persönlichen Tagebuch der Baronin Charlotte, ein vergilbtes Blatt, das Jahre später in einer geheimen Wandverkleidung gefunden wurde. Das Datum lautet 20. August 1860 Tage sind vergangen, seit Dr. Steinbach seine Diagnose stellte. Die kleine Margarete ist anders. Nicht krank im eigentlichen Sinne, aber ihre Entwicklung entspricht nicht dem, was für ein Kind ihres Alters normal wäre.
Sie spricht nicht, obwohl sie fast acht Monate alt ist. Ihre Augen, sie folgen allem, was sich bewegt, aber in ihr ist keine Erkennung. Dr. Steinbach sagt, es gebäbe Fälle, in denen Kinder mit solchen Besonderheiten geboren würden. Elisabeth Grund, die ehemalige Kammerfrau, die das Anwesen 1863 verließ und erst Jahre später vor einem Magistrat aussagte, berichtete, die Baronin ging zweimal täglich in den Turm, immer mit einem Tablett, immer allein, das Kind. Ja, ich hörte es manchmal. Es weinte nicht wie normale Säuglinge. Es war mehr eine wimmern, wie
ein junges Tier, das seine Mutter sucht. Dr. Steinbach, der Hausarzt der Familie, war ein respektierter Mediziner aus Plauen, der bereits den Baron in seiner Kindheit behandelt hatte. In einem Brief an einen Kollegen in Dresden, der 1889 in dessen Nachlass gefunden wurde, erwähnte er: “Der Fall von Altenburg beschäftigt mich noch immer.
Das Kind zeigte Anzeichen schwerer geistiger Beeinträchtigung, keine körperlichen Mßbildungen, aber die geistige Entwicklung war arrestiert. Die Familie bat um absolute Diskretion. In einer Gesellschaft wie der Unsrigen ist das Verständnis für solche Leiden begrenzt. Die Kammerfrau Grund erinnerte sich an weitere Details. Im Herbst wurde das Personal angewiesen, den Westturm vollständig zu meiden.
Wer sich nicht daran hielt, wurde ohne Referenzen entlassen. Die Köchin Bartsch bereitete täglich Brei und weiche Speisen zu, die verschwanden, ohne dass jemand offiziell davon aß. Die Baronin magerte ab, während das Personal sich fragte, wer diese zusätzlichen Portionen erhielt. Ein besonders verstörendes Detail geht aus den Aufzeichnungen des Hauslehrers Magister Brem hervor.
In seinem privaten Tagebuch, das erst bei der Auflösung seines Nachlasses gefunden wurde, schrieb er im November 18: “Die Söhne stellen beunruhigende Fragen. Wilhelm behauptet, aus dem Turm Geräusche zu hören, nicht das Weinen eines Säuglings, sondern etwas, das er anders beschreibt. Johann Friedrich ist obsessiert von der Idee, eine Schwester zu haben. Er fragt wiederholt, warum die Mutter so viel Zeit im Turm verbringt.
Ich rate ihnen zu schweigen, doch Kinder vergessen nicht so leicht. Der Winter 1866 markierte einen Wendepunkt. Elisabeth Grund berichtete, die Baronin wirkte zunehmend erschöpft. Sie schlief kaum noch.
Oft fand ich sie morgens auf einem Stuhl im Gang vor dem Turm sitzend, als hätte sie die ganze Nacht Wache gehalten. Dr. Steinbach kam häufiger, manchmal mehrmals in der Woche. Seine Besuche waren kurz und er sprach mit niemandem außer dem Baron und der Baronin. Ein Briefwechsel zwischen Dr. Steinbach und einem Kollegen in Leipzig, der sich mit besonderen Fällen beschäftigte, gibt weiteren Aufschluss. In einem Schreiben vom Februar 1860 erwähnte Steinbach: “Das Kind zeigt keine Fortschritte, die körperliche Entwicklung verläuft normal, aber geistig bleibt es auf dem Stand eines sehr jungen Säuglings. Die emotionale Belastung für die Eltern, besonders für die Mutter, ist erheblich. Ich habe eine
Lösung vorgeschlagen, die zwar unkonventionell ist, aber dem wohl aller dient. Was diese Lösung war, wird aus einem weiteren Fragment der Tagebucheinträge der Baronin deutlich. Ein Eintrag vom 28. Februar 1861 lautet: Dr. Steinbach hat uns eine Familie in Thüringen empfohlen.

Sie nehmen Kinder mit besonderen Bedürfnissen auf und sorgen für sie in einer angemessenen Umgebung. Es wäre das Beste für alle Beteiligten. Friedrich stimmt zu, obwohl es ihm schwer fällt: “Die Söhne sollen nichts erfahren.” Doch Elisabeth Grund berichtete von einem anderen Ereignis, das ihre Zweifel an dieser offiziellen Version nährte. In der Nacht vom zweiten März6 wurde ich von Geräuschen wach.
Es war sehr kalt und ich dachte zunächst, es käme vom Wind. Aber dann hörte ich die Baronen weinen, herzzerreißend, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Als ich aus meinem Fenster blickte, sah ich den Baron und Dr. Steinbach im Garten. Sie trugen etwas, etwas Kleines, in ein weißes Tuch gewickelt.
Sie gingen in Richtung des Familienfriedhofs. 18 Jahre waren seit den dunklen Ereignissen von 186 vergangen, als sich die Vergangenheit mit neuer Macht meldete. Es war Wilhelm von Altenburg, mittlerweile 35 Jahre alt und als erfolgreicher Anwalt in Dresden etabliert, der mit seiner jungen Frau Helene für einen längeren Besuch auf das Anwesen zurückkehrte.
