Merz’ steiler Sinkflug: Warum die große Koalition nur wenige Monate nach dem Start bereits tief im Problem steckt

Merz’ steiler Sinkflug: Warum die große Koalition nur wenige Monate nach dem Start bereits tief im Problem steckt


Article: Merz’ steiler Sinkflug: Warum die große Koalition nur wenige Monate nach dem Start bereits tief im Problem steckt

Die Erwartungen an Friedrich Merz als neu gewählter Bundeskanzler waren gigantisch. Nach dem vorzeitigen Scheitern der Vorgängerregierung aus SPD, Grünen und FDP sollte Merz als neuer Regierungschef eine Ära der Stabilität und des pragmatischen Aufbruchs einläuten. Er, der die CDU/CSU-Union in die Bundestagswahl 2025 geführt hatte, versprach den Bürgerinnen und Bürgern nichts weniger als die große Trendwende, einen positiven Umschwung, der schon im Sommer spürbar sein sollte. Merz wurde nach einem dramatischen zweiten Wahlgang zum Kanzler gewählt und stand an der Spitze einer Großen Koalition aus Union und SPD – eine Konstellation, die mit ihrer breiten Mehrheit Sachlösung und Verlässlichkeit versprach.

Doch wenige Monate nach dem Start offenbart sich ein tiefes, strukturelles Problem in der Regierungsarbeit. Statt des versprochenen Aufbruchs herrscht eine Art lähmender Stillstand, begleitet von heftigen internen Streitigkeiten, die bereits von einer Koalitionskrise sprechen lassen. Die Zufriedenheit in der Bevölkerung ist auf einem erschreckend niedrigen Niveau; aktuelle Umfragen zeigen, dass lediglich etwas mehr als ein Drittel der Befragten mit der bisherigen Arbeit des Kanzlers und seiner Regierung zufrieden ist. Der große Wandel, den Merz angekündigt hatte, ist nicht eingetreten. Was Merz anfangs als „große Herausforderungen“ beschrieb, entpuppt sich heute als ein Bündel aus hausgemachten und externen Problemen, die seine Kanzlerschaft zu einem politischen Drahtseilakt machen. Die Frage ist nicht mehr, wann die positive Veränderung spürbar wird, sondern wie lange Merz diesen Kurs noch halten kann.

Der Bruch mit dem Wort – Merz’ Glaubwürdigkeitskrise

Das Fundament jeglicher politischer Autorität ist die Glaubwürdigkeit, und genau hier kämpft Friedrich Merz mit seiner wohl größten Hypothek. Über Jahre hinweg hatte Merz eine klare, kompromisslose Linie vertreten, die ihm im konservativen Lager hohe Sympathiewerte einbrachte. Seine Haltung zur Schuldenbremse war dabei ein Markenkern: keine zusätzlichen neuen Schulden, keine Reform der Schuldenbremse. Diese Position vertrat er unmissverständlich und öffentlich, etwa in einem Interview Ende 2023, wo er kategorisch ausschloss, dass dies jemals anders sein würde. Er kritisierte die damalige Regierung scharf für ihre Finanzpolitik und forderte Konsequenz.

Có hơn một nghìn đơn khiếu nại cáo buộc Thủ tướng Merz được nộp tại Đức -  30.07.2025, Sputnik Việt Nam

Doch nach der Wahl folgte der Schock: Die von Merz geführte Koalition beschloss im Bundestag das komplette Gegenteil. Eine Reform der Schuldenbremse wurde auf den Weg gebracht, flankiert von einem massiven Schuldenpaket in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro für die kommenden zwölf Jahre. Merz’ langjährige, dezidierte Überzeugung schien über Nacht dem politischen Pragmatismus zum Opfer gefallen zu sein. Für viele Wähler und Beobachter ist dieser eklatante Wortbruch ein Schlag ins Gesicht, der das eigene Profil und die Glaubwürdigkeit massiv beschädigt.

