Echos der Finsternis
Was würden Sie tun, wenn alles, was Ihnen jemals beigebracht wurde, sich als Lüge herausstellen würde? Im Mai 1945 standen 32 deutsche Frauen vor genau dieser erschütternden Realität. Sie hatten ihr ganzes Leben lang gelernt, den Feind zu fürchten. Doch was sie in sowjetischer Gefangenschaft erlebten, würde ihre gesamte Weltanschauung für immer verändern.

Diese Geschichte handelt nicht von Helden oder Schurken. Sie handelt von etwas viel Mächtigerem: von der erschreckenden Kraft der Propaganda und der unerwarteten Macht der Menschlichkeit. Was diese Frauen entdeckten, wurde jahrzehntelang verschwiegen. Doch heute, fast 80 Jahre später, verdient ihre Geschichte es, erzählt zu werden.
Bevor wir beginnen, möchte ich Sie um etwas bitten. Wenn Sie aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz zuschauen, schreiben Sie Ihre Stadt in die Kommentare. Ich bin neugierig, wie viele von Ihnen diese vergessene Geschichte kennen. Und vergessen Sie nicht, den Kanal zu abonnieren und das Video zu liken. Es hilft mir enorm, weitere unerzählte Geschichten ans Licht zu bringen.
Berlin unter Feuer
Berlin im April 1945 war keine Stadt mehr, es war die Hölle auf Erden. Die einst stolze Reichshauptstadt lag unter einem Himmel, der permanent rot leuchtete von den Tausenden Bränden, die durch die Stadt fraßen. In einem notdürftig eingerichteten Lazarett im Keller eines halbzerstörten Gebäudes im Bezirk Prenzlauer Berg arbeiteten 32 Frauen rund um die Uhr. Sie waren keine ausgebildeten Ärztinnen, sondern Krankenschwestern, Verwaltungsangestellte und Helferinnen, die von der Wehrmacht eingezogen worden waren, als die Männer knapp wurden.
Ihre Hände zitterten nicht mehr beim Anblick von Blut. Nach Monaten in diesem Albtraum waren sie zu Automaten geworden, die mechanisch Verbände wechselten, Wunden reinigten und Sterbende hielten. Die jüngste von ihnen war Lisel Hartwig, gerade 21 Jahre alt, mit aschblondem Haar, das sie streng unter einem Kopftuch versteckt hielt. Die älteste war Frau Krause, 46, eine ehemalige Lehrerin aus Dresden, deren Augen eine Müdigkeit zeigten, die tiefer ging als nur Schlafmangel.
Der Lärm des herannahenden Krieges war konstant, ein donnerndes, allgegenwärtiges Grollen, das durch Mark und Bein ging. Sowjetische Artillerie hämmerte Tag und Nacht auf die Stadt ein, und mit jedem Tag rückte die Front näher.
An den Wänden des Lazaretts hingen Propagandaplakate, deren grelle Farben im flackernden Licht der Kerosinlampen gespenstisch wirkten. „Der Russe kennt keine Gnade“ stand in großen, blutigen Lettern über einem Bild, das angeblich die Brutalität der Roten Armee darstellte. Die Frauen mussten nicht auf die Plakate schauen. Die Botschaft war längst in ihre Seelen eingebrannt.
Ihre Vorgesetzten, meist ältere Offiziere der Wehrmacht, hatten ihnen unmissverständlich klargemacht, was sie im Falle einer Gefangennahme erwarten würde. „Sie werden euch schänden, foltern und ermorden“, hatte Hauptmann Schneider mit grimmiger Miene erklärt. „Eine deutsche Frau hat nur eine ehrenvolle Option, sollte der Feind sie erreichen.“ Dabei hatte er bedeutungsvoll auf die kleinen Glasampullen mit Zyankali geblickt, die jeder Soldat und jede Helferin bei sich trug.
Die Atmosphäre im Lazarett war von erstickender Angst durchzogen, die schwerer in der Luft lag als der Geruch von Karbol und Blut. Die Frauen sprachen in gedämpften Tönen miteinander, wenn sie überhaupt sprachen. Manche hatten bereits Abschiedsbriefe an Familien geschrieben, die sie nie erreichen würden; das Postsystem war längst zusammengebrochen.
Gertrud Sommer, eine ehemalige Sekretärin aus Hamburg mit sanften braunen Augen, trug ein kleines Foto ihrer beiden Söhne in der Brusttasche, beide gefallen an der Ostfront. Sie hatte geschworen, ihnen bald zu folgen, sollten die Sowjets kommen. Irmgard Koch, eine resolute Frau aus Bayern, hatte ihre Zyankali-Kapsel an einer Kette um den Hals hängen, griffbereit für den Moment, den sie alle fürchteten.
Nachts, wenn die Verwundeten schliefen oder bewusstlos waren, hörte man manchmal leises Schluchzen aus den dunklen Ecken des Kellers. Niemand sprach darüber. Es gab keine Worte mehr für diese Art von Verzweiflung.
Ende April erreichten sie die ersten Zivilisten, die aus den östlichen Stadtteilen flohen. Ihre Geschichten waren widersprüchlich und verwirrend. Manche berichteten von unfassbarer Brutalität, andere von merkwürdiger Disziplin der sowjetischen Truppen. „Glaubt den Lügnern nicht“, warnte Oberschwester Vogel, eine überzeugte Anhängerin des Regimes. „Das sind Defätisten und Verräter, die unsere Moral untergraben wollen.“ Doch in den Augen der Frauen wuchs die Unsicherheit. Was war die Wahrheit?
Am 28. April erreichte sie die letzte offizielle Nachricht von der Heeresleitung: Berlin sollte bis zum letzten Mann verteidigt werden. Evakuierung war nicht vorgesehen. Die Frauen verstanden die Bedeutung sofort: Sie waren zum Sterben hier gelassen worden.
Major Fischer, der ranghöchste noch verbliebene Offizier im Lazarett, verteilte persönlich zusätzliche Zyankali-Ampullen. „Für den Fall der Fälle“, sagte er mit hoher Stimme. Seine eigene Pistole hatte er griffbereit auf dem Schreibtisch liegen.
Der Feind kommt
Am 2. Mai 1945 verstummten plötzlich die deutschen Geschütze. In der gespenstischen Stille, die folgte, hörten die Frauen nur noch die sowjetische Artillerie – näher, viel näher als je zuvor. Um 14 Uhr kam die Nachricht, die sie alle gefürchtet hatten: Die Rote Armee war nur noch wenige Straßen entfernt.
Major Fischer versammelte alle im Hauptraum des Kellers. Sein Gesicht war grau wie Asche. „Meine Damen“, begann er mit brüchiger Stimme, „die Stunde ist gekommen. Sie wissen, was zu tun ist. Bewahren Sie Ihre Ehre als deutsche Frauen. Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu dienen.“ Dann zog er sich in sein Büro zurück. 10 Minuten später hörten sie einen Pistolenschuss. Niemand ging nachsehen.
Die Frauen saßen in stummen Gruppen zusammen. Manche beteten, andere starrten nur ins Leere. Lisel drückte ihre Zyankali-Ampulle so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Draußen wurden die Stimmen lauter, fremde Stimmen, die eine Sprache brüllten, die sie nicht verstanden. Der Feind war da.
Die schwere Stahltür zum Kellereingang bebte unter gewaltigen Schlägen. Die 32 Frauen drängten sich in der hintersten Ecke des Lazaretts zusammen. Einige umklammerten ihre Zyankali-Ampullen, andere beteten laut. Frau Krause, die Älteste unter ihnen, hatte die Augen geschlossen und murmelte das Vaterunser, während Tränen über ihre eingefallenen Wangen liefen.
