
Er hat uns eingesperrt, geschlagen, wochenlang kein Licht, kein Wasser. Sie erzählte von Ken, die einst fröhlich gewesen war, gern sang, immer die Jüngeren tröstete, bis der Vater sie erwischte, als sie zu fliehen versuchte. Kamen war nie wieder dieselbe gewesen von Margarete, die immer die stärkste gewesen war, die Bilder an die Wände gemalt hatte, verzweifelte Versuche, die Realität festzuhalten.
Von Liselotte und Grätchen, den Jüngsten, die am wenigsten verstanden hatten, aber am meisten litten. Und dann erzählte Anna mit brüchiger Stimme von Patrizia Hermann, der mutigen Wäscherin, die versucht hatte zu helfen. Friedrich hatte sie gesehen, hatte sie nachts abgefangen, hatte sie drei Tage im Stall gefangen gehalten und dann er hat sie in der Heide verschart, flüsterte Anna. Er hat ihre Stimme brach endgültig.
Schwester Magdalena hielt sie, bis der Körper der jungen Frau von krampfartigen Schluchzern erschüttert wurde. Am nächsten Morgen begann die offizielle Untersuchung. Ein junger Staatsanwalt aus Hamburg, Arthur Dingemann, reiste an. Systematisch unermüdlich befragte er jede Person, untersuchte jede Knochenprobe, jedes Blatt aus dem Notizbuch.
Die Dorfbewohner halfen, so gut sie konnten, doch viele waren am Rand ihrer Kräfte. Die Leichen der Schwestern identifizierte Dr. Quirin anhand kleiner Merkmale. Eine Narbe am Knie, ein abgebrochener Zahn, die Größe der Knochen. Die Neugeborenen konnten nicht einzeln bestimmt werden. Sie waren zu zerstört. Patrizia blieb verschwunden.
Die Hoffnung, ihren Körper zu finden, schwand mit jedem Tag. Doch die Suche nach Friedrich Steinbrecher lief weiter und sie sollte bald eine neue Wendung nehmen. Der Name Friedrich Steinbrecher verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Norddeutschland. In den Zeitungen von Hamburg, Bremen, Hannover tauchten seine Beschreibung und ein grobkörniges Passbild auf.
Ein großer Mann, breitschultrig, mit hartem Blick und grauem Bart, der selbst auf vergilbtem Papier eine unheimliche Präsenz zeigte. Der Fall wurde zum Gesprächsthema in Zügen, Gasthäusern und Kirchhöfen. Viele konnten nicht glauben, daß ein solches Grauen inmitten der friedlichen Heide stattgefunden hatte.
Dort, wo Schafherden weideten und der Wind so harmlos durch die Birken wehte. Doch die Berichte aus Eichenmoor ließen keinen Zweifel. Die Behörden intensivierten die Suche. Jeder Förster, jeder Heidebauer, jeder Streckenarbeiter an den Bahnlinien erhielt eine Beschreibung des Mannes. Ein Kopfgeld wurde ausgesetzt. In jenen Tagen gingen Fremde selten unbemerkt durch die Region und doch blieb Steinbrecher wie vom Erdboden verschluckt.
Währenddessen erholte sich Anna, so gut es ein Mensch nach einem solchen Trauma kann. Die Schwestern des Klosters bemühten sich ihr einen Alltag zu geben, der berechenbar, sanft und frei von Angst war. Sie erhielt eine kleine Kammer mit Blick auf einen Garten, in dem Kräuter und Heidekraut wuchsen. Stundenlang saß sie dort, nähte oder half den Nonnen in der Küche. Der regelmäßige Klang der Glocken schien ihr Halt zu geben, doch nachts quälten sie Träume. Oft hörte man Schreie, die abrupt abbrachen.
Schwester Magdalena eilte dann zu ihr, setzte sich ans Bett und hielt Annas Hände, bis die Panik veräppte. Manchmal schlief Anna erschöpft in ihren Armen ein. Im Dorf Eichenmo kämpfte man ebenfalls mit den Folgen. Pfahrer Emil verfiel in tiefe Depression. Er war überzeugt, er hätte früher eingreifen müssen.
Er erinnerte sich an Patrizias Erzählung, an Annas flüchtigen Blick vor Jahren, an das beklemmende Gefühl, das Steinbrecher immer ausgelöst hatte. Seine Schuldgefühle nagten so sehr an ihm, dass er sich immer häufiger im Fahrhaus einschloss und trank. zuerst Obstbrand, später alles, was er finden konnte. Eines Abends fand man ihn bewußtlos an seinem Altar, eine leere Flasche neben sich.