Die Rückkehr war durch den nachlassenden Gesundheitszustand des Barons Friedrich motiviert, der sich zunehmend aus der Verwaltung seiner Güter zurückzog. Wilhelm hatte 1875 Helene Bergmann geheiratet, die Tochter eines wohlhabenden Textilfabrikanten aus Chemnitz. Helene war eine lebhafte, neugierige Frau von 24 Jahren, die kein Blatt vor den Mund nahm und die gedämpfte Atmosphäre des Anwesens sofort bemerkte.
Ihre unbeschwerte Art kontrastierte scharf mit der schwermütigen Stimmung, die über dem Haus lag wie eine unsichtbare Wolke. Bei ihrer Ankunft im Mai 1878 stellte Helene sofort Fragen, die die Familie seit Jahren vermieden hatte. “Warum ist der Westturm verschlossen?”, fragte sie bereits am zweiten Tag ihres Aufenthals. Die Architektur des Gebäudes legt nahe, dass dort ursprünglich Wohnräume geplant waren. Wilhelm versuchte ihre Neugier mit der üblichen Erklärung zu beschwichtigen.
Der Turm diene als Lagerraum für alte Möbel und sei strukturell nicht völlig sicher. Doch Helene ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Als ausgebildete Architektin, eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Qualifikation für eine Frau, erkannte sie, dass die Konstruktion des Turms solide war.
Die ersten Spannungen entstanden, als Helene bemerkte, dass bestimmte Bereiche des Anwesens systematisch gemieden wurden. Das Personal bewegte sich in festgelegten Mustern, die den Westturm umgingen. Wenn sie Fragen stellte, erhielt sie ausweichende Antworten oder wurde geschickt abgelenkt. Hausverwalter Müller, der seit der Entdeckung der radierten Stelle in den Familienarchiven eine zunehmende Unruhe verspürte, sah in Helenes Anwesenheit sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung.
Ihre direkten Fragen zwangen alle Bewohner des Anwesens, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sie jahrelang erfolgreich verdrängt hatten. Wirtschaft Camper reagierte besonders nervös auf Helenes Anwesenheit. Die sonst so beherrschte Frau begann Fehler zu machen.
Sie vergaß Anweisungen, verwechselte Termine und zeigte eine Gereiztheit, die dem Personal nicht entging. Besonders problematisch wurde es, wenn Helene nach der Familiengeschichte fragte oder alte Fotografien betrachten wollte. Eine Woche nach Helenes Ankunft ereignete sich der erste merkwürdige Vorfall.
Beim Frühstück erwähnte sie beiläufig, daß sie in der vergangenen Nacht Geräusche gehört habe, ein leises Klopfen, das aus Richtung des Westturms zu kommen schien. Die Reaktion der Familie war bemerkenswert. absolute Stille, gefolgt von hastig gemurmelten Erklärungen über alte Rohre und sich setzende Balken. Wilhelm wirkte zunehmend angespannt.
Er, der als Kind die geheimnisvollen Ereignisse miterlebt, aber nie verstanden hatte, spürte, wie die sorgfältig errichteten Mauern der Verdrängung zu bröckeln begannen. Seine Frau stellte Fragen, die er sich selbst nie zu stellen getraut hatte und ihre Anwesenheit zwang ihn, sich mit Erinnerungen auseinanderzusetzen, die er tief begraben geglaubt hatte.
Besonders beunruhigend war für Wilhelm die Erkenntnis, daß seine eigenen Erinnerungen an die Zeit um 1866 merkwürdig fragmentiert waren. Er erinnerte sich an eine Phase, in der seine Mutter oft abwesend gewesen war, an nächtliche Gespräche seiner Eltern, die abrupt verstummten, wenn er oder sein Bruder Johann Friedrich in der Nähe waren. Doch konkrete Details entklitten ihm, als würde sein Gedächtnis bewusst bestimmte Bereiche verschleiern.
Die Spannung erreichte einen ersten Höhepunkt, als Helene ankündigte, sie wolle das gesamte Anwesen vermessen und möglicherweise Renovierungsarbeiten vorschlagen. Ein Gebäude von dieser Bedeutung verdient es vollständig genutzt und erhalten zu werden, erklärte sie.
Besonders der Westturm könnte mit einigen Umbauarbeiten zu einem wunderschönen Wohnbereich werden. Baron Friedrich, der normalerweise höflich, aber bestimmt auf solche Vorschläge reagierte, verlor zum ersten Mal seit Jahren die Fassung. “Der Turm bleibt verschlossen”, sagte er mit einer Schärfe, die alle anwesenden erschreckte. “Es gibt Bereiche dieses Hauses, die nicht gestört werden dürfen. Das ist mein letztes Wort zu diesem Thema.
” In den folgenden Wochen entwickelte sich eine seltsame Routine der Vermeidung. und der heimlichen Beobachtung. Helene, deren Neugier durch die vehementen Reaktionen der Familie nur verstärkt wurde, begann ihre eigenen Nachforschungen anzustellen. Sie nutzte ihre Kenntnisse in Architektur und ihre natürliche Beobachtungsgabe, um die Geheimnisse des Anwesens zu entschlüsseln. Ihre erste bedeutende Entdeckung machte sie in der Bibliothek.
Während sie die Familienarchive studierte, offiziell, um die Geschichte des Anwesens für mögliche Renovierungen zu dokumentieren, stieß sie auf dieselbe Unstimmigkeit, die Hausverwalter Müller bereits aufgefallen war.