Dann, mit einem ohrenbetäubenden Krachen, gab die Tür nach. Schwere Stiefel stampften die Betontreppe hinunter, und Lichtblitze von Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit. „Rookierk!“, die fremden Rufe klangen wie das Gebrüll wilder Tiere. Lisel sah Schatten von Männern mit Gewehren, große, dunkle Gestalten, die genau dem Bild entsprachen, das die Propaganda gemalt hatte.
Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie glaubte, es würde zerspringen. Ihre Finger schlossen sich um die Glasampulle. Nur noch ein schneller Biss, dachte sie, dann wäre alles vorbei. Keine Schande, kein Schmerz, keine Angst mehr.
Aber dann geschah etwas Unerwartetes: Die sowjetischen Soldaten feuerten nicht sofort. Sie richteten ihre Gewehre auf die zusammengekauerte Gruppe, schrien Befehle auf Russisch, aber sie schossen nicht. Ein Offizier, erkennbar an den Abzeichen auf seiner verschmutzten Uniform, trat vor und rief etwas, das wie ein Befehl klang.
Die Soldaten begannen, systematisch den Raum zu durchsuchen, rissen Schränke auf, überprüften die verlassenen Krankenbetten, suchten nach versteckten Waffen oder Soldaten. Einer der jungen Soldaten, kaum älter als 20, entdeckte die noch lebenden Verwundeten in einem Nebenraum. Er rief etwas, und mehrere Kameraden eilten herbei. Die deutschen Frauen hielten den Atem an. Würden sie die wehrlosen Verwundeten jetzt exekutieren?
Stattdessen begannen die Sowjets, die Verletzten vorsichtig zu untersuchen, Verbände zu überprüfen. Einer der Soldaten holte sogar seine eigene Feldflasche und gab einem ausgedörrten deutschen Soldaten zu trinken. Die Frauen verstanden nichts mehr. Das war nicht das, was man ihnen versprochen hatte.
Nach etwa 20 Minuten angespannter Durchsuchung wurden die Frauen nach oben befohlen. Mit erhobenen Händen, zitternd vor Angst und Kälte, stolperten sie die Treppe hinauf ins grelle Tageslicht.
Gefangenschaft und das unerwartete Gesicht
Berlin im Mai 1945 war ein Bild der Apokalypse. Überall rauchende Ruinen, umgestürzte Straßenbahnen, aufgerissene Straßen. Sowjetische Panzer rollten durch die Trümmer. Soldaten mit roten Fahnen standen auf den Dächern der wenigen noch stehenden Gebäude.
Die Frauen wurden in zwei Gruppen getrennt, aber nicht, wie sie befürchtet hatten, nach Alter oder Aussehen, sondern einfach nach der Reihenfolge, in der sie herauskamen. Man führte sie zu einem provisorischen Sammelplatz in einem ehemaligen Schulhof. Überall sah man deutsche Zivilisten und Soldaten in Gefangenschaft, erschöpfte, verschmutzte Gestalten, die teilnahmslos herumsassen. Ein sowjetischer Soldat mit einem Klemmbrett begann, Informationen aufzunehmen. „Name, Alter, Beruf?“, fragte er in gebrochenem Deutsch. Die Frauen waren zu verängstigt, um nicht zu antworten.
Gegen Abend wurden sie auf offene Lastwagen verladen, jeweils etwa zehn Frauen pro Fahrzeug, bewacht von bewaffneten Soldaten. Niemand hatte ihnen gesagt, wohin die Fahrt ging. Gertrud Sommer presste das Foto ihrer toten Söhne an ihre Brust und schloss die Augen. Sie hatte immer noch die Zyankali-Ampulle in der Hand, versteckt in ihrer geballten Faust. Wenn es soweit war, würde sie bereit sein.
Die Fahrt führte durch die zerstörte Stadt, vorbei an brennenden Gebäuden und Leichenbergen, die hastig mit Planen bedeckt waren. Die sowjetischen Soldaten sprachen wenig, aber sie verhielten sich nicht wie die Monster aus der Propaganda. Einer bot sogar seine Wasserflasche an, als er sah, wie durstig die Frauen waren. Irmgard Koch starrte ihn misstrauisch an. War das eine Falle? Ein Trick, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen? Sie lehnte ab und wandte den Blick ab.
Nach etwa zwei Stunden erreichten sie ein großes, eingezäuntes Gelände am Stadtrand, ein ehemaliges Fabrikgebäude, das zu einem provisorischen Gefangenenlager umfunktioniert worden war. Als die Lastwagen durch das schwere Eisentor fuhren, das quietschend hinter ihnen zuschlug, fühlte Lisel, wie sich ihr Magen zusammenzog. Das war es also. Hier würde ihr Leben enden.
Das Gelände war voller Menschen: Hunderte, vielleicht Tausende deutsche Kriegsgefangene, sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Stacheldraht überall, Wachtürme an den Ecken. Sowjetische Fahnen wehten im Abendwind.
Die Frauen wurden in einen separaten Bereich geführt, getrennt von den männlichen Gefangenen. In einer langen, fensterlosen Baracke wurden sie untergebracht: kahle Holzwände, primitive Pritschen, ein eisiger Luftzug durch die Ritzen. Keine Folterinstrumente, keine Henker – nur Leere und Ungewissheit.
Eine ältere Frau, die bereits seit zwei Tagen hier war, flüsterte ihnen zu: „Morgen kommen die Ärzte. Sie untersuchen alle neuen Gefangenen.“ Die Worte verbreiteten sich wie Lauffeuer unter den Neuankömmlingen. Ärzte. Untersuchungen. Die Frauen kannten die Geschichten über medizinische Experimente, über Erniedrigung und Missbrauch unter dem Deckmantel der Medizin. Keine von ihnen schlief in dieser Nacht. Sie lagen wach auf den harten Pritschen, lauschten den fremden Geräuschen des Lagers und hielten ihre Zyankali-Ampullen umklammert wie Talismane gegen das Böse.
Dr. Volkow: Die erste Lektion
Der Morgen des 4. Mai kam zu schnell, ein kalter, grauer Morgen, an dem der Regen gegen die Wellblechdächer der Baracken prasselte und die Realität ihrer Situation noch trostloser erscheinen ließ.
Um 7 Uhr öffnete sich die Tür der Frauenbaracke, und eine sowjetische Soldatin in Uniform trat ein, eine große, schlanke Frau mit strengem Gesichtsausdruck und dunklen Haaren, die zu einem praktischen Knoten gebunden waren. Sie trug keine Waffe, nur ein Klemmbrett und einen Stift.
„Guten Morgen“, sagte sie in akzentfreiem, perfektem Deutsch, was die 32 Frauen sofort aufschrecken ließ. „Mein Name ist Dr. Katharina Volkow. Ich bin Militärärztin der Roten Armee. Alle Neuankömmlinge müssen sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Das ist kein Vorschlag, sondern ein Befehl. Aber ich versichere Ihnen, es ist zu Ihrer eigenen Gesundheit. Viele Gefangene kommen mit Verletzungen, Infektionen oder Krankheiten hier an, die behandelt werden müssen.“
Die Stille, die auf diese Worte folgte, war erdrückend. Die Frauen sahen sich gegenseitig an, ihre Gesichter Masken aus Angst und Misstrauen. Medizinische Untersuchung? Die Worte klangen wie ein Todesurteil in ihren Ohren. Frau Krause erinnerte sich an die Geschichten, die man ihnen erzählt hatte: von sowjetischen Ärzten, die in Wirklichkeit Sadisten waren, von Experimenten an hilflosen Frauen, von Demütigungen, die schlimmer waren als der Tod.