Ähnlich verhält es sich mit seiner Rhetorik zur politischen Zusammenarbeit. Im Wahlkampf und insbesondere bei der Abschlussveranstaltung in München versprach Merz mit großer Geste: „Links ist vorbei.“ Er sprach von „grünen und linken Spinnern“ und positionierte sich als Garant gegen linke Politik. Dieses Versprechen der ideologischen Reinheit überdauerte die Wahlnacht jedoch nicht. Um sich selbst ins Kanzleramt zu hieven, musste die Union für eine schnelle Neuwahl mit der Fraktion der Partei Die Linke verhandeln – ein klarer Affront gegen den eigenen Unvereinbarkeitsbeschluss. Mehr noch: Um die Schuldenbremsen-Reform zu ermöglichen und die nötigen Mehrheiten zu sichern, arbeitete Merz eng mit der Partei Die Grünen zusammen. Das Motto „Links ist vorbei“ wurde pragmatisch ausgeklammert, um Mehrheiten zu bekommen. Diese taktischen Manöver, die heute das eine sagen und morgen das andere tun, können kurzfristig Siege sichern, kosten Merz jedoch langfristig das Vertrauen derjenigen, die er einst mit klaren Kanten mobilisierte.

Zerrüttete Partnerschaft – Die Koalition im Krisenmodus

Der zentrale Grund für das Scheitern der Vorgängerregierung war der offene, teils brutale Streit der Koalitionspartner. Friedrich Merz versprach Besserung und betonte in seiner Regierungserklärung, man wolle Politik „problemlösend, ohne öffentlichen Streit“ gestalten. Dieses Versprechen zerbrach in einer einzigen Woche am vielleicht unwahrscheinlichsten Ort: der Wahl neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht. Normalerweise ist dieser Prozess eine Formalie, basierend auf klaren Absprachen: Die Union nominiert einen Richter, die SPD zwei, und die jeweiligen Fraktionen stimmen den Kandidaten des Partners zu.

Doch dieser Routineprozess wurde zum Pulverfass. Eine der von der SPD nominierten Kandidatinnen, die bekannte Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf, geriet wegen ihrer wissenschaftlichen Äußerungen – unter anderem zur Frage, ab wann die Menschenwürde im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen gelten sollte – ins Zentrum einer massiven, organisierten Protestwelle. Anti-Abtreibungsinitiativen mobilisierten ihre Anhänger und sandten Zehntausende von Protest-E-Mails an Abgeordnete der Union. Der öffentliche Druck funktionierte: Die Union, die der SPD die Zustimmung zu den Kandidaten zugesagt hatte, konnte plötzlich die Einheit ihrer eigenen Fraktion nicht mehr garantieren.

Trotz einer offiziellen Begründung der Union, die Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf ins Feld führte – Vorwürfe, für die es bislang keine eindeutigen Belege gibt –, musste die Wahl aller drei Richter abgesagt und verschoben werden. Die Konsequenz ist eine handfeste Koalitionskrise. Der Regierungspartner SPD sieht sich düpiert, fühlte sich „unfair gespielt“ und auflaufen gelassen. Der Kanzler ist zwar darum bemüht, die Verantwortung auf die Ebene der Fraktionen zu verlagern, aber als CDU-Chef und Regierungschef trägt Merz die politische Hauptlast. Die Episode zeigt: Die Union ist anfällig für Stimmungen und Kampagnen im Internet und lässt sich davon treiben. Merz hat seine Fraktion im entscheidenden Moment nicht im Griff gehabt, was das Vertrauensverhältnis zum Koalitionspartner tiefgreifend beschädigt hat.

Der Spahn-Komplex – Ein Drahtseilakt für den Kanzler

Das Problem der Uneinigkeit ist eng mit einer einzelnen, mächtigen Figur verbunden: Jens Spahn, Fraktionschef der Union im Bundestag. Spahn ist neben Merz einer der mächtigsten, aber auch umstrittensten Politiker Deutschlands. Sein Versagen bei der Richterwahl – die Unfähigkeit, die eigene Fraktion auf Kurs zu halten – ist das eine. Das andere ist die schwere Hypothek aus seiner Vergangenheit als Gesundheitsminister während der Corona-Pandemie.