Die radierte Stelle in den Geburtsregistern war für jemanden mit ihrer Ausbildung noch deutlicher erkennbar. Mit Hilfe eines speziellen Verfahrens, das sie während ihres Studiums gelernt hatte, konnte sie Teile der getilkten Schrift sichtbar machen. Unter verschiedenen Lichtwinkeln und mit einer Lupe erkannte sie nicht nur die Buchstaben Mar, sondern auch weitere Fragmente, Grete geben 15.
Augs 1860 und am deutlichsten Geste 2. März 1860. Die Implikationen waren erschütternd. Nicht nur hatte es eine Tochter namens Margarete gegeben, sie war auch im Alter von nur knapp sieben Monaten gestorben. Doch warum war ihr Name so sorgfältig getilgt worden? Warum wurde ihr Tod verheimlicht? Helene konfrontierte Wilhelm mit ihrer Entdeckung, doch seine Reaktion war alles andere als hilfreich.
Er wirkte geschockt, verwirrte sich in Widersprüchen und behauptete schließlich, sich an keine Schwester erinnern zu können. “Vielleicht war es eine Todgeburt”, stammelte er. Solche Dinge werden oft nicht öffentlich gemacht.
Doch Elenes architektonische Ausbildung kam ihr auch bei der Untersuchung des Gebäudes selbst zugute. Sie bemerkte, dass der Westturm von innen beheizt werden musste. Die Wärme, die Müller schon beobachtet hatte, war kein Zufall. Eine sorgfältige Analyse der Raumaufteilung offenbarte, dass im Erdgeschoss des Turms ein versteckter Kaminzug verlief, der von den Hauptkaminen des Anwesens abzweigte.
mehr noch. Die Fenster des Turms waren nicht nur vernagelt worden, sondern dahinter befanden sich zusätzliche innen angebrachte Läden. Jemand hatte großen Aufwand betrieben, um sicherzustellen, dass weder Licht nach außen noch nach innen dringen konnte.
Bei einer ihrer nächtlichen Erkundungen, Wilhelm schlief unruhig und bemerkte ihre Abwesenheit nicht, entdeckte Helene etwas, das ihre schlimmsten Vermutungen bestätigte. Im Garten, etwa 50 Meter vom Westturm entfernt, fand sie einen kleinen Bereich, der sorgfältig gepflegt, aber nicht offiziell als Grab markiert war.
Der Boden war anders als in der Umgebung, weicher, dunkler und obwohl es Herbst war, wuchsen dort andere Pflanzen als anderswo. Als sie am nächsten Morgen diskret Wirtschafterin Camper nach diesem Bereich fragte, reagierte die Frau mit einem Ausbruch emotionaler Verzweiflung. Laassen Sie es ruhen”, flehte sie. “Was geschehen ist, ist geschehen. Es gibt keinen Grund, alte Wunden aufzureißen.
Das Kind, die kleine Margarete. Sie ist zur Ruhe gekommen. Bitte lassen Sie sie in Frieden.” Diese unbeabsichtigte Bestätigung war der Schlüssel, den Helene gebraucht hatte. Es hatte wirklich eine Tochter gegeben. Sie war wirklich gestorben und ihr Tod war verheimlicht worden. Aber warum? Und was war so schlimm an ihrem Tod, daß selbstzehn Jahre später noch alle Beteiligten in Angst lebten? Die Antwort begann sich zu formen, als Helene eine weitere Entdeckung machte. Bei der Untersuchung der Heizungsanlagen des
Haupthauses fand sie einen schmalen Gang, der zum Westturm führte. Er war so angelegt, dass er von außen nicht sichtbar war und ermöglichte es unbemerkt in den Turm zu gelangen. Der Gang war staubig, aber nicht völlig unbenutzt. Jemand war hier in den letzten Jahren regelmäßig entlang gegangen.
An einer Stelle fandelene etwas, das ihr Blut gefrieren ließ. Kleine weiße Knochen, zu klein für ein Tier, zu regelmäßig geformt, um natürlichen Ursprungs zu sein. Als sie diese Entdeckung Wilhelm mitteilte, brach er zusammen. Die jahrelang aufgestaute Spannung, die verdrängten Erinnerungen, die Angst vor der Wahrheit. Alles kam in einem einzigen Moment heraus.
“Sie wissen es nicht”, stammelte er. Sie wissen nicht, was sie getan haben, was wir alle getan haben. Margarete. Sie war nicht, sie war anders. Und als sie starb, als sie starb, war es eine Erlösung für alle. Die Wahrheit, die Wilhelm in seinem emotionalen Zusammenbruch zu enthüllen begann, war fragmentiert und von 18 Jahren der Verdrängung gezeichnet.
Helene, die erkannt hatte, daß sie an der Schwelle zu etwas Unaussprechlichem stand, drängte ihren Mann behutsam, aber bestimmt die vollständige Geschichte zu erzählen. Wilhelm berichtete von Erinnerungen, die er als Kind nicht verstanden, aber nie vergessen hatte. Margarete war nicht wie andere Babys, flüsterte er mit brüchiger Stimme. Sie entwickelte sich nicht normal.
Mit sechs Monaten konnte sie weder sitzen noch den Kopf heben. Sie reagierte nicht auf Stimmen, nicht auf Berührungen. Dr. Steinbach sagte, ihr Gehirn sei unvollständig entwickelt. Die Familie hatte zunächst gehofft, dass sich das Kind noch entwickeln würde, doch die Monate vergingen. Und Margarete zeigte keine Fortschritte. Sie wuchs fuhr Wilhelm fort, aber nur körperlich.