„Ich werde als Erste gehen“, sagte plötzlich eine Stimme. Es war Edeltraut Bäcker, eine Krankenschwester aus Köln, deren Hände immer noch von der Arbeit im Lazarett schmutzig waren. Ihr Gesicht war blass, aber entschlossen. „Wenn Sie mit uns machen, was wir befürchten, dann soll ich die Erste sein. Dann wisst ihr Bescheid.“
Dr. Volkow betrachtete sie mit einem undefinierbaren Ausdruck, nickte dann und bedeutete Edeltraut, ihr zu folgen. Die übrigen Frauen verfolgten mit angehaltenem Atem, wie Edeltraut aus der Baracke geführt wurde. Ihre Schritte unsicher, ihre Haltung aufrecht wie eine Frau, die zum Schafott geht.
15 Minuten vergingen wie Stunden. Keine Schreie drangen nach draußen, keine Geräusche außer dem stetigen Regen. Die Frauen saßen bewegungslos, manche beteten lautlos, andere starrten auf die Tür. Lisel spürte, wie sich ihre Finger um die Zyankali-Ampulle in ihrer Tasche schlossen. Wenn Edeltraut nicht zurückkehrte oder verletzt zurückkam, würde sie den Inhalt schlucken, bevor sie an der Reihe war. Sie würde nicht auf diese Weise sterben, nicht durch fremde Hände.
Dann öffnete sich die Tür, und Edeltraut trat ein. Sie war nicht blutig, nicht verletzt, nicht einmal zerzaust, aber ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck völliger Verwirrung, als hätte sie etwas gesehen, das ihr Verstand nicht verarbeiten konnte. Sie ging langsam zu ihrer Pritsche, setzte sich und starrte auf ihre Hände.
„Edeltraut!“, flüsterte Gertrud dringend, „Was haben Sie mit dir gemacht?“ Edeltraut hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren feucht. „Sie hat mich untersucht“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Einfach nur untersucht. Wie eine richtige Ärztin.“
Die Worte ergaben keinen Sinn. „Was meinst du?“, fragte Irmgard ungläubig. Edeltraut schüttelte den Kopf, als würde sie selbst nicht glauben, was sie erzählte. „Sie hat meinen Puls gemessen, meine Augen überprüft, nach Verletzungen gesucht. Sie hat eine Wunde an meiner Hand entdeckt, die sich entzündet hatte – ich hatte sie seit Tagen ignoriert. Sie hat sie gereinigt, desinfiziert und verbunden. Dann hat sie mir Tabletten gegeben. Sulfanilamid, sagte sie, gegen die Infektion. Sie war…“ Edeltraut suchte nach Worten. „Sie war professionell, höflich, sogar. Sie hat mich gefragt, ob ich Schmerzen hätte, ob ich Allergien gegen Medikamente hätte, als wäre ich eine Patientin, keine Kriegsgefangene.“
Die anderen Frauen starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Das konnte nicht stimmen. Das passte nicht zu allem, was man ihnen beigebracht hatte. „Sie lügt“, zischte eine der jüngeren Frauen, „Oder sie ist im Schock. Das ist ein Trick, um uns gefügig zu machen.“
Aber eine nach der anderen wurden sie gerufen, und eine nach der anderen kehrten sie zurück mit demselben verwirrten Ausdruck. Dr. Volkow untersuchte jede gründlich, aber respektvoll. Sie behandelte Schnittwunden, Verbrennungen, Erfrierungen an Händen und Füßen. Sie diagnostizierte zwei Fälle von beginnender Tuberkulose und ordnete sofortige Quarantäne und Behandlung an. Sie gab Vitaminpräparate an diejenigen aus, die Anzeichen von Mangelernährung zeigten, was praktisch alle betraf. Niemals war sie grob, niemals erniedrigend.
Als Lisel schließlich an der Reihe war, zitterte sie so stark, dass sie kaum gehen konnte. Dr. Volkow führte sie in einen kleinen, mit einem Vorhang abgetrennten Bereich einer anderen Baracke, der als provisorisches Sprechzimmer diente. Eine Pritsche, ein kleiner Tisch mit medizinischen Instrumenten, eine Kerosinlampe, die warmes Licht spendete.
„Setzen Sie sich“, sagte die Ärztin freundlich. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin hier, um zu helfen, nicht um zu schaden.“ Aber Lisel konnte die Angst nicht abschütteln, die in ihr saß wie ein lebendiges Wesen. Sie schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidliche. Was kam, waren nur sanfte Hände, die ihren Puls fühlten, ein Stethoskop, das ihre Lungen abhörte, und eine ruhige Stimme, die Fragen stellte.
Als sie 20 Minuten später zurückkehrte, mit einem frischen Verband um einen Schnitt, dessen sie sich gar nicht bewusst gewesen war, verstand sie zum ersten Mal, was die anderen gemeint hatten. Die Welt, die sie zu kennen glaubte, hatte sich in ihren Grundfesten verschoben.
Der Rhythmus der Verwirrung
Die ersten Wochen im Lager verliefen in einem Rhythmus, der so fremd war, dass er unwirklich erschien. Jeden Morgen um 6 Uhr wurden die Frauen durch eine Glocke geweckt. Es gab eine Zählung, immer eine Zählung. Die Sowjets waren besessen von Listen und Nummern.
Aber danach folgte etwas völlig Unerwartetes: Frühstück. Es war kein üppiges Mahl, aber es war Essen. Eine dünne Suppe aus Kartoffeln und Kohl, manchmal ein Stück dunkles Brot, gelegentlich sogar ein Löffel Zucker für den schwarzen Tee. Für Frauen, die in den letzten Kriegsmonaten oft tagelang gehungert hatten, war es ein Festmahl. Sie aßen langsam, misstrauisch, als würde das Essen jeden Moment vergiftet sein oder ihnen entrissen werden. Aber nichts dergleichen geschah. Tag für Tag kam das Essen regelmäßig, wie ein Uhrwerk.
Nach dem Frühstück gab es Arbeitszuteilungen: leichte Aufgaben wie das Sortieren von medizinischem Material, das Waschen von Verbänden, das Organisieren von Vorräten. Nichts Schweres, nichts Erniedrigendes.
Was die Frauen am meisten verwirrte, war die medizinische Betreuung. Dr. Volkow und ihr Team aus drei sowjetischen Krankenschwestern kamen jeden zweiten Tag, um nach den Patientinnen zu sehen. Sie überwachten die Tuberkulosefälle in der Quarantänebaracke mit einer Sorgfalt, die an Hingabe grenzte. Sie wechselten Verbände, verteilten Medikamente – echte Medikamente, keine Placebos oder Giftpillen – und notierten akribisch den Fortschritt jeder Patientin.
Hilde Fischer, eine 40-jährige Witwe aus Leipzig, hatte eine schwere Lungenentzündung entwickelt. In den ersten Tagen im Lager fiel ihre Temperatur auf gefährliche Werte. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Ihr Atem rasselte bedrohlich. Dr. Volkow persönlich übernahm ihre Behandlung, blieb ganze Nächte an ihrer Seite, kühlte ihr Fieber mit feuchten Tüchern, flößte ihr Brühe ein, als sie zu schwach zum Schlucken war.
Die anderen Frauen beobachteten dies mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und wachsender Verwirrung. Warum tat sie das? Warum setzte eine sowjetische Ärztin ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, um eine deutsche Gefangene zu retten?
