
Kleiner, verfallen, das Dach mit Moos bedeckt. Doch aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Schwarz hob die Hand. Bleib zurück. Dann rief er laut: “Königliche Polizei, zeigen Sie sich!” Für einen Moment geschah nichts. Dann öffnete sich die Tür und zwei Gestalten traten hervor. Zwei Frauen abgemagert, in Lumpen gehüllt, die Haut bleich wie Pergament, die Ältere stützte die Jüngere. deren Blick leer war wie ein Spiegel ohne Glas.
Hinter ihnen bewegte sich etwas. Kinder, viele, zu viele. Einige krochen, andere standen wankend, ihre Gesichter gezeichnet von Missbildung. Dr. Fink hätte gesagt: “Inzestgeneration.” Schwarz stockte der Atem. Die ältere Frau begann zu sprechen. Ihre Stimme war brüchig und schnell, als müse sie die Worte hinausschleudern, bevor sie wieder verboten würden.
Sie hieß Patrizia Schäfer, Schwester von Matilde. Die Jüngere Luise war ihre Nichte, zugleich Tochter und Schwägerin der drei Brüder. Seit Jahren, sagte Patrizia, hielten die Männer sie hier gefangen, schwanger gemacht durch ihre eigenen Verwandten nach einem Gesetz, das sie Gottes Reinheitsbund nannten. Schwarz hörte zu, während der Abend kam.
Das Licht wurde blutrot und aus dem Tal stieg Kälte. “Wie viele Kinder?”, fragte er schließlich. Patrizia senkte den Blick. Zu viele, um sie zu zählen. Die, die nicht leben durften. Dort. Sie deutete auf ein Stück Erde hinter der Hütte, wo die Pflanzen dichter wuchsen. Schwarz trat näher.
Er kniete nieder und berührte den Boden. Er war weich, frisch aufgeschüttet. Mit bloßen Händen begann er zu graben. Nach wenigen Minuten spürte er Stoff, dann Knochen. Klein, zerbrechlich, in Tücher gewickelt. Er sagte kein Wort. Er brauchte keines. Die Männer standen im Kreis um Kommissar schwarz, als er sich erhob. Seine Hände waren erdverschmiert.
In seinem Gesicht lag etwas, das die anderen noch nie gesehen hatten. Eine Stille, die tiefer war als Zorn. Wir haben genug gesehen”, sagte er leise. “Diese Menschen kommen mit uns.” Patrizia begann zu weinen, aber es war kein Schluchzen der Erleichterung, sondern ein heiseres, gebrochenes Geräusch, wie das Knarren alter Balken im Sturm.
Luise hielt eines der Kinder an sich gedrückt, das kaum atmete. Zwei der Depotierten halfen, die Frauen und Kinder aus der Hütte zu führen. Als sie in das letzte Licht des Abends traten, fiel das Schweigen des Tals auf sie wie eine Decke. Hinter den Bäumen stand das Haus der Schäfers, still, unbewegt, und doch spürte jeder, dass sie beobachtet wurden.
Als sie den Pfad zurückging, sah schwarz, dass die Brüder und Matilde auf der Veranda warteten, unbeweglich, die Gesichter im Schatten, die Hände vor dem Körper gefaltet, kein Wort fiel, kein Schrei, keine Drohung, nur dieser Blick kalt und leer wie Stein. Elias Otto Martin Schäfer rief Schwarz: “Im Namen des Königs stehen sie unter Arrest wegen Blutschande, Freiheitsberaubung und Mordverdachts.
” Die drei Männer hoben gleichzeitig den Kopf, als folgten sie einem unsichtbaren Signal. Matilde trat einen Schritt vor. Ihre Stimme ruhig, fast zärtlich. “Ihr glaubt, ihr könnt Gott richten, Herr Kommissar. Er wird euch finden, wenn ihr schlaft. Unser Blut ist rein, eures ist verdorben. Die Welt wird brennen und ihr werdet die Schuld tragen. Schwarz antwortete nicht.
Seine Deputierten zogen die Waffen, doch er hob die Hand. Kein Schuß, solange sie keinen Grund geben. Sie führten die Frauen und Kinder zum Waldrand, wo die Pferde warteten. Doch kaum hatten sie den ersten Hügel erreicht, hörten sie hinter sich einen laut, tief, wütend, wie ein Tier, das seinen Bau verteidigt. Die Brüder schrien.