Ihr Geist blieb der eines Neugeborenen. Mit sieben Monaten war sie so groß wie ein einjähriges Kind, aber sie erkannte niemanden. Sie aß nur Brei, konnte nicht sprechen, nicht lachen, nicht weinen wie andere Kinder. Dr. Steinbach hatte der Familie verschiedene Optionen vorgeschlagen.
Es gab Anstalten in Dresden und Leipzig, die sich auf die Betreuung solcher Kinder spezialisiert hatten. Doch für eine Familie von adligem Stand war diese Option praktisch undenkbar. Der Skandal, ein defektes Kind zu haben, hätte ihre gesellschaftliche Stellung vernichtet. Mutter verbrachte Tag und Nacht bei ihr, erzählte Wilhelm weiter. Sie fütterte sie, wickelte sie, sprach mit ihr, als könnte Margarete sie verstehen.
Vater sagte, es sei sinnlos, aber Mutter weigerte sich zu akzeptieren, dass Margarete niemals ein normales Leben führen würde. Der entscheidende Wendepunkt kam im Herbst 1860, als Dr. Steinbach eine radikale Lösung vorschlug. Er sprach von Fällen in anderen adeligen Familien, berichtete Wilhelm mit zitternder Stimme.
Familien, die ähnliche Herausforderungen gehabt und diskrete Lösungen gefunden hatten. Er bot an, der Familie zu helfen, aber es müsse absolut geheim bleiben. Die Lösung war entsetzlich in ihrer kalkulierten Grausamkeit. Margarete würde offiziell sterben. Dr. Steinbach würde einen Totenschein ausstellen und bei den kirchlichen Behörden den Tod des Kindes melden.
Gleichzeitig würde Margarete in den Westturm verlegt werden, wo sie heimlich weiterleben würde. Betreut nur von der Mutter und unter absoluter Geheimhaltung. “Ich erinnere mich an den Tag der falschen Beerdigung”, flüsterte Wilhelm. Ein kleiner Sarg wurde auf dem Familienfriedhof begraben, leer.
Während die Gemeinde trauerte, lebte Margarete bereits im Turm. Doch die Geschichte wurde noch verstörender. Helene erkannte aus Wilhelms stockender Erzählung, dass das System perfektioniert worden war. Dr. Steinbach hatte so etwas schon früher getan, fragte sie. Wilhelm nickte zögernd.
Er erzählte von anderen Familien, von Kindern, die verschwunden waren, ohne Fragen zu verursachen. Er hatte Erfahrung in solchen Angelegenheiten. Das wahre Ausmaß der Verschwörung begann sich abzuzeichnen. Dr. Steinbach hatte offenbar ein Netzwerk aufgebaut, in dem unerwünschte Kinder gegen Bezahlung diskret entfernt wurden. Margaretes Fall war nicht einzigartig. Er war Teil eines systematischen Geschäfts mit menschlichem Leid.
Wie lange lebte sie im Turm? fragte Helene mit schwacher Stimme. Über zwei Jahre, antwortete Wilhelm, von August 1860 bis März 18. Mutter ging jeden Tag zu ihr, manchmal mehrmals. Sie brachte Essen, wechselte die Kleidung, las ihr vor, aber Margarete, sie reagierte nie.
Sie wuchs weiter, wurde größer und schwerer, aber sie blieb abwesend. Die tägliche Routine hatte die ganze Familie belastet. Baron inin Charlotte maggerte ab, wurde zunehmend zurückgezogen und nervös. Der Baron distanzierte sich emotional von der Situation, überließ die Betreuung vollständig seiner Frau und kümmerte sich nur um die Aufrechterhaltung des Geheimnisses. Das Personal wusste Bescheid, fuhr Wilhelm fort.
Nicht alles, aber sie ahnten, dass etwas nicht stimmte. Die zusätzlichen Mahlzeiten, die Baronins häufige Abwesenheiten, die strengen Anweisungen, den Westturm zu meiden. Wirtschafterin Camper half manchmal heimlich. Der Winter, 1862 ran 60 war besonders hart gewesen.
Die Heizung des Turms erwies sich als unzureichend und trotz aller Bemühungen erkrankte Margarete an einer schweren Lungenentzündung. Dr. Steinbach kam, aber er konnte nichts tun oder wollte nichts tun. Margarete starb am zweiten März 1863. Wirklich starb diesmal. Sie war zweieinhalb Jahre alt. Die zweite echte Beerdigung fand im Geheimen statt. Wir begrubben sie nachts im Garten. Gestand Wilhelm unter Tränen.
Keine Zeremonie, kein Pfarrer, kein Grabstein, nur ein kleines Grab zwischen den Rosenbüschen. Doch hier hörte die Geschichte nicht auf. Wilhelm berichtete von etwas, das ihn seit 15 Jahren verfolgte. Nach ihrem Tod dachten wir, es wäre vorbei. Der Turm wurde versiegelt. Die Familie versuchte zur Normalität zurückzukehren.
Aber etwa ein Jahr später begannen wieder Geräusche. Die Familie hatte beschlossen, diese Geräusche zu ignorieren. Vater sagte, es seien alte Rohre oder Nagetiere. Mutter sagte gar nichts. Aber wir alle hörten es. Das leise Klopfen, das Kratzen, manchmal etwas, das wie Weinen klang. Elen spürte, wie sich ihr eine schreckliche Vermutung aufdrängte.
Wilhelm, sagte sie vorsichtig, was wenn Margarete nicht die einzige war. Wilhelms Gesicht wurde aschfahl. Das ist es, was ich befürchte, flüsterte er. Dr. Steinbach kam auch nach Margaretes Tod regelmäßig vorbei. Er sprach von anderen Fällen, von zusätzlichen Vorkehrungen, was wenn der Turm nie wirklich leer war.