Nach drei Wochen im Lager begann die eiserne Fassade zu bröckeln. Die Frauen sprachen miteinander, heimlich nachts auf den Pritschen, versuchten zu verstehen, was hier geschah. „Vielleicht ist es eine Langzeitstrategie“, mutmaßte Irmgard. „Sie machen uns gesund, damit wir Zwangsarbeit leisten können. Wartet nur ab.“ Aber Wochen vergingen, und die Zwangsarbeit blieb aus.
Stattdessen wurden sie gefragt – gefragt, ob sie helfen wollten, im Lazarett des Lagers zu arbeiten. Diejenigen mit medizinischer Ausbildung wie Edeltraut und Lisel bekamen sogar die Möglichkeit, unter Aufsicht der sowjetischen Krankenschwestern zu arbeiten.
Es war demütigend für sie, von Frauen angeleitet zu werden, die sie als minderwertig betrachtet hatten, aber es war auch lehrreich. Die sowjetischen Krankenschwestern waren außerordentlich kompetent. Sie kannten Techniken und Verfahren, die in deutschen Lehrbüchern nicht zu finden waren. Sie arbeiteten mit einer Effizienz und einem Können, das Respekt verdiente – ein Gedanke, der Lisel Übelkeit bereitete, denn er widersprach allem, was sie ihr Leben lang geglaubt hatte.
Hass heilt keine Wunden
Eines Nachmittags Ende Mai, als die Sonne tatsächlich durch die Wolken brach und das Lager in ungewohnt goldenes Licht tauchte, geschah etwas Bemerkenswertes. Dr. Volkow bat mehrere der deutschen Frauen, ihr in das improvisierte Sprechzimmer zu folgen. Sie erwarteten eine weitere Untersuchung, vielleicht schlechte Nachrichten.
Stattdessen breitete die Ärztin Schwarz-Weiß-Fotos auf dem Tisch aus. „Das sind meine Kinder gewesen“, sagte sie leise auf Deutsch, ohne die Frauen anzusehen. Auf den Fotos waren zwei kleine Jungen zu sehen, vielleicht fünf und sieben Jahre alt, mit breiten Lächeln und lebendigen Augen. „Anton und Dimitri. Sie sind in Stalingrad gestorben. Im Winter ’42, während der Belagerung. Anton verhungerte, Dimitri erfror. Mein Mann war bei der Verteidigung gefallen. Ich war im Lazarett, hunderte Kilometer entfernt, konnte nichts tun.“
Die Stille im Raum war absolut. Die deutschen Frauen starrten auf die Fotos, unfähig zu sprechen.
„Warum erzähle ich Ihnen das?“, fuhr Dr. Volkow fort. Ihre Stimme fest, trotz der Tränen in ihren Augen. „Weil ich möchte, dass Sie verstehen: Ich habe jeden Grund, Deutsche zu hassen. Jeden einzelnen Grund. Aber Hass heilt keine Wunden. Hass bringt meine Söhne nicht zurück. Hass macht die Welt nur noch dunkler.“
Die Worte trafen wie Hammerschläge. Gertrud Sommer begann zu weinen. Laute, verzweifelte Schluchzer, die sie nicht länger unterdrücken konnte. Sie zog das Foto ihrer eigenen toten Söhne aus der Tasche und legte es neben das von Dr. Volkow’s Kindern auf den Tisch. Vier Jungen, auf verschiedenen Seiten geboren, alle vom selben Krieg verschlungen.
„Meine Söhne sind an der Ostfront gefallen“, flüsterte Gertrud. „Der eine bei Kursk, der andere bei Warschau. Sie waren 19 und 20. Sie sagten, sie würden für die Heimat kämpfen, für die Zukunft. Aber welche Zukunft? Wofür sind sie gestorben?“
Dr. Volkow nahm ihre Hand. Eine sowjetische Ärztin hielt die Hand einer deutschen Mutter, und beide weinten um Söhne, die von denselben Lügen in den Tod getrieben worden waren.
In diesem Moment zerbrach etwas Fundamentales in den Herzen der Frauen. Die klaren Linien zwischen „wir“ und „die“, zwischen Gut und Böse, zwischen Opfer und Täter, verschwammen zu einem Grau, das schmerzhafter war als jedes Schwarz oder Weiß. Sie hatten erwartet, Monster vorzufinden. Stattdessen trafen sie Menschen – Menschen, die sie genauso verletzt hatten, wie sie selbst verletzt worden waren. Und diese Erkenntnis war schwerer zu ertragen, als jede Folter hätte sein können.
Die Lüge zerbricht
Anfang Juni erreichten die ersten offiziellen Nachrichten das Lager. Ein sowjetischer Offizier kam mit einem Stapel deutscher Zeitungen, Ausgaben, die unter alliierter Kontrolle gedruckt wurden. Die Schlagzeilen waren apokalyptisch: Führertod, Selbstmord im Bunker, bedingungslose Kapitulation, Deutschland in Trümmern.
Die Frauen drängten sich um die Zeitungen, rissen sie einander aus den Händen, suchten verzweifelt nach Informationen über ihre Heimatstädte. Was sie lasen, zerschmetterte die letzten Reste ihrer alten Welt. Berlin war zu 70 % zerstört, Hamburg lag in Schutt und Asche, Dresden existierte praktisch nicht mehr. Millionen waren tot, weitere Millionen obdachlos. Das Land war aufgeteilt zwischen den Siegermächten.
Das Regime, dem sie gedient hatten, ob freiwillig oder gezwungen, hatte nicht nur den Krieg verloren: Es hatte Deutschland selbst zerstört. Hitler hatte nicht für die Zukunft des Volkes gekämpft, sondern es in den Abgrund gerissen. Die Propaganda, die versprochen hatte, dass Deutschland 1000 Jahre bestehen würde, hatte nicht einmal 12 Jahre durchgehalten, bevor sie in Flammen aufging.
Die emotionale Wirkung dieser Erkenntnisse war verheerend. Manche Frauen verfielen in tiefe Depressionen, lagen tagelang auf ihren Pritschen und starrten an die Decke. Andere wurden wütend, eine lodernde, hilflose Wut auf die Männer, die sie belogen hatten, auf das System, das sie benutzt hatte, auf ihre eigene Naivität.
Frau Krause, die ehemalige Lehrerin, saß eines Abends auf ihrer Pritsche und weinte bittere Tränen. „Ich habe es ihnen beigebracht“, schluchzte sie. „All die Jahre in der Schule. Ich habe den Kindern erzählt, dass unser Führer weise sei, dass unsere Sache gerecht sei, dass wir das Herrenvolk seien. Ich habe Generationen von Kindern vergiftet mit diesen Lügen. Und wofür? Wofür?“
Niemand konnte sie trösten, denn sie alle trugen ihre eigene Schuld. Sie hatten alle geglaubt, mitgemacht, geschwiegen, als sie hätten sprechen sollen. Die Erkenntnis, dass sie Komplizen ihrer eigenen Zerstörung gewesen waren, war eine Qual, gegen die es keine Medizin gab.
Bildung als Heilung
In dieser Zeit der inneren Zerrissenheit bot Dr. Volkow etwas an, das noch verwirrender war als alles andere: Bildung. Sie organisierte Vorträge über Medizin, hielt Kurse über moderne chirurgische Techniken, über die Behandlung von Infektionskrankheiten, über öffentliche Gesundheit.