Es war kein menschlicher Klang, sondern ein Chor aus Hass und Verzweiflung. Die Depotierten drehten sich um, aber Schwarz befahl. weiter. Keine Helden heute. Sie erreichten noch in derselben Nacht das Dorf Neustadt am Rennsteig. Dort brachte man die Frauen in das Haus des Pfarrers, wo sie mit Decken und Suppe empfangen wurden.
Die Kinder, sieben an der Zahl, zwei kaum lebendig, wurden in die Obhut der Gemeindeschwester gegeben. Dr. Fink kam am nächsten Morgen aus Ilmenau und untersuchte alle. Sein Bericht, den er später vor Gericht vorlesen würde, war präzise und unerschütterlich. Mehrjährige Misshandlung, chronische Unterernährung, schwerwiegende genetische Fehlbildung bei mehreren Kindern infolge inzestuöser Zeugung.
Geistige Zurückgebliebenheit in vier Fällen, tödliche Vernachlässigung in mindestens zwölf weiteren, basierend auf Funden von Kinderskeletten. Während Fink sprach, stand schwarz am Fenster. Draußen lag Nebel über den Feldern. Er dachte an Matildes Worte: “Unser Blut ist rein” und fragte sich, wie lange eine Überzeugung wachsen mußte, um solch eine Vollnis zu gebären.
Am folgenden Tag machte sich Schwarz mit seinen Männern und einem Dutzend Landjand erneut auf den Weg ins eiserne Tal. Diesmal mit Befehl und Mandat. Die Sonne war blass, der Wind trug den Geruch von Schnee. Als sie den Engpass zwischen den Felsen erreichten, sahen sie den Rauch schon von weitem. Schwarze Schwaden zogen über die Baumwipfel.
Das Haus der Schäfers brannte. Die Flammen frasen das Holz mit gierigem Knistern. Das Dach stürzte ein und in der Glut sah man Schäen. Drei große Gestalten, unbewegt, inmitten der Feuersbrunzt. Niemand schrie, kein Mensch versuchte zu fliehen. Sie standen dort, bis das Feuer sie verschlang.
Matilde lag einige Schritte abseits, ihr Körper in einer Pose, als hätte sie gebetet. Neben ihr fand man eine alte Bibel, die in der Asche unversehrt geblieben war. Die Seite, auf die sie geöffnet war, trug das Zitat: “Und die Unreihen werden ausgerottet werden aus dem Volke.” Schwarz befahl, das Feuer nicht zu löschen. “Lass das Tal seine eigene Reinigung vollziehen”, sagte er.
Erst am Abend, als der Wind erlosch, wagten sie sich näher. Nur noch Stein und Asche blieben. Kein Laut, kein Leben. Der Bach, der durch das Tal floss, war von Ruß geschwärzt. Die Beamten legten Protokoll an, machten Fotos, sammelten die Bibel und einige verbrannte Werkzeuge als Beweisstücke. Dann verließen sie das Tal, das nun endgültig tot war.
Doch für Heinrich Schwarz war die Sache nicht vorbei. In seinen Träumen sah er das Feuer, sah Gesichter im Rauch, Matilde, ihre Söhne, die Kinder mit den leeren Augen. Manchmal wachte er auf und glaubte, Schritte hinter sich zu hören. Der Wind im Kamin klang wie Flüstern. Das Blut ist rein.
Der Prozess gegen die Familie Schäfer begann im Frühjahr des Jahres 199 im Amtsgericht von Ilmenau. Noch bevor der erste Tag der Verhandlung anbrach, hatte sich der Fall in alle Dörfer des Thüringerwaldes herumgesprochen. Menschen kamen von weit her, aus Erfurt, aus Sul, manche sogar aus Leipzig, um die Teufelsfamilie aus dem eisernen Tal mit eigenen Augen zu sehen. Zeitungen berichteten unter sensationellen Überschriften Blutschande im Herzen Deutschlands, Gottes warn oder Wahnsinn. Und das Tal des Schweigens spricht endlich.
Der Gerichtssaal war überfüllt. Bauern in Sonntagskleidung drängten sich Schulter an Schulter mit neugierigen Städtern und Reportern. Auf der Anklagebank saßen nur vier Überlebende, die beiden Frauen Patrizia und Luise und zwei der Kinder, die stark genug gewesen waren, um die Flucht zu überstehen.