In dieser Nacht konnte niemand im Anwesen Altenburg schlafen. Die Enthüllungen hatten eine Atmosphäre der Angst und des Entsetzens geschaffen, die durch die alten Mauern zu Krieichen schien. Und aus dem Westturm, wie um die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, kamen wieder die Geräusche, lauter und beharrlicher als je zuvor.
Die Nacht nach Wilhelms Geständnis war von einer unerträglichen Spannung geprägt. Helene lag wach in ihrem Bett und lauschte den Geräuschen aus dem Westturm, die nun eine neue verstörende Bedeutung bekommen hatten. Das rhythmische Klopfen, das sie früher für Nagetiere oder sich setzende Balken gehalten hatte, klang plötzlich unheimlich menschlich.
Am nächsten Morgen konfrontierte sie Wirtschafterin Camper direkt mit dem, was sie erfahren hatte. Die ältere Frau, die offensichtlich mit einer solchen Konfrontation gerechnet hatte, brach sofort zusammen. “Ich wusste, daß dieser Tag kommen würde”, schluchzte Camper. “Seit 18 Jahren trage ich diese Last. Margarete war nicht die erste und sie war nicht die letzte.
Campers Geständnis offenbarte das wahre Ausmaß der Verschwörung. Dr. Steinbach hatte das Anwesen Altenburg als eine Art Depot für problematische Fälle genutzt. Zwischen 1858 und 1875 waren mindestens sieben Kinder durch das System geschleust worden. Manche nur vorübergehend, andere dauerhaft. Es begann mit Ernst, berichtete Camper mit zitternder Stimme, 1858, 2 Jahre vor Margarete.
Er war der uneherliche Sohn einer Kaufmannstochter aus Dresden. Die Familie konnte den Skandal nicht verkraften, also brachte Dr. Steinbach ihn hierher. Ernst war anders als Margarete gewesen, geistig, völlig normal, aber gesellschaftlich unerwünscht. Er war se Jahre alt, als er kam. ein aufgeweckter, freundlicher Junge.
Wir sagten ihm, er sei zu Besuch, daß seine Tante Charlotte sich um ihn kümmern würde, bis seine Eltern ihn holen könnten. Der Junge hatte fast vier Jahre im Westturm gelebt, betreut von einer Rotation aus Bediensteten, die zum Schweigen verpflichtet worden waren. Er durfte nie das Haus verlassen, aber er konnte lesen und schreiben. Die Baronin brachte ihm Bücher. Er malte auch gern. Wunderschöne kleine Bilder von der Welt draußen, die er nur durch die Fenster sehen konnte.
Ernst war 182 gestorben, nicht an Krankheit, sondern an einem Unfall. Er versuchte zu fliehen, berichtete Camper. Er kletterte aus einem Fenster im zweiten Stock des Turms, der Absturz war. Es ging sehr schnell. Die Familie hatte Ernst Tod als Unfall behandelt, aber Camper hatte andere Verdächtigungen. Dr.
Steinbach war an dem Tag da. Es gab Streit zwischen ihm und dem Baron. etwas über Kosten und dauerhafte Lösungen. Am nächsten Morgen war Ernst tot. Nach Ernst kamen andere. Margarete kannte Ernst nie. Er starb, bevor sie in den Turm kam. Aber sein Geist, es war, als hätte er Spuren hinterlassen. Die Baronin sprach manchmal mit beiden, als wären sie noch da.
Das verstörendste Detail kam als nächstes. Nach Margaretes Tod 1863 dachten wir, es sei vorbei. Aber Dr. Steinbach brachte andere, Kinder, die nur für Wochen oder Monate blieben, bevor sie woanders hingebracht wurden. Campper berichtete von mindestens drei weiteren Kindern, die zwischen 1864 und 1870 vorübergehend im Turm untergebracht worden waren.
Meist waren es Kleinkinder, Babys, die noch nicht sprechen konnten. Dr. Steinbach nannte es Zwischenlagerung, als wären es Gegenstände. Das System hatte sich zu einem grotesken Geschäft entwickelt. Wohlhabende Familien zahlten Dr. Steinbach für die diskrete Entfernung unerwünschter Kinder.
Das Anwesen Altenburg war nur eine Station in einem Netzwerk, das sich über mehrere sächsische Landkreise erstreckte. Die letzten kamen berichtete Camper. Zwillinge etwa zwei Jahre alt. Ein Herr aus Leipzig brachte sie nachts. Sie blieben nur zwei Wochen, dann wurden sie weggebracht. Wohin weiß ich nicht. Der Grund für das Ende der Aktivitäten war Dr. Steinbachs Tod im Jahr 1876.
Mit seinem Tod brach das ganze System zusammen, aber der Turm, er war nie wirklich leer. Es war als hätten alle diese Kinder etwas zurückgelassen. Helene erkannte, dass die Geräusche aus dem Westturm nicht übernatürlich waren, sondern sehr reale Spuren der Vergangenheit. Es gibt dort oben noch immer Räume, die nie richtig gesäubert wurden, sagte Camper.
Spielsachen, Kleidung, persönliche Gegenstände. Manchmal, wenn der Wind durch die alten Ritzen pfeift, bewegen sich die Dinge. Doch das erklärte nicht alles. Baron Friedrich, als er schließlich mit den Enthüllungen konfrontiert wurde, reagierte nicht mit Überraschung oder Scham, sondern mit kalter Wut.