Die Kurse waren freiwillig, aber erstaunlich viele Frauen nahmen teil. Sie saßen in einer umfunktionierten Baracke auf harten Holzbänken und hörten zu, wie eine sowjetische Ärztin, eine Frau aus dem Land, das sie als kulturell rückständig verachtet hatten, ihnen Wissen vermittelte, das selbst an deutschen Universitäten nicht gelehrt wurde.
Dr. Volkow erklärte die neuesten Erkenntnisse über Penicillin, das die Alliierten in großem Maßstab produzierten. Sie demonstrierte Bluttransfusionstechniken, die deutsche Militärärzte noch als experimentell ablehnten. Sie sprach über die Bedeutung von Hygiene und Ernährung für die Genesung – Konzepte, die simpel klangen, aber in der Praxis Leben retteten.
Lisel, die als junge Frau davon geträumt hatte, Medizin zu studieren, bevor der Krieg ihre Pläne zerstörte, sog jedes Wort auf. Es war demütigend zu erkennen, wie viel sie nicht wusste, wie begrenzt ihre Ausbildung gewesen war, wie sehr die Propaganda auch die Wissenschaft verfälscht hatte.
Eines Tages im späten Juni bat Dr. Volkow Lisel, ihr bei einer komplizierten Prozedur zu assistieren. Ein sowjetischer Soldat war bei einem Minenunfall schwer verletzt worden. Seine Hand war zerfetzt, die Knochen gebrochen. Eine Amputation schien unvermeidlich, aber Dr. Volkow weigerte sich aufzugeben. Stunde um Stunde arbeitete sie mit Präzision und Geduld, nähte winzige Blutgefäße zusammen, richtete Knochensplitter aus, rettete, was zu retten war. Lisel reichte Instrumente, tupfte Blut, hielt Lampen und lernte mehr in diesen fünf Stunden, als in all ihren Monaten als Helferin im deutschen Lazarett.
Am Ende behielt der Soldat seine Hand. Sie würde nie wieder voll funktionsfähig sein, aber er würde sie behalten.
Als Lisel die Ärztin später fragte, warum sie so viel Mühe für eine so unsichere Prognose aufgewandt hatte, sah Dr. Volkow sie mit einem Ausdruck an, der Mitleid und Traurigkeit vereinte. „Weil jedes Leben wertvoll ist“, sagte sie einfach. „Weil er ein Mensch ist, mit Träumen und Menschen, die ihn lieben. Weil ich Ärztin bin, und das bedeutet etwas.“
Es war eine so simple Antwort, aber sie erschütterte Lisel bis ins Mark. Das also war der Unterschied: Für Dr. Volkow war die Medizin kein Werkzeug der Ideologie, sondern ein Akt der Menschlichkeit.
Die Komplizenschaft der Stille
Die Risse in der alten Weltanschauung weiteten sich zu Abgründen. Abend für Abend saßen die Frauen zusammen und diskutierten, flüsterten, stritten: „Wie konnten wir so blind sein? Waren wir wirklich so manipuliert, oder wollten wir einfach glauben? Sind wir Opfer oder Täterinnen?“ Es gab keine einfachen Antworten.
Manche, wie Irmgard, klammerten sich verzweifelt an Reste der alten Überzeugungen. „Die Ärzte hier sind vielleicht die Ausnahme“, behauptete sie stur. „Das beweist nicht, dass alles falsch war, was man uns gesagt hat.“ Aber ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren hohl.
Andere, wie Lisel, begannen einen schmerzhaften Prozess der Neubewertung. Sie holten alte Erinnerungen hervor, untersuchten sie im Licht der neuen Erkenntnisse. Die Nachbarin, die eines Nachts verschwunden war: War das wirklich nur umgezogen, wie man ihnen erzählt hatte? Die Gerüchte über die Lager im Osten: Waren das wirklich nur feindliche Propaganda gewesen?
Je tiefer sie gruben, desto mehr Lügen fanden sie, Schicht um Schicht, wie Gift im Boden. Und die schrecklichste Erkenntnis von allen war, dass sie nicht völlig unschuldig waren. Sie hatten profitiert von diesem System, hatten weggeschaut, hatten geschwiegen. Ihre Hände waren vielleicht nicht blutig, aber sie waren auch nicht sauber. Diese Wahrheit zu akzeptieren, war wie eine zweite Gefangenschaft, eine im eigenen Gewissen, aus der es keine Befreiung gab.
Als im Juli die ersten Briefe aus der sowjetischen Zone und den westlichen Besatzungszonen das Lager erreichten, brach eine neue Welle der Verzweiflung über die Frauen herein. Die Briefe waren auf dünnem, grauem Papier geschrieben, manche kaum lesbar, viele Monate unterwegs gewesen durch das Chaos der Nachkriegszeit.
Gertrud Sommer erhielt Nachricht von einer Cousine aus Hamburg. Ihre alte Wohnung war zerstört. Die Straße, in der sie gelebt hatte, existierte nicht mehr. Ihre Schwester war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Die Nachricht war sechs Wochen alt, geschrieben in hastiger, zittriger Schrift.
Frau Krause bekam einen Brief von ihrer Tochter aus Dresden. Die Stadt war ein Friedhof aus Asche, Tausende tot. Die Überlebenden hausten in Ruinen ohne Wasser oder Strom. „Komm bitte nach Hause, Mama“, stand am Ende in kindlicher Schrift. „Ich habe solche Angst.“ Aber es gab kein Zuhause. Das Deutschland, das sie gekannt hatten, existierte nicht mehr.
Die emotionale Belastung wurde durch etwas noch Schwereres verstärkt: die wachsende Erkenntnis ihrer eigenen Rolle in dieser Katastrophe. Eine der Krankenschwestern, Waltraut Peters, hatte einen Zusammenbruch, als sie einen Brief von ihrem Mann erhielt. Er war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und hatte gerade erfahren, was wirklich in den Konzentrationslagern geschehen war. „Sie zeigten uns Bilder“, schrieb er mit zitternder Hand. „Berge von Leichen, ausgemergelte Menschen, Krematorien. Waltraut, das kann nicht unser Volk gewesen sein. Bitte, sag mir, dass das nicht wir waren.“
Aber es war ihr Volk gewesen. Die Beweise waren unwiderlegbar. Die Alliierten zwangen deutsche Zivilisten, durch die befreiten Lager zu gehen, die Beweise zu sehen. Die Zeitungen, die ins Lager kamen, waren voll von Fotografien, von Zeugenaussagen, von dokumentierten Grausamkeiten.
Manche Frauen weigerten sich, die Bilder anzusehen. „Das ist alliierte Propaganda“, beharrten sie. Aber die Mehrheit konnte sich der Wahrheit nicht mehr verschließen. Nachts hörte man in der Baracke leises Weinen, Gebete um Vergebung für Sünden, die sie nicht direkt begangen, aber durch Schweigen ermöglicht hatten.
Der Weg zur Wahrheit
In dieser Zeit der moralischen Krise teilten sich die Frauen in drei Gruppen.
Die erste, klein, aber lautstark, klammerte sich an die alten Überzeugungen. Geführt von Irmgard Koch, behaupteten sie, dass die Berichte übertrieben seien, dass Deutschland in einen Verteidigungskrieg gezwungen worden sei, dass die wahren Verbrecher die Alliierten seien, die deutsche Städte zerbombt hatten. Sie saßen abends zusammen und flüsterten über die guten alten Zeiten, vermieden sorgfältig, über alles zu sprechen, was diese nostalgische Illusion stören könnte. Sie behandelten die sowjetischen Ärzte mit kalter Höflichkeit, nahmen die medizinische Versorgung an, weigerten sich aber, irgendeine Anerkennung oder Dankbarkeit zu zeigen.
