
Wenn Sie das Haus finden, dann finden Sie ihn, unterbrach sie, und Sie werden sagen, es war Gottes Strafe. Vielleicht war es das. Nein, sie drehte sich zu ihm um. Wenn Gott uns strafen wollte, hätte er uns nie so fühlen lassen. Er hat uns nur vergessen. Die Tage vergingen still, gleichförmig. Sie lebten von Kartoffeln, die sie im Keller fanden, und vom Schnee, den sie schmolzen.
Lukas schnitzte Holz, Sophie nähte Risse im Mantel. Nachts schliefen sie nah am Feuer, ohne sich zu berühren. Aber das Schweigen zwischen ihnen war voller Worte, die keiner mehr wagte zu sagen. Doch das Schweigen war brüchig. Eines Abends, als der Sturm draußen tobte, fiel der Ofen in sich zusammen. Sophie weinte, ohne zu wissen, warum.
Lukas legte den Arm um sie, zaghaft zuerst, dann fester. Ich wünschte, ich könnte dich erlösen, flüsterte er. Mich erlösen? Sie lachte leise, bitter. Ich will keine Erlösung. Ich will nur vergessen. Er berührte ihr Gesicht. Ich kann dich nicht vergessen. Nicht in diesem Leben, nicht im nächsten. Sie schloß die Augen und zum ersten Mal seit jener Nacht im Dorf küsste sie ihn wieder.
Langsam, vorsichtig, als fürchte sie, die Welt könnte es hören. Der Wind heulte, der Schnee peitschte gegen die Fenster und für eine Nacht war alles fern. Der Tod, die Schuld, die Schande. Es gab nur sie, das Feuer und die Dunkelheit. Am nächsten Morgen war der Himmel klar, die Sonne stand tief, golden.
Sophie stand vor der Tür, das Haar offen, den Blick zum Tal gerichtet. “Wir können nicht bleiben”, sagte sie. “Sie werden kommen.” Lukas nickte. “Wohin?” Egal wohin, nur fort. Sie machten sich auf den Weg mit einem kleinen Bündel, das kaum mehr als Brot und einen Schal enthielt. Der Schnee reichte ihnen bis zu den Knien.
Die Luft schnitt wie Glas, doch sie ging Hand in Hand, ohne zurückzusehen. Nach zwei Tagen erreichten sie eine Stadt am Rand des Gebirges. Niemand kannte sie dort. Sie mieten ein Zimmer über einer Schmiede, gaben sich neue Namen Lukas und Anna Bergmann. Sie sprachen nicht über die Vergangenheit, aber sie lebte in jedem Schweigen, in jeder Berührung.
Sophie begann in einer Bäckerei zu arbeiten, half beim Kneten des Teigs, lächelte manchmal, wenn niemand hinsah. Lukas fand Arbeit als Tagelöhner, trug Holz, schleppte Steine. Von außen waren sie einfaches Paar. unscheinbar arm. Doch in ihren Augen lag etwas, das die Menschen verstummen ließ. Ein Schmerz, der zu still war, um Mitleid zu erregen.
Doch die Schuld blieb. Nachts hörte Sophie manchmal die Stimme ihres Vaters, die durch den Schlaf schnitt wie ein Messer. Ihr habt meinen Namen verflucht. Dann wachte sie schweißgebadet auf, suchte Lukas Hand und er flüsterte. Ich bin da. Im Frühjahr kam ein Brief ohne Absender, nur ein einziges Blatt, darauf ein Satz: “Man hat ihn gefunden.
” So viel Lorte und verstand sofort: “Das Dorf hatte Johann gefunden, tot im Haus.” Sie sank auf die Knie, den Brief an die Brust gedrückt und weinte still. “Jetzt sind wir frei”, flüsterte Lukas, doch sie schüttelte den Kopf. “Niemand ist frei, Lukas. Wir tragen ihn in uns. In der folgenden Nacht ging sie hinaus allein barfuß.
Der Mond stand über den Bergen und sie sprach leise in den Wind. Vater, vergib uns. Wir haben nie gewollt, was wir sind. Als sie zurückkam, lag Lukas wach. Er sah sie an und sie wusste, dass er denselben Traum hatte. Von einem Haus im Schnee, einem Birnbaum im Sturm und einem Gott, der schwieg.