Die Männer, die Brüder Schäfer waren tot, im Feuer gestorben, ebenso Matilde. Dennoch wurde der Prozess geführt als Symbol, als Urteil über eine Welt, die zu lange geschwiegen hatte. Kommissar Heinrich Schwarz trat als Zeuge auf. Seine Aussage dauerte über zwei Stunden. Mit ruhiger Stimme schilderte er jedes Detail: Das Haus, den Gestank, die Bibelseiten, die verbrannten Gesichter. Doch als er von den Kindergräbern sprach, brach seine Stimme.
“Ich habe viele Tote gesehen”, sagte er, “aber noch nie so viele, die nicht hätten sterben müssen.” Dr. Albrecht Fink legte seinen medizinischen Bericht vor. Er sprach sachlich, präzise, doch das, was er beschrieb, ließ selbst die abgebrühten Journalisten verstummen. Diese Menschen lebten in einem geschlossenen System, in dem sich Krankheit, Glaube und Blut zu einer Spirale des Verfalls verbandten. Es war keine Familie mehr, es war eine Sekte.
Patrizia weinte, als sie befragt wurde. Sie erzählte von den Jahren der Gefangenschaft, von der Gewalt, von den Nächten, in denen sie ihre toten Kinder im Arm hielt, bis man sie ihr wegnahm. Sie sagten: “Es sei Gottes Wille”, flüsterte sie. “berlaube, Gott hat nie dort gewohnt.” Luise sprach kaum.
Sie saß still, den Blick gesenkt, die Hände gefaltet. Nur einmal hob sie die Augen, als man sie fragte, ob sie ihre Mutter Matilde hasse. Nein, sagte sie, ich hasse niemanden. Ich will nur schlafen. Nach fünf Tagen endete die Verhandlung. Der Richter verkündete, dass keine lebenden Täter mehr existierten. Doch das Gericht stellte offiziell fest, dass gewaltig schwerste Verbrechen gegen Menschlichkeit und Natur begangen worden waren. Das Urteil war symbolisch. Doch es halte nach wie Donner über den Bergen.
Nach dem Prozess versuchten die Behörden das Schicksal der Überlebenden zu ordnen. Patrizia und Luise wurden in ein kirchliches Pflegeheim bei Erfurt gebracht. Die Kinder kamen in staatliche Obhut. Zwei starben noch im selben Jahr an den Folgen der Entkräftung. Die übrigen wurden auf verschiedene Pflegefamilien verteilt. Nur eines Elisabeth, die entkommen war, blieb stark.
Sie lernte zu lesen, zu schreiben und begann in einer Schneiderei zu arbeiten. Kommissar Schwarz besuchte sie einziges Mal im Winter 1920. Sie wohnte in einem kleinen Zimmer über einem Laden und als er eintrat, lächelte sie, schwach, aber ehrlich. “Ich erinnere mich an das Tal nur noch im Traum”, sagte sie.
“Und wenn ich aufwache, ist es still, keine Stimmen mehr. Dann ist es gut so, erwiderte Schwarz. Laassen Sie die Stille bleiben. Doch er selbst fand keinen Frieden. Nach seiner Pensionierung zog er sich in ein Haus bei Ilmenau zurück. Die Akten des Falles ließ er nie aus den Händen, bewahrte sie in einer Truhe neben seinem Schreibtisch. In der Nacht hörte er manchmal Schritte auf dem Dachboden oder Kinder lachen, das nicht von dieser Welt war.
Im Jahr 1923 schrieb er einen Bericht für das Innenministerium betitelt Über die Gefahren religiöser Isolation in den Bergregionen. Darin stand ein Satz, den später Historiker zitieren würden. Wo der Mensch Gott über die Menschlichkeit stellt, beginnt das Böse fromm zu sprechen.
Nach seinem Tod im Jahr 1926 fand man in seiner Wohnung ein kleines Holzkreuz aus dem eisernen Tal, geschwärzt vom Feuer. Niemand wusste, warum er es behalten hatte. Manche sagten, er habe es aufbewahrt, um nie zu vergessen. Andere behaupteten, es habe ihn nicht losgelassen.
Nach dem Tod von Kommissar Heinrich Schwarz wurde der Fall der Schäfers zu einer Geschichte, die man flüsterte, nicht erzählte. Die Akten wanderten ins Staatsarchiv von Weimar, beschriftet mit der Nummer 3783. Auf dem Deckblatt stand in blauer Tinte Blutschande im Eisental, Kreis Ilmenau. Abgeschlossene Untersuchung. Niemand öffnete sie für Jahrzehnte. Das Land hatte andere Sorgen, Inflation, politische Unruhen, später Krieg.