Die zweite Gruppe, die größte, befand sich in einem Zustand lähmender Verwirrung. Sie wussten nicht mehr, was sie glauben sollten. War alles falsch gewesen, oder nur manches? Wo war die Grenze zwischen patriotischer Pflicht und verbrecherischer Komplizenschaft? Sie schwankten zwischen Selbstmitleid und Selbstvorwürfen, zwischen Wut auf die, die sie belogen hatten, und Wut auf sich selbst, weil sie es geglaubt hatten.
Die dritte Gruppe, anfangs klein, begann einen schmerzhaften, aber notwendigen Prozess: Sie sahen sich der Wahrheit. Lisel gehörte zu ihnen. Sie verbrachte Stunden damit, über ihr Leben nachzudenken: jede Entscheidung, jeden Moment, in dem sie hätte Fragen stellen können, aber nicht gefragt hatte.
Sie erinnerte sich an eine jüdische Familie in ihrer Straße, die eines Nachts verschwunden war. Die Eltern hatten ihr früher manchmal Bonbons geschenkt, wenn sie von der Schule nach Hause kam. Danach war das Geschäft übernommen worden, von „Ariern“, und Lisel hatte weiterhin dort eingekauft, als wäre nichts geschehen. Sie hatte nie gefragt, wohin die Familie gegangen war. Sie hatte es nicht wissen wollen. Diese Erinnerung quälte sie nun Tag und Nacht.
Gertrud Sommer erinnerte sich an die Flüsterwitze über die „Aktionen“ im Osten, die dunklen Andeutungen darüber, was mit „unerwünschten Elementen“ geschah. Sie hatte mitgelacht oder geschwiegen, hatte es als Übertreibung abgetan. „Wir wollten nicht sehen“, gestand sie eines Abends Dr. Volkow. „Es war bequemer, nicht zu sehen. Macht uns das zu Mördern?“
Dr. Volkow antwortete mit einer Geschichte. Sie erzählte von einem russischen Sprichwort: „Wer schweigt, wenn er sprechen sollte, macht sich zum Komplizen.“ Aber sie fügte hinzu: „In einer Diktatur ist Schweigen oft Überleben. Ihre Schuld liegt nicht darin, dass Sie nicht Heldinnen waren. Sie liegt darin, wie Sie jetzt mit dieser Erkenntnis umgehen. Werden Sie weitermachen, sich selbst zu belügen, oder werden Sie die Wahrheit akzeptieren und versuchen, daraus zu lernen?“
Diese Worte lösten etwas aus. Die Frauen begannen, miteinander zu sprechen – wirklich zu sprechen, nicht nur zu reden. Sie teilten ihre Geschichten, ihre Scham, ihre Reue. Sie weinten zusammen, nicht nur um das, was ihnen angetan worden war, sondern um das, was in ihrem Namen getan worden war. Es war ein schmerzhafter Prozess, wie eine Wunde zu öffnen, um das Gift herauszulassen. Aber es war auch der Beginn von etwas, das vielleicht einmal Heilung werden könnte – nicht Vergebung. Manche Dinge waren unverzeihlich. Aber Verständnis. Ehrlichkeit. Die Kraft, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, egal wie hässlich sie war.
Die Geschichte des Feindes
An einem schwülen Augustabend, als die Hitze in der Baracke kaum zu ertragen war und die Frauen mit offenen Türen und Fenstern nach Luft suchten, geschah etwas Außergewöhnliches. Dr. Volkow kam später als üblich zu ihrem abendlichen Rundgang. Ihr Gesicht zeigte eine Müdigkeit, die tiefer ging als körperliche Erschöpfung.
Sie setzte sich auf eine der Pritschen, etwas, das sie nie zuvor getan hatte, und sah die versammelten Frauen an. „Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?“, fragte sie leise. Die Frauen nickten stumm. Was folgte, war eine Erzählung von solcher Intensität und Tragödie, dass sie danach nie mehr dieselben sein würden.
Dr. Volkow beschrieb ihre Kindheit in einem kleinen Dorf bei Smolensk, wo ihr Vater Arzt gewesen war. Sie erzählte von ihrer Ausbildung in Moskau, von ihrem Mann Alexei, einem Ingenieur, der Brücken baute, von der Geburt ihrer Söhne Anton und Dimitri, von ihrem Lachen, ihren Träumen, ihrer Zukunft.
Dann kam der Krieg. „Alexei wurde im Juli ’41 eingezogen“, erzählte sie mit tonloser Stimme. „Er fiel im September bei der Verteidigung von Kiew. Ich erfuhr es erst sechs Monate später. Die Post war unterbrochen. Ich arbeitete in einem Frontlazarett, sah jeden Tag, wie junge Männer starben, Männer im Alter meines Mannes. Ich wusste, dass Alexei tot sein musste, noch bevor die offizielle Nachricht kam. Man spürt so etwas.“
Sie pausierte, kämpfte sichtbar mit ihren Emotionen. „Die Jungen blieben bei meinen Eltern. Im November ’42 begann die Belagerung von Stalingrad. Meine Heimatstadt lag auf der Nachschubroute. Die deutschen Truppen kamen durch, brannten alles nieder. Das Dorf wurde evakuiert, aber es war Winter. Es gab nicht genug Transportmittel, nicht genug Lebensmittel. Meine Mutter schrieb mir Briefe, ich habe sie noch alle. Sie beschrieb, wie Anton dünner wurde, wie er nicht mehr spielte, wie er nur noch lag und in die Leere starrte. Der letzte Brief kam im Februar ’43: ‚Anton ist heute morgen eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht‘, schrieb sie. ‚Dimitri fragt jeden Tag nach ihm. Ich habe keine Kraft mehr, ihm zu antworten.‘“
Die Stille in der Baracke war absolut. Manche Frauen weinten bereits.
Dr. Volkow fuhr fort: „Dimitri starb drei Wochen später. Erfroren in der Nacht. Meine Mutter hatte keine Decken mehr, kein Feuerholz. Sie hielt ihn in ihren Armen, versuchte, ihn mit ihrem eigenen Körper warm zu halten, aber es war nicht genug. Meine Mutter überlebte, aber sie war nie wieder dieselbe. Sie lebt jetzt in einem Heim für Kriegswitwen. Erkennt mich nicht mehr, wenn ich sie besuche. Der Krieg hat mir alles genommen. Meinen Mann, meine Söhne, meine Mutter, meine Kindheit, mein Zuhause. Alles.“
Sie sah auf. Ihre Augen glänzten von Tränen, aber ihre Stimme war fest. „Wissen Sie, was das Schrecklichste daran ist? Ich bin nicht einzigartig. Fast jede sowjetische Familie hat so gelitten. 27 Millionen Sowjetbürger sind tot, ganze Dörfer ausgelöscht, Generationen vernichtet. Und die meisten dieser Menschen waren keine Soldaten. Es waren Kinder wie meine Söhne, alte Menschen, Frauen.“
Gertrud Sommer konnte nicht mehr an sich halten. Sie stand auf, wankte zu Dr. Volkow und fiel vor ihr auf die Knie. „Es tut mir leid“, schluchzte sie. „Es tut mir so leid. Meine Söhne haben dafür gekämpft. Meine Söhne waren Teil der Armee, die die… das…“ Sie konnte nicht weitersprechen.