Sie verstehen nicht, was auf dem Spiel stand”, sagte er zu Helene mit eisiger Stimme. “Diese Kinder waren bereits verloren. Verloren für ihre Familien, verloren für die Gesellschaft. Wir haben ihnen wenigstens ein Dach über dem Kopf gegeben.” Seine Rechtfertigung offenbarte eine erschreckende Mentalität. Dr. Steinbach hat einen Dienst erbracht.
Er hat Familien vor dem Ruinen bewahrt und gleichzeitig diesen unglücklichen Kindern Fürsorge gegeben. Was wäre die Alternative gewesen? Weisenhäuser, Irre Anstalten, ein Leben auf der Straße? Helene erkannte, dass sie einem Mann gegenüber stand, der menschliches Leid als notwendige Kosten gesellschaftlicher Ordnung betrachtete. “Und wo sind Sie jetzt?”, fragte sie.
“Wo sind die Kinder, die überlebt haben?” Baron Friedrichs Schweigen war Antwort genug. Die meisten der Kinder, die durch das System gegangen waren, hatten es nicht überlebt. Diejenigen, die alt genug geworden waren, um Fragen zu stellen oder zu fliehen, waren auf andere Weise zum Schweigen gebracht worden. “Der Westturm”, sagte der Baron schließlich, “stusolleum, ein Ort der Erinnerung an die Opfer, die für das Wohl der Gesellschaft gebracht werden mussten. In dieser Nacht verließ Wirtschaftin Camper das Anwesen
Altenburg für immer. Sie packte ihre wenigen Harbseligkeiten und verschwand vor Tagesanbruch. Hinterließ nur einen kurzen Brief. Ich kann nicht mehr schweigen, aber ich kann auch nicht sprechen. Möge Gott den Seelen Frieden schenken, die in diesem Haus gelitten haben.
Die Enthüllungen über Doktor Steinbach System zwangen die Familie von Altenburg zu einer endgültigen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Helene, erschüttert von dem Ausmaß der Verbrechen, sah sich vor die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Sollte sie schweigen und damit Kompliz hin werden? Oder sollte sie die Wahrheit ans Licht bringen und die Familie zerstören? Wilhelm, zerrissen zwischen seiner Loyalität zur Familie und seinem Entsetzen über die entdeckten Wahrheiten, verfiel in eine tiefe Verzweiflung.
Die Erkenntnis, daß er als Kind unwissender Zeuge systematischer Verbrechen gewesen war, ließ ihn an seinem eigenen moralischen Fundament zweifeln. Seine Anwaltspraxis in Dresden konnte er nicht mehr nachgehen. Die Vorstellung recht zu sprechen, während er gleichzeitig an der Vertuschung von Verbrechen beteiligt war, war unerträglich.
Baron Friedrich, konfrontiert mit der Möglichkeit einer öffentlichen Enthüllung, begann verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen. Er kontaktierte ehemalige Geschäftspartner Dr. Steinbachs und versuchte alle verbliebenen Spuren des Systems zu beseitigen. Dokumente wurden verbrannt, Zeugen unter Druck gesetzt, Geld für das Schweigen geboten. Doch es war zu spät. Helens Nachforschungen hatten bereits zu viel ans Licht gebracht.
Als sie begann ehemalige Bedienstete des Anwesens ausfindig zu machen, stieß sie auf eine Spur, die alle bisherigen Enthüllungen in den Schatten stellte. Elisabeth Grund, die ehemalige Kammerfrau, die 1863 das Anwesen verlassen hatte, lebte mittlerweile in einem kleinen Dorf bei Chemnitz.
Als Helene sie aufspürte und konfrontierte, brach die alte Frau zusammen und erzählte eine Geschichte, die selbst Helene nicht hatte antizipieren können. “Es gab einen Überlebenden”, flüsterte Grund mit brüchiger Stimme, “Ein Kind, das entkam. se Jahre nach Margaretes Tod war ein Junge namens Thomas zum Anwesen gebracht worden.
Anders als die anderen war Thomas bereits 10 Jahre alt und hatte die Fähigkeit entwickelt, die Schwächen des Systems zu erkennen. Er war klug, berichtete Grund, zu klug für sein eigenes Wohl. Er verstand, was mit den anderen Kindern geschehen war und er plante seine Flucht sorgfältig. Thomas war im Sommer geflohen während einer chaotischen Phase, in der gleichzeitig zwei andere Kinder im Turm untergebracht waren.
In der Verwirrung war sein Verschwinden zunächst unbemerkt geblieben. Dr. Steinbach war außer sich, erinnerte sich Grund. Er organisierte eine heimliche Suche, aber der Junge war verschwunden. Steinbach befürchtete, Thomas könnte reden. Die Suche nach dem gefloorenen Jungen hatte sich über Monate hingezogen. Dr.
Steinbach hatte seine Kontakte in Dresden und Leipzig genutzt, um Thomas aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Schließlich hatte er die Suche aufgegeben und gehofft, daß ein zehnjähriger Junge ohne Papiere oder Familie auf der Straße nicht lange überleben würde. Aber er hat überlebt, sagte Grund, und er ist erwachsen geworden. Helenes Blut gefror in den Adern.
Woher wissen Sie das? Weil er vor 3 Jahren hier war. 1875. Er ist zurückgekommen. Thomas Lehmann, wie er sich mittlerweile nannte, war als erwachsener Mann von 26 Jahren zum Anwesen Altenburg zurückgekehrt. Er hatte sich als Handelsreisender ausgegeben und eine Führung durch das Anwesen erbeten, angeblich, weil er sich für historische Architektur interessierte. “Ich erkannte ihn sofort”, berichtete Grund.