Der Bischof wurde benachrichtigt und ordnete an, Fahrer Emil in ein abgelegenes Kloster zur Genesung zu schicken. Manche in Eichenmo waren wütend auf ihn, andere littten mit ihm, doch niemand sprach öffentlich darüber. Für sie war die ganze Angelegenheit ein offener brennender Riss im Herz des Dorfes. Wochen vergingen. Der Staatsanwalt Arthur Dingemann arbeitete unermüdlich weiter.
Er sammelte Beweise, führte Gespräche, sichtete Protokolle. Die Knochenreste wurden in Holzkisten in die Stadt gebracht, um sie ordnungsgemäß zu untersuchen. In langen Nächten schrieb Dingemann Berichte bei schwachem Lampenlicht, die Fenster des Rathauses beschlagen vom Atem des Winters. Während all dieser Zeit wartete man auf eine Spur von Steinbrecher. Sie kam schließlich im September 1927.
Ein Gutsbesitzer in der Nähe von Soltau meldete, ein Mann, der Beschreibung auffallend ähnelte. habe auf seinem Hof nach Arbeit gefragt. Er behauptete, er sei ein erfahrener Viehirte. Der Gutsbesitzer hatte die Verhandlungsplakate gesehen und vorsichtig Zustimmung vorgespielt, während er heimlich den Dorfanden benachrichtigte. Eine Einheit der Landpolizei wurde sofort losgeschickt.
Zwei Tage ritten sie durch Wälder über Heideflächen. Doch als sie ankam, war der Mann verschwunden. Arbeiter auf dem Gut berichteten, er habe sich sichtlich unruhig verhalten, nachdem er Uniformen am Horizont wahrgenommen hatte. Er sei in aller Hast in den Wald geflohen und habe ein Pferd gestohlen. Die Verfolgung war mühsam.
Der Wald zwischen Solter und Ülzen war dicht. Der Boden weich und Regen hatte frische Spuren verwischt. Die Polizisten unter der Leitung des erfahrenen Hauptmanns Ignat Sutter, eines ehemaligen Frontsoldaten mit einer langen Narbe im Gesicht, verfolgten dennoch jede mögliche Spur. Mehrmals fanden sie notdürftig errichtete Lager, abgenagte Knochen, Reste eines Lagerfeuers, Spuren eines Mannes, der völlig allein in der Wildnis überleben musste.
Steinbrecher bewegte sich unberechenbar, manchmal in Richtung Elbe, dann wieder zurück in die Heide, als wolle er seine Jäger verwirren. Schließlich erreichten die Verfolger ein kleines Dorf namens Winsen an der All. Dort berichtete der Besitzer einer Kneipe von einem seltsamen Gast, der allein in einer Ecke gesessen, kaum gesprochen und in abgehackten Sätzen nach wegen zur Grenze gefragt hatte.
Zur Grenze? Fragte Hauptmann Sutter und der Wirt nickte zur holländischen. Das schien merkwürdig, doch Sutta ahnte, dass Steinbrecher nur ablenken wollte. Also verstärkte er seine Einheit mit Dorffreiwilligen und patroulierte alle Wege nach Norden und Westen. Drei Tage geschah nichts. In der vierten Nacht kam ein Hinweis von einem alten Schäfer.
Er habe eine Gestalt gesehen, die sich zu Fuß über seine Weide schlich. Richtung Moor. Also zogen die Männer los. Das Moor war ein türkischer Ort, ein großes dunkles Labyrinth aus Wasserlöchern, Birkenstämmen und Nebelschwaden. Jeder Schritt konnte der letzte sein, doch die Polizisten waren entschlossen. Sie hörten nichts, außer dem dumpfen Aufschlagen ihrer Stiefel und dem gelegentlichen Flügelschlag eines Vogels.
Der Schäfer hatte die Richtung richtig angegeben. Sie fanden frische Fußspuren, tiefe, schwere Abdrucke, als habe ein erschöpfter Mann versucht, sich schneller zu bewegen, als seine Kräfte zuließen. Am Rand eines Birkenheins entdeckten sie dann eine Höhle, eigentlich mehr eine Spalte zwischen zwei großen Findlingen, die im Erdreich versunken waren.