Dr. Volkow legte eine Hand auf ihren Kopf, eine Geste, die seltsam mütterlich war. „Ihre Söhne waren auch Opfer“, sagte sie leise. „Junge Männer, die in eine Ideologie hinein manipuliert wurden, die sie für Lügen sterben ließ. Glauben Sie, ich hasse sie? Ich hasse diejenigen, die den Krieg begannen. Die Propagandamaschine, die junge Menschen in Mörder verwandelte. Aber Ihre Söhne, meine Söhne – sie waren alle Opfer desselben Wahnsinns.“
Sie half Gertrud aufzustehen, sah dann alle Frauen an. „Deshalb bin ich Ärztin geblieben, nicht aus Pflicht, aus Wahl. Denn wenn ich zu hassen beginne, wenn ich Rache nehme, bin ich nicht besser als diejenigen, die meine Familie zerstört haben. Jedes Leben, das ich rette, ob Sowjet oder Deutscher, Freund oder Feind, ist ein Sieg über das Böse, das uns beiden angetan wurde.“
In diesem Moment veränderte sich etwas Fundamentales. Die Frauen sahen Dr. Volkow nicht mehr als ihre Gefängniswärterin oder als Vertreterin einer feindlichen Macht. Sie sahen einen Menschen, einen Menschen, der mehr Grund hatte zu hassen als sie alle zusammen, der aber stattdessen den schwereren Weg gewählt hatte: den Weg der Heilung statt der Vergeltung.
In den folgenden Tagen und Wochen öffneten sich Türen, die lange verschlossen gewesen waren. Die sowjetischen Krankenschwestern begannen, ihre eigenen Geschichten zu teilen. Natascha, eine junge Frau, kaum älter als Lisel, erzählte von ihrer Vergewaltigung durch deutsche Soldaten während der Besatzung ihres Dorfes. Sie war danach schwanger geworden, hatte das Kind geboren und zur Adoption freigegeben. „Ich konnte es nicht behalten“, gestand sie mit gebrochener Stimme. „Jedes Mal, wenn ich es ansah, sah ich die Männer, die…“ Sie musste nicht weitersprechen. Und doch behandelte Natascha die deutschen Frauen mit Professionalität und Respekt. „Ihr seid nicht sie“, sagte sie einfach.
Eine andere Krankenschwester, Olga, hatte ihre gesamte Familie in Leningrad während der Blockade verloren: 900 Tage Hunger, über eine Million Tote. Diese Frauen hätten allen Grund gehabt, die deutschen Gefangenen zu verachten, zu misshandeln, Rache zu nehmen. Stattdessen heilten sie sie. Die deutschen Frauen begriffen langsam: Das war nicht Schwäche, das war Stärke. Eine moralische Stärke, die sie selbst nie besessen hatten, die in ihrem eigenen Land nie gefördert worden war. Und diese Erkenntnis war zugleich beschämend und befreiend.
Die Verantwortung der Wahrheit
Anfang September kam die Nachricht, auf die sie alle gewartet hatten, aber die jetzt niemand mehr wirklich wollte: Die deutschen Gefangenen würden repatriiert. Sie würden in ihre Heimat zurückkehren – oder zu dem, was davon übrig war.
Die Reaktionen waren gemischt. Irmgard Koch, die immer noch an Resten der alten Überzeugungen festhielt, war erleichtert. „Endlich weg von hier“, murmelte sie. Aber ihre Augen verrieten Unsicherheit. Wohin sollte sie zurückkehren? Köln war zerstört, ihre Familie tot oder vermisst, ihr altes Leben ausgelöscht.
Andere, wie Lisel, fühlten eine seltsame Ambivalenz. Das Lager war ein Gefängnis gewesen, aber es war auch ein Ort der Transformation geworden. Hier hatten sie Wahrheiten gelernt, die schmerzten, aber befreit hatten. Hier hatten sie Menschen getroffen, die ihnen zeigten, was Menschlichkeit wirklich bedeutete. Die Rückkehr in ein Deutschland, das von Schuld, Scham und Ruinen geprägt war, erschien fast bedrohlicher als der Aufenthalt hier.
Dr. Volkow organisierte Vorbereitungstreffen. Sie sprach praktisch über die Herausforderungen, die auf sie warteten: Mangel an Nahrung, zerstörte Infrastruktur, das Trauma der Nachkriegsgesellschaft. Sie gab ihnen medizinische Ratschläge, erklärte, wie man mit minimalsten Ressourcen Wunden versorgte, Infektionen verhinderte, Krankheiten behandelte.
Aber sie sprach auch über etwas anderes. „Sie haben hier etwas gelernt, das viele Deutsche noch nicht verstanden haben“, sagte sie bei einem dieser Treffen. „Sie haben die Wahrheit gesehen, über Propaganda, über Manipulation, über die Gefahren von blindem Gehorsam. Diese Wahrheit ist unbequem, sie ist schmerzhaft, aber sie ist wertvoll. Wenn Sie nach Deutschland zurückkehren, werden Sie auf Menschen treffen, die noch immer in der Lüge leben. Manche werden die Wahrheit nicht hören wollen. Manche werden Sie als Verräter beschimpfen, weil Sie die Lügen nicht mehr glauben. Aber Sie haben eine Verantwortung: Sprechen Sie die Wahrheit. Nicht anklagend, nicht selbstgerecht, sondern ehrlich. Nur so kann Deutschland heilen.“
Die letzten Wochen im Lager waren emotional chaotisch. Die Frauen schwankten zwischen Vorfreude und Angst, zwischen Dankbarkeit und Reue. Sie organisierten einen Abschiedsabend – nichts Offizielles, nur eine informelle Zusammenkunft in der Baracke. Zu ihrer Überraschung kamen Dr. Volkow und mehrere der sowjetischen Krankenschwestern.
Jemand hatte ein altes Akkordeon aufgetrieben, und zaghaft begannen deutsche und russische Lieder zu erklingen. Es war surreal: Frauen, die vor Monaten noch als tödliche Feindinnen gegolten hatten, die zusammen sangen, lachten, weinten. Gertrud Sommer umarmte Natascha und flüsterte auf Deutsch: „Vergib uns!“ Natascha antwortete auf Russisch, und obwohl Gertrud die Worte nicht verstand, verstand sie die Bedeutung in der Umarmung, die erwidert wurde.
Lisel schenkte Dr. Volkow ein selbstgemachtes Geschenk: ein kleines, gefaltetes Papierboot, wie sie es als Kind gebastelt hatte, mit einer Inschrift: „Für die Frau, die mir zeigte, was Güte bedeutet.“
Am Abend vor der Abreise rief Dr. Volkow alle Frauen zu einem letzten Treffen zusammen. Sie verteilte kleine Päckchen: darin medizinische Grundausstattung, ein wenig Seife, etwas getrocknetes Brot für die Reise. Aber das wichtigste Geschenk war ein Brief, den sie jeder Frau einzeln überreichte. Darin stand, auf Deutsch geschrieben:
„Diese Frau war Kriegsgefangene und hat sich während ihrer Zeit in sowjetischem Gewahrsam mit Würde und Respekt verhalten. Sie hat medizinische Kenntnisse erworben und kann als Helferin in Lazaretten oder Kliniken eingesetzt werden. Unterzeichnet: Dr. Katharina Volkow, Hauptmann der medizinischen Dienste der Roten Armee.“
Es war ein Empfehlungsschreiben, ein Dokument, das in der zerstörten Nachkriegsgesellschaft wertvoll sein konnte. Aber es war mehr als das: Es war Anerkennung. Es war ein Zeugnis, dass sie nicht nur Opfer oder Täterinnen waren, sondern Menschen mit der Fähigkeit zu wachsen, zu lernen, sich zu verändern.