Der Sommer kam über die Stadt, warm und schwer, und brachte mit der Sonne kein Licht, sondern Unruhe. Die Luft roch nach Staub und Eisen, nach Schweiß und Brot, und doch lag über allem ein Schatten, den nur zwei Menschen spürten. Lukas und Sophie lebten in einer Art Stillstand, ein Leben aus Tagen ohne Anfang und Nächten ohne Ende. Sie lächelten vor den anderen, gingen Hand in Hand durch die Straßen, wie gewöhnliche Eheleute.
Doch hinter der Fassade brannte die Vergangenheit wie Glut unter Asche. Lukas arbeitete auf einer Baustelle am Stadtrand. Er trug schwere Steine, schwieg, trank abends still sein Bier. Aber manchmal, wenn die Sonne unterging und die Schatten länger wurden, blieb er stehen und starrte in die Ferne, als sähe er dort etwas, das ihn rief.
Seine Kollegen sagten: “Er sei ein stiller Mann, fleißig, aber seltsam. Einer meinte, er habe ihn einmal beim Arbeiten beten hören, nicht zu Gott, sondern zu einem Namen. Sopie. Sie merkte, wie er sich veränderte. Er sprach weniger, schlief unruhig, wachte nachts auf, den Blick leer.
Manchmal setzte er sich auf, als lausche er einer Stimme, die nur er hören konnte. “Was ist es?”, fragte sie eines Abends. Er antwortete nicht gleich. Dann sagte er leise: “Ich sehe ihn.” Wen? Vater. Er steht am Ende meines Bettes. Manchmal sagt er nichts, manchmal flüstert er. Du hast sie verdorben. Sophie legte die Hand auf seine Wange. Das ist nur die Schuld, Lukas.
Sie ist wie ein Tier, das nicht stirbt. “Dann muss ich es töten”, flüsterte er. Am nächsten Morgen ging er zur Arbeit, kehrte aber nicht zurück. Sophie wartete, bis es dunkel wurde. Dann kam ein Junge von der Baustelle, brachte seine Jacke. “Er ist einfach gegangen”, sagte er, mitten am Tag ohne ein Wort. Zwei Tage später fand man Lukas am Fluss außerhalb der Stadt.
Er saß auf einem Stein, die Füße im Wasser, den Blick auf den Himmel gerichtet. Als Sophie ihn fand, bewegte er sich nicht. Ich wusste, du kommst”, sagte er leise. “Warum tust du mir das an?” “Weil ich dich liebe”, antwortete er und weil ich es nicht mehr kann. Leben, atmen, so tun, als wäre alles gut.
Ich habe ihn in jedem Traum gesehen und er hat recht. Ich habe dich verdorben. Ich habe dich aus Gottes Hand genommen und in meine gelegt. Dafür muß ich zahlen. Sie kniete sich zu ihm, packte seine Hände. Wir haben beide gezahlt. Wir haben alles verloren. Es gibt nichts mehr, was sie uns nehmen können. Doch, sagte er sanft. Dich.
Dann zog er etwas aus seiner Tasche, ein altes Rasiermesser. Sie schrie, wollte es ihm entreißen, aber er hielt sie fest. Nein, flüsterte er. Ich will, daß du lebst, daß wenigstens einer von uns Frieden findet. Wenn du gehst, sagte sie, dann folge ich dir. Er lächelte traurig. Dann treffen wir uns, wo es keine Namen mehr gibt.
Sie kämpften, weint und am Ende lag das Messer im Gras, Blut verschmiert. Lukas sank gegen sie, die Augen weit offen und ein Laut entwich seinen Lippen, kaum hörbar. Sophie, dann nichts mehr. Der Wind wehte über den Fluß, trug den Geruch von Metall, Wasser und Tod. Sophie hielt ihn fest, stundenlang, bis der Morgen graute.
Erst dann löste sie seine Hand, schloss seine Augen und küsste seine Stirn. “Jetzt bist du frei”, flüsterte sie. Die Stadt erwachte, ohne zu wissen, daß zwei Leben in jener Nacht geendet hatten. Eines im Körper, eines in der Seele. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, wusch seine Sachen, legte sie ordentlich zusammen.
Dann setzte sie sich an den Tisch, nahm Papier und Feder und schrieb: “Ich habe ihn verloren, so wie ich alles verloren habe. Aber vielleicht war das der einzige Weg, ihn zu retten. Ich bleibe hier, wo niemand uns kennt. Ich werde Brot backen, Wasser tragen, schweigen. Vielleicht wird Gott mich eines Tages hören, vielleicht nicht. Aber ich bleibe, bis mein Herz still wird, so still, wie sein es jetzt ist.