Doch in den Dörfern rund um Stützerbach und Schmiedefeld blieb das Tal im Gedächtnis. Jäger, die sich zu weit in den Wald wagten, berichteten, daß dort kein Tier bleibe. Vögel flogen über den Felsen hinweg, aber sie setzten sich nie. Manche behaupteten, in stillen Nächten sehe man Licht zwischen den Baumstämmen, als brenne dort noch immer ein unsichtbares Feuer.
Alte Frauen murmelten, dass die Seelen der Kinder keine Ruhe gefunden hätten. Im Herbst 1938, mehr als 20 Jahre nach der Katastrophe, kam ein Geologiestudent aus Jena in die Gegend. Sein Name war Hans Fritsche, ein junger Mann mit wachem Geist und wenig Sinn für Aberglauben.
Er erforschte die Gesteinsschichten des Thüringerwaldes und hörte im Gasthaus von Neustadt von den Geschichten über das eiserne Tal. Die Einheimischen rieten ihm ab, dorthinzugehen. Einer der Alten sagte: “Der Wald dort atmet dich auf und gibt dich nicht wieder aus.” Doch Hans lachte. Ich glaube an Steine, nicht an Geister. Zwei Tage später machte er sich allein auf den Weg.
Er fand den Zugang leicht, denn das Gelände war in den alten Karten noch markiert. Die beiden Felswände ragten grau und scharf wie Klingen auf. Zwischen ihnen lag Schatten, obwohl die Sonne hochstand. Als er den Engpas durchschritt, änderte sich die Luft. Sie wurde schwerer, feuchter und die Stille war vollkommen. Kein Wind, kein Rascheln, kein Vogelruf.
Hans notierte in seinem Tagebuch: “Hier herrscht eine seltsame Dichte, als wäre die Zeit selbst träge geworden.” Er ging weiter. Der Bach floss noch klar und kalt, aber schwarz gesäumt von verkohlten Steinen. Dann sah er die Überreste des Hauses, kaum mehr als Grundmauern und zwei Schornsteine, die wie Grabsteine standen. Moos wuchs über dem Ort und aus der Erde ragten verrostete Nägel, verkrümmt wie Finger.
Hans machte Skizzen, maß die Steine, schrieb Notizen, doch als die Dämmerung kam, fühlte er sich beobachtet. Mehrmals drehte er sich um und glaubte, Kinderstimmen zu hören. Nicht laut, eher wie ein fernes Summ. Er sagte sich, es sei der Wind, doch als er zum Gehen ansetzte, hörte er ein leises, deutliches Wort.
gesprochen hinter ihm in einem Ton, der weder freundlich noch böse war, sondern einfach alt, bleib. Hans erstarrte. Kein Mensch war zu sehen. Er packte seine Ausrüstung und verließ das Tal so schnell, wie es die Dunkelheit erlaubte. Als er zwei Tage später im Gasthaus ankam, wirkte er verändert, blass, fahrig, die Hände zitterten. “Es gibt dort nichts”, sagte er, “aber das nichts schaut zurück.
” Er schrieb seine Beobachtungen nieder, doch die letzten Seiten seines Notizbuchs endeten abrupt. Ein Jahr später fiel Hans im Krieg an der Front in Polen. Sein Rucksack mit dem Tagebuch wurde nie gefunden. Nach dem Krieg in den 50er Jahren ließ die Forstverwaltung das Gebiet um das eiserne Tal sperren.
Offiziell hieß es: “Der Boden sei instabil, es bestehe Erdrutschgefahr.” Inoffiziell aber erzählten die Waldarbeiter, dass jeder, der dort Holz schlug, krank wurde. Fieber, Albträume, Stimmen. Einer, ein gewisser Karl Berend, soll gesagt haben, er habe in der Asche eines alten Kamins kleine Knochen gefunden, so fein wie Vogelknochen, aber menschlich geformt.
Niemand überprüfte es. Im Laufe der Jahrzehnte verwuchs das Tal mit dem Wald. Auf Karten verschwand der Name. Doch manchmal, wenn Nebel über die Hügel zog, sagten die Alten in den Dörfern: “Sie singen wieder.” Damit meinten sie das Flüstern, das durch die Bäume kam, wie Kinder, die Psalmen rückwärts beteten.