„Ich habe eine letzte Bitte“, sagte Dr. Volkow, und zum ersten Mal seit Monaten zitterte ihre Stimme leicht. „Wenn Sie nach Deutschland zurückkehren, werden Sie Propaganda hören – neue Propaganda. Manche werden sagen, dass alle Sowjets Barbaren sind, dass wir euch gequält haben, dass unsere Freundlichkeit nur Täuschung war. Ich bitte Sie, nicht uns zu verteidigen. Die Rote Armee hat auch Verbrechen begangen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass meine Landsleute alle Heilige sind. Aber ich bitte Sie: Erzählt die Wahrheit, eure Wahrheit, was ihr hier erlebt habt. Dass Menschlichkeit möglich ist, auch zwischen Feinden. Dass Menschen komplexer sind als die Karikaturen, die Propaganda aus ihnen macht. Dass Heilung möglich ist. Versprecht mir das.“
Und eine nach der anderen, sogar Irmgard mit trockenen Augen, aber gesenktem Kopf, versprachen sie es. Sie würden die Wahrheit erzählen, egal wie unbequem, egal wie unbeliebt. Sie schuldeten es sich selbst, den Toten und der Zukunft.
Die Rückkehr
Der 7. Oktober 1945 war ein kalter, regnerischer Tag. Die Frauen stiegen in offene Lastwagen, dieselbe Art von Fahrzeugen, die sie Monate zuvor in Gefangenschaft gebracht hatten. Aber jetzt war alles anders. Dr. Volkow und die Krankenschwestern standen am Tor des Lagers und winkten zum Abschied. Manche der deutschen Frauen weinten, manche winkten zurück, manche saßen nur stumm und versuchten, die Emotionen zu verarbeiten, die sie überwältigten.
Die Fahrt ging durch die sowjetische Besatzungszone, vorbei an endlosen Ruinenlandschaften, ausgebrannten Panzern, provisorischen Camps, wo Tausende heimatlose Menschen in Zelten hausten. Deutschland war nicht mehr wiedererkennbar. Die prächtigen Städte, die Lisel aus ihrer Kindheit kannte, existierten nur noch als Geisterstädte aus Schutt und zerbrochenen Träumen.
Sie erreichten Berlin am Abend des zweiten Tages. Die Stadt war eine apokalyptische Landschaft. Ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht. Frauen und alte Männer räumten Ziegelsteine von Hand. Kinder mit hohlen Augen bettelten um Brot.
Die Frauen wurden zu einem Übergangslager gebracht, wo sie registriert wurden und Papiere für die weitere Reise erhielten. Hier trennten sich ihre Wege. Manche hatten Adressen, zu denen sie zurückkehren konnten: Verwandte in kleinen Dörfern, die den Krieg einigermaßen überstanden hatten. Andere, wie Lisel, hatten nichts und niemanden mehr. Sie mussten von vorne beginnen, in einem Land, das selbst bei Null anfing.
Die ersten Wiedersehen waren herzzerreißend. Gertrud Sommer fand ihre Cousine in einem Flüchtlingslager in Hamburg-Altona. Die beiden Frauen umarmten sich und weinten, aber es waren keine Freudentränen. Zu viel war verloren, zu viel hatte sich verändert.
„Wo warst du?“, fragte die Cousine. Und Gertrud begann zu erzählen. Vorsichtig, tastend, nicht sicher, wie ihre Geschichte aufgenommen werden würde.
Die Reaktionen auf ihre Berichte waren, wie Dr. Volkow vorausgesagt hatte, gemischt. Manche Menschen waren erleichtert zu hören, dass die sowjetische Gefangenschaft nicht die Hölle gewesen war, die die Propaganda prophezeit hatte. Andere waren misstrauisch. „Du verteidigst die Russen?“, wurde Lisel einmal angefahren, als sie in einem Notlazarett in Berlin ihre Geschichte erzählte. „Nach allem, was sie uns angetan haben?“
Lisel hatte gelernt, ruhig zu bleiben. „Ich verteidige nicht, ich berichte“, antwortete sie. „Und ja, sowjetische Soldaten haben Verbrechen begangen. Schreckliche Verbrechen. Aber nicht alle. Nicht die Ärzte, die mich behandelt haben. Die Wahrheit ist komplizierter als unsere Propaganda behauptet hat – auf beiden Seiten.“
Es war ein Balanceakt: die Wahrheit zu sagen, ohne zu predigen, Zeugnis abzulegen, ohne zu urteilen. Nicht alle konnten es hören, aber einige konnten es. Und für diese einigen machte es einen Unterschied.
Ein neues Leben
Die Jahre nach dem Krieg waren hart für alle Deutschen, aber für die Frauen, die diese Transformation durchgemacht hatten, waren sie besonders herausfordernd. Sie lebten in zwei Welten: der physischen Welt des zerstörten Deutschland, wo Überleben der einzige Fokus war, und der inneren Welt ihres Gewissens, wo sie täglich mit der Vergangenheit rangen.
Lisel arbeitete als Krankenschwester in einem überfüllten Krankenhaus in Westberlin. Sie nutzte die Fähigkeiten, die sie von Dr. Volkow gelernt hatte. Sie behandelte Patienten mit einer Sorgfalt und einem Mitgefühl, die direkt aus ihren Erfahrungen im Lager stammten. „Jedes Leben ist wertvoll“, wiederholte sie oft für sich selbst, wenn die Erschöpfung sie zu überwältigen drohte. Es war Dr. Volkow’s Mantra, und es war zu ihrem eigenen geworden.
Gertrud Sommer arbeitete in einem Waisenhaus, kümmerte sich um Kinder, die durch den Krieg Eltern verloren hatten. Jedes Kind erinnerte sie an die Söhne, die sie verloren hatte, an die sowjetischen Kinder, die sie nie gekannt hatte, aber deren Schicksal sie nun verstand.
Jahrzehnte vergingen. Deutschland heilte langsam – nicht vollständig, nie vollständig, aber es heilte.
Im Jahr 1965, 20 Jahre nach dem Krieg, organisierte eine Gruppe von Historikern ein Projekt, um die Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener zu dokumentieren. Sie interviewten Lisel, die nun eine grauhaarige Frau von 41 Jahren war, Oberschwester in einem Krankenhaus. Sie erzählte ihre Geschichte vollständig, ohne Beschönigung. Sie sprach über die Angst, die Propaganda, die Überraschung, die Transformation.
Am Ende des Interviews fragte der junge Historiker: „Was war die wichtigste Lektion, die Sie gelernt haben?“
Lisel dachte lange nach. Dann sagte sie: „Dass Menschen keine Karikaturen sind. Dass der Feind genauso komplex ist wie wir selbst. Dass Güte mächtiger ist als Hass. Und dass die größte Gefahr nicht in unseren Feinden liegt, sondern in unserer eigenen Bereitschaft, Lügen zu glauben, weil sie bequemer sind als die Wahrheit.“
Diese Geschichte basiert auf den Erfahrungen von Frauen, die durch den Zweiten Weltkrieg eine Transformation durchmachten, die ihr Leben für immer veränderte. Ihre Geschichten wurden lange verschwiegen – zu kompliziert, zu unbequem für einfache Narrative von Gut und Böse. Aber sie verdienen es, erzählt zu werden, weil sie uns etwas Wichtiges lehren: dass Menschlichkeit auch in den dunkelsten Zeiten möglich ist, dass Verständnis stärker ist als Hass und dass die Wahrheit, egal wie schmerzhaft, immer besser ist als die bequemste Lüge.
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