Ein durchgesickerter interner Bericht, in Auftrag gegeben von seinem Nachfolger, beleuchtet Spahns Handeln bei der Beschaffung von Masken und Schutzkleidung. Demnach soll Spahn Ausschreibungsregeln umgangen, Unternehmen direkt und mit hohen Summen beauftragt und Warnungen aus seinem eigenen Ministerium ignoriert haben. Das Resultat dieser risikoreichen Strategie: Schäden in Milliardenhöhe. Allein der Bundesrechnungshof spricht von einem Gesamtwert von 2,3 Milliarden Euro an Rechtsstreitigkeiten, die letztlich den Steuerzahler treffen könnten.

Diese Angelegenheit müsste dringend in einem Untersuchungsausschuss geklärt werden, doch genau hier liegt das Dilemma des Kanzlers. Die Opposition hätte zwar die nötigen Stimmen, aber nur unter Einbeziehung der AfD, was ausgeschlossen ist. Ein Untersuchungsausschuss kann nur mit der SPD zustande kommen. Doch die SPD verzichtet bisher aus Koalitionsräson darauf, um den Partner Union nicht zu beschädigen. Dies ist der Preis für die Zusammenarbeit. Für Merz ist die Situation hochgefährlich. Er hat sich bisher demonstrativ hinter Spahn gestellt. Sollte die SPD nach dem Affront um die Richterwahl Rache üben und einen Untersuchungsausschuss in die Wege leiten, stünde Spahns Rücktritt auf der Kippe. Ein solcher Abgang würde unweigerlich auch den Kanzler selbst schwer beschädigen, der Spahn als Fraktionsvorsitzenden aber dringend braucht. Merz befindet sich in einem komplizierten politischen Schachspiel, dessen Ausgang seine Kanzlerschaft massiv beeinflussen wird.

Die Welt hat andere Pläne – Außenpolitik dominiert die Agenda

Zusätzlich zu diesen hausgemachten Problemen sieht sich Friedrich Merz einer turbulenten Weltlage gegenüber, die ihm die dringend benötigte Zeit für innenpolitische Konsolidierung raubt. Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, die volatile Lage im Nahen Osten und eine unberechenbare US-Regierung, die die Europäische Union mit herausfordernder Zollpolitik konfrontiert, binden Merz’ Zeit und Aufmerksamkeit. Er ist gezwungen, ständig international präsent zu sein und zu agieren, was ihn davon abhält, sich ausreichend um die inneren Baustellen zu kümmern oder sich – wie von seiner Basis gefordert – mehr um seine eigene Partei zu kümmern.

Der Eindruck, der in Teilen der Bevölkerung und an der Parteibasis entsteht, Merz sei gefühlt mehr in der Welt unterwegs als im eigenen Land, ist zwar statistisch möglicherweise ungenau, aber politisch toxisch. Diese äußeren Umstände führen dazu, dass die innere Ordnung im Land und in der Koalition unter dem Fokus auf die große Weltpolitik leidet. Merz braucht einen Erfolg, um die Zweifel an seiner Führungskraft zu zerstreuen. Die Lösung dieser vier großen Probleme – von der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit über die Befriedung der Koalition bis hin zum Umgang mit dem Spahn-Dilemma – wird entscheiden, ob seine Kanzlerschaft tatsächlich die versprochene Wende bringen kann oder ob sie im Streit und in der Selbstbeschädigung versinkt. Merz selbst gibt sich im Sommerinterview gelassen: Im Großen und Ganzen laufe alles nach Plan, nur die Richterwahl sei ein Schönheitsfehler, für den man eine Lösung finden werde. Angesichts der Faktenlage klingt diese Einschätzung beinahe wie ein Wunschdenken.

Related Posts

Our Privacy policy

https://worldnews24hr.com - © 2025 News