Sie legte den Brief auf sein Bett neben das Messer und kniete nieder. Nicht zum Beten, zum Erinnern. Der Wind kam durch das Fenster, spielte mit ihrem Haar und sie wußte, daß die Zeit gekommen war, ihn ziehen zu lassen. Die Jahre vergingen und die Welt änderte sich. Doch für Sophie blieb alles gleich.
Die Stadt wuchs, neue Häuser entstanden, fremde Stimmen erfüllten die Straßen und Kinder lachten, wo einst nur das Rauschen des Flusses zu hören gewesen war. Aber für sie blieb die Zeit stehen an jenem Sommerabend am Ufer, als Lukas in ihren Armen starb. Sie blieb in derselben kleinen Wohnung über der Schmiede. Niemand wusste, wer sie wirklich war.
Die Nachbarn nannten sie einfach die stille Frau Bergmann. Sie sprach kaum, arbeitete in der Bäckerei, ging sonntags in die Messe, immer in der letzten Reihe, den Kopf gesenkt. Manchmal brachte sie Brot zu den Armen, manchmal stand sie stundenlang am Fluss und sah auf das Wasser, das nie still stand.
Man erzählte sich viele Dinge über sie. Manche sagten, sie sei eine Witwe, deren Mann im Krieg gefallen war. Andere flüsterten: “Sie sei eine Nonne gewesen, die ihre Gelüpte gebrochen hatte.” Nur der alte Pfarrer wußte mehr, aber er schwieg aus Mitgefühl, vielleicht aus Ehrfurcht vor einem Leid, das größer war als jede Sünde.
Als sie älter wurde, begann sie Geschichten für die Kinder zu schreiben, kleine Erzählungen über Sterne, Bäume und verlorene Seelen. Doch in jeder dieser Geschichten schimmerte eine Wahrheit durch, eine Sehnsucht nach Vergebung. In einem ihrer Hefte stand: “Es gibt keine Sünde, die größer ist als die Liebe und keinen Himmel, der für immer verschlossen bleibt.
” Manchmal, wenn der Abend kam und die Sonne sich im Wasser spiegelte, sah man sie am Flussufer sitzen, den Blick in die Ferne gerichtet, die Hände gefaltet, als warte sie auf jemanden. Und in manchen Nächten, sagten die Nachbarn, sprach sie leise mit dem Wind, als antworte ihr jemand. Im Winter ihresundigsten Jahres fand man sie eines Morgens auf der Bank am Fluss.
Sie saß aufrecht, das Gesicht friedlich, der Schnee hatte sich auf ihr Haar gelegt. In den Händen hielt sie ein altes, abgegriffenes Stück Papier. Lukas, erster Brief. Der Pfarrer, der sie beerdigte, sagte in seiner Predigt: “Manche Seelen tragen ein Kreuz, das kein Mensch sehen kann. Sie fallen, sie irren, aber sie lieben bis zuletzt.
Und wer liebt, wie sie geliebt hat, findet seinen Weg, selbst durch Dunkelheit. Auf ihrem Grab stand kein Name, nur eine Inschrift. Geliebt über die Sünde hinaus, gefunden jenseits des Schmerzes. Die Jahre gingen, Generationen kamen und gingen. Die Stadt veränderte sich, doch die Geschichte der stillen Frau blieb. Kinder erzählten sich, daß man in klaren Nächten zwei Gestalten am Fluss sehen könne.
Eine Frau in grau und einen Mann mit grünen Augen, Hand in Hand. Manche sagten, sie gingen schweigend nebeneinander her, andere sie lachten. Doch alle, die sie sahen, sagten dasselbe. Es war kein Spuk, keine Warnung, keine Strafe. Es war Liebe, endlich frei, erlöst von aller Schuld. Und so wurde aus der Schande eine Legende, aus dem Schmerz ein Gebet, das nie verklang.
Die Leute begannen zu glauben, dass der Fluss, der durch die Stadt floss, ihren Namen trug. Leise, kaum hörbar, aber ewig. Wenn heute jemand an seinem Ufer steht und genau hinhört, meint er im Rauschen des Wassers eine Stimme zu vernehmen, die flüstert. Ich warte auf dich. Und irgendwo in der Tiefe, wo Licht und Dunkel sich berühren, antwortet eine andere Stimme. Ich bin da.