“Die Augen vergisst man nicht.” Er fragte nach dem Westturm, gab vor, die Bauweise zu studieren, aber ich wußte, warum er wirklich da war. Thomas hatte offensichtlich Informationen gesammelt. Er hatte diskret andere Überlebende des Systems aufgespürt und Beweise für Dr. Steinbachs Verbrechen zusammengetragen. Sein Ziel war es, das gesamte Netzwerk zu enthüllen.
Er sagte mir, er werde Gerechtigkeit bringen, berichtete Grund. Für alle Kinder, die gelitten hatten, für die, die gestorben waren und für die, die überlebt hatten. Doch dann war Dr. Steinbach 186 gestorben und mit seinem Tod war Thomas Möglichkeit für eine vollständige Aufklärung verschwunden. Ohne den Hauptäter waren die Beweise schwer zu vervollständigen.
“Er ist immer noch da draußen”, sagte Grund, “Irgendwo. Er wartet auf den richtigen Moment.” Diese Enthüllung veränderte alles. Helene erkannte, dass sie nicht die einzige war, die nach Gerechtigkeit suchte. Irgendwo lebte ein Mann, der als Kind das System überlebt hatte und nun als Erwachsener die Macht besaß, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die Frage war, würde er es tun und was würde geschehen, wenn die volle Wahrheit über Dr. Steinbachs System bekannt wurde? Baron Friedrich, als er von der Existenz des Überlebenden erfuhr, wurde von panischer Angst erfasst. Er wußte, daß Thomas Lehmann nicht nur ein Zeuge war, sondern auch ein Opfer mit einem starken Motiv für Vergeltung. “Wir müssen ihn finden”, sagte der Baron zu Wilhelm, bevor er uns findet.
Doch es war bereits zu spät. An einem nebligen Novembermgen des Jahres 1878 erschien ein Mann am Tor des Anwesens Altenburg. Er nannte sich Thomas Lehmann und bat um ein Gespräch mit der Familie von Altenburg. Der Kreis begann sich zu schließen. Thomas Lehmann stand vor der Tür des Anwesens Altenburg wie ein Gespenst aus der Vergangenheit.
Die 8 Jahre auf der Flucht und im Versteck hatten aus dem Zehnjährigen Jungen einen ernsten entschlossenen Mann gemacht. Seine Kleidung war einfach, aber sauber, seine Haltung ruhig, aber seine Augen brannten mit einer Intensität, die jeden Betrachter unruhig werden ließ. Baron Friedrich empfing ihn im Salon, flankiert von Wilhelm und Helene.
Die Spannung im Raum war greifbar. Der Baron versuchte Autorität auszustrahlen, aber seine Hände zitterten unmerklich. “Herr Lehmann”, begann der Baron mit gepresster Stimme. “Ich verstehe. Sie haben Fragen bezüglich alter Geschäftsbeziehungen mit dem verstorbenen Dr. Steinbach.” Thomas lächelte bitter. Geschäftsbeziehungen.
Eine interessante Umschreibung für das, was hier geschehen ist. Er hatte eine Ledertasche mitgebracht, die er nun öffnete. Zum Vorschein kamen Dokumente, Fotografien und handschriftliche Aufzeichnungen, die Früchte jahrelanger geduldiger Nachforschungen. Ich habe die letzten 8 Jahre damit verbracht, die Wahrheit über Dr.
Steinbachs System zu dokumentieren, sagte Thomas ruhig. Ich habe andere Überlebende gefunden. Ich habe Zeugen befragt. Ich habe Beweise gesammelt. Er breitete eine Karte auf dem Tisch aus, auf der rote Markierungen verschiedene Orte in Sachsen kennzeichneten.
Siebzehn Anwesen, Baron von Altenburg, 17 Orte, an denen unerwünschte Kinder versteckt, misshandelt oder getötet wurden. Ihr Anwesen war nur einer davon, aber er war der wichtigste. Thomas berichtete methodisch von seinen Entdeckungen. Das System hatte weitaus größere Ausmaße gehabt, als selbst Helene vermutet hatte. Dr. Steinbach hatte mit einem Netzwerk aus Ärzten, Anwälten und Adligen zusammengearbeitet, um ein perfektes System zur Beseitigung gesellschaftlicher Probleme zu schaffen.
Zwischen 1855 und 1876, sagte Thomas mit monotoner Stimme, sind mindestens 127 Kinder durch dieses System gegangen. Die meisten überlebten nicht das erste Jahr. Er legte Fotografien auf den Tisch, unscharfe, verstörende Bilder von ausgemergärgelten Kindern, überfüllten Räumen, improvisierten Gräbern. Das hier ist das wahre Gesicht ihres Wohltätigkeitssystems.
Baron Friedrich versuchte zu protestieren. Diese Kinder waren bereits verloren. Ihre Familien hatten sie aufgegeben. Wir haben ihnen wenigstens. Sie haben ihnen den Tod gebracht, unterbrach Thomas eisig. Langsam, qualvoll und in völliger Isolation. Thomas Bericht über sein eigenes Schicksal war erschütternd.
Als uneherlicher Sohn eines Dresdenner Bankiers war er mit 10 Jahren zu Dr. Steinbach gebracht worden. Mein Vater zahlte 100 Reichstaler für meine dauerhafte Unterbringung. Er wollte mich nie wiedersehen. Die Zeit im Westturm war für Thomas ein Überlebenskampf gewesen. Ich war älter als die anderen, klüger. Ich hörte die Gespräche der Erwachsenen.
Ich sah, was mit den jüngeren Kindern geschah. Ich erkannte, dass ich nur überleben würde, wenn ich fliehe. Seine Flucht im Sommer 1870 war sorgfältig geplant gewesen. Ich kannte jeden Winkel des Turms, jede Schwachstelle in der Überwachung. Als Dr. Steinbach zwei neue Kinder brachte, nutzte ich die Verwirrung. Die Jahre nach seiner Flucht waren hart gewesen.
Ich lebte auf der Straße, bettelte, Stahl, aber ich überlebte. und ich sammelte Informationen. Ich fand andere, die entkommen waren. Ich dokumentierte alles. Thomas hatte methodisch das gesamte Netzwerk kartografiert.
Er hatte Kontakte zu Journalisten und Ermittlern aufgebaut, hatte Beweise gesammelt und Zeugen vorbereitet. Der Tod Dr. Steinbachs hatte seine Pläne verzögert, aber nicht gestoppt. “Warum sind Sie hier?”, fragte Wilhelm mit schwacher Stimme. “Was wollen Sie von uns?” Thomas blickte ihn direkt an. Ich will Gerechtigkeit für Margarete, für Ernst, für alle anderen und ich will, daß die Wahrheit erzählt wird.
Er legte ein dickes Manuskript auf den Tisch. Ich habe ein Buch geschrieben. Die vollständige Geschichte von Dr. Steinbach System. Namen, Orte, Daten. Alles dokumentiert und durch Zeugenaussagen belegt. Baron Friedrich wurde Aschfahl. Sie können das nicht veröffentlichen.
Es würde es würde Gerechtigkeit bringen, sagte Thomas ruhig, und es würde verhindern, dass so etwas jemals wieder geschieht. Thomas hatte jedoch nicht vor, einfach alles zu veröffentlichen. “Ich biete Ihnen eine Wahl”, sagte er. “Gestehen Sie öffentlich Ihre Rolle in diesem System. Helfen Sie dabei, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sorgen Sie dafür, dass die Überlebenden entschädigt werden.
Dann wird Ihre Familie in meinem Buch als Mitwirkende bei der Aufklärung erwähnt, nicht nur als Täter. Die Alternative war klar. Komplette Bloßstellung und gesellschaftliche Vernichtung. Helen, die während der gesamten Konfrontation schweigend zugehört hatte, ergriff das Wort: “Was ist mit dem Westturm? Was geschieht mit diesem Ort?” Thomas blickte in Richtung des Turms, den er durch das Fenster sehen konnte.
Der Turm sollte ein Denkmal werden, ein Ort der Erinnerung. Die Öffentlichkeit soll erfahren, was hier geschehen ist. Baron Friedrich, gebrochen von der Aussicht auf die vollständige Enthüllung seiner Komplizenschaft, erlitt in dieser Nacht einen Schlaganfall. Er starb drei Tage später, ohne das Bewusstsein wiederlangt zu haben.
Wilhelm, konfrontiert mit der Wahl zwischen Flucht und Konfrontation, entschied sich für die Wahrheit. Ich werde bei der Aufklärung helfen”, sagte er zu Thomas. “Es ist das mindeste, was ich tun kann.” Thomas Buch wurde veröffentlicht und löste einen der größten Skandale des 19. Jahrhunderts aus.
Die versteckten Kinder, ein System des organisierten Kindesmissbrauchs in Sachsen, führte zu Untersuchungen, Verhaftungen und grundlegenden Reformen im Umgang mit schwierigen Familiensituationen. Helene widmete ihr Leben der Unterstützung der Überlebenden. Sie gründete eine Stiftung, die sich um die medizinische und psychologische Betreuung traumatisierter Kinder kümmerte.
Der Westturm des Anwesens Altenburg wurde 186 als erstes Denkmal für Opfer von Kindesmißbrauch in Deutschland eingeweiht. Eine einfache Inschrift erinnert an das Leid, den vergessenen Kindern zum Gedenken, Margarete, Ernst und allen anderen, deren Namen wir nie erfahren werden. Thomas Lehmann wurde zu einem der ersten Aktivisten für Kinderrechte in Deutschland.
Seine Arbeit führte zur Gründung von Kontrollorganen und gesetzlichen Bestimmungen, die ähnliche Systeme in Zukunft verhindern sollten. Das Anwesen selbst stand jahrelang leer, bevor es 1890 in ein Kinderheim umgewandelt wurde. Ironie des Schicksals. Der Ort, an dem Kinder versteckt und gequält worden waren, wurde zu einem Ort der Heilung und Hoffnung. Heute fast anderthalb Jahrhunderte später erinnert eine kleine Gedenkstätte an die dunkle Geschichte des Ortes.
Besucher berichten noch immer von einer bedrückenden Atmosphäre in bestimmten Räumen, von dem Gefühl beobachtet zu werden, von einem Schweigen, das schwerer wiegt als Worte. Thomas Lehmann starb 1923 im Alter von 64 Jahren. Seine letzten Worte, überliefert von einem Freund, lauteten: “Die Kinder können endlich ruhen. Die Wahrheit hat sie befreit.
” Die Geschichte der vergessenen Tochter von 1878 und des Systems, das sie verschlang, wurde zu einer Mahnung, einer Erinnerung daran, welche Verbrechen im Namen des gesellschaftlichen Ansehens begangen werden können und daran, wie wichtig es ist, auch die unbequemsten Wahrheiten ans Licht zu bringen.
Manche Geheimnisse, so lernte die Welt aus dieser Geschichte, werden nur durch Mut und Beharlichkeit überwunden. Und manche Stimmen, selbst die leisesten, verdienen es gehört zu werden, auch wenn sie aus den dunkelsten Ecken der Vergangenheit kommen.
Die Echos von Altenburg Hallen noch heute nach nicht als Gespenster der Toten, sondern als Stimmen der Gerechtigkeit, die niemals verstummen dürfen.