Der Sommer des Jahres 1978 lag schwer über der kleinen Stadt Mühlfeld in Oberbayern. Vier Jahre waren vergangen, seit Bundeskanzler Brand zurückgetreten war und das Land befand sich noch immer in einem Zustand zwischen Aufbruch und Ernüchterung. Die Jugend sprach von Freiheit, während die Eltern von Ordnung träumten. In den Caféses dröhnten Songs von Fleetwood Mac, Abba und Bony M.
Und in den Wohnzimmern hingen Poster von Star Wars und John Travolta aus Saturday Night Fever. Es war der 23. Juli und das Thermometer zeigte 33° im Schatten. Die Luft flimmerte über den Asphalt und selbst die Zeit schien sich unter der Hitze zu dehnen. In einem zweistöckigen Haus in der Ahhornstraße stand die 18-jährige Elisabeth Blauer vor einem offenen Koffer.

Sie faltete ihre Schlaghosen und geblümten Blusen sorgfältig zusammen. Auf dem Bett lag ihre 16-jährige Schwester Anna. barfuß, die langen Beine verschränkt und kaute gelangweilt auf einem Kaugummi. Das Zimmer der Schwestern war ein Abbild der 70er Jahre. An den Wänden ein Poster von Fer Forset in ihrem roten Badeanzug. Daneben John Travolta mit aufgestelltem Kragen.
Auf dem Schreibtisch ein Plattenspieler mit Schallplatten von Linda Ronstadt und Carly Simon. Der Geruch von Parfüm und Schallplattenhüllen hing in der Luft. “Ich wünschte, du würdest nicht gehen”, sagte Anna und spielte mit einer Strähne ihres blonden Haares. Aus dem kleinen Radio auf der Kommode lief Sailing von Rod Stuart.
Wer wird mich beschützen, wenn Vater wieder trinkt? Mama wird schon da sein,” antwortete Elisabeth leise, ohne wirklich überzeugt zu klingen. Sie legte einen Jeansrock sorgfältig in den Koffer. “Ich komme zu Weihnachten zurück. Es sind doch nur ein paar Monate.” Elisabeth hatte gerade das Gymnasium Mühlfeld abgeschlossen und würde im Herbst nach München ziehen, um an der Ludwig Maximilians Universität Lehramt zu studieren.
Sie wäre die erste in der Familie, die ein Studium begann. Der ganze Stolz der Familie Blau war. Mit ihren kupferroten Haaren, den hellgrünen Augen und den Sommersprossen auf der Nase wirkte sie wie das Sinnbild eines bayerischen Sommers. Niemand ahnte, daß Elisabeth Blauwe nie an der Universität ankommen würde. Noch am selben Abend sollten beide Schwestern spurlos verschwinden und Mühlfeld für Jahrzehnte in Unruhe versetzen.
Als ihre Mutter Maria Blauer an diesem Abend von der Spätschicht im Kaufhaus Herti heimkam, fand sie das Haus leer vor. Ihr Mann Richard war wie jeden Donnerstag beim Kegelverein, aber die Mädchen hätten längst zu Hause sein müssen. Der Fernseher lief, die Titelmelodie der Lindenstraße drang aus dem Wohnzimmer und in der Spüle stapelten sich Teller.
Ly, Anna, rief Maria, doch das einzige, was sie hörte, war das leise Ticken der Wanduhr und das Summen der Nachbarnsfernseher durch die geöffneten Fenster. Um 10 Uhr abends, als Richard heimkam, nach Bier und Zigaretten riechend, hatte Maria bereits alle Freundinnen ihrer Töchter angerufen. Niemand hatte sie seit dem Nachmittag gesehen, als sie in Richtung Mühlsee gegangen waren. Ein beliebter Badeplatz für Jugendliche.
Trotz seines benebelten Zustands wurde Richard plötzlich nüchtern. Er griff nach den Schlüsseln seines alten Opel Rekord und fuhr in die warme Nacht hinaus. Die Scheinwerfer schnitten durch die Dunkelheit, während Grillen schrillten und der Asphalt nach Sommer roch. Am See fand er nur die Fahrräder der Mädchen, angekettet an einen Baum.
Auf dem Ufer lagen zwei bunte Handtücher, daneben eine angebrochene Packung Hanuta und zwei leere Africola Flaschen. Keine Spur von den Schwestern. Richard rief ihren Namen in die Nacht hinaus, wieder und wieder, bis seine Stimme heiser wurde und über das glatte Wasser verhalte.
Gegen Mitternacht organisierte Hauptkommissar Daniel Maurer von der Polizeidienstelle Mühlfeld eine Suchaktion. Polizisten mit Taschenlampen durchkämten die Ufer, während Freiwillige mit Stöcken und Hunden das nahgelegene Waldstück absuchten. Das Boot der Feuerwehr kreuzte über den dunklen See. Die Scheinwerfer streiften die Wasseroberfläche. Als der Morgen graute, war alles, was sie gefunden hatten, Müdigkeit und ein wachsendes Gefühl der Angst.
Die Sonne ging über dem Mühlsee auf und ihr rotes Licht legte sich wie ein stilles Menetekel über das Wasser. Am nächsten Morgen berichtete der bayerische Rundfunk in den Frühnachrichten über das Verschwinden der beiden Schwestern. Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, klebten freiwillige Fotos von Elisabeth und Anna an die Schaufenster entlang der Hauptstraße.
Auf den Bildern lächelten die Mädchen, sorglos und jung, ihre Gesichter nun überall in Mühlfeld. Die Schlagzeile im Mühlfelder Tagblatt lautete: Zwei Schülerinnen spurlos am Mühlsee verschwunden. Damals, im Jahr 1978, gab es keine Handys, keine sozialen Netzwerke und keine schnellen Suchaufrufe. Nur Telefone mit Wählscheibe, Kopierer, die lila Tinte auf die Finger drückten und das unermüdliche Leuten von Haus zu Haus.
Im Turnsaal der örtlichen Realschule richtete Hauptkommissar Maurer ein provisorisches Einsatzzentrum ein. Auf langen Klapptischen standen Telefone, auf Karteikarten wurden Hinweise notiert. An einer großen Pinwand hing eine Karte von Mühlfeld und den umliegenden Wäldern, übersäht mit roten Stecknadeln, die die bereits durchsuchten Gebiete markierten.
Der Geruch von Filterkaffee, kaltem Schweiß und Zigarettenqualm erfüllte die Luft. Draußen sammelten sich Nachbarn, Bauern, Schüler, alle, die helfen wollten. Ein Tankwart behauptete am Nachmittag einen dunkelgrünen VW-Bus mit Münchner Kennzeichen in der Nähe des Sees gesehen zu haben. Drei Jugendliche sagten aus, sie hätten gegen Abend Schreie gehört. Doch sie gaben zu, zuvor Augustina Bier aus dem Keller eines Vaters gestohlen zu haben.
Die Freundin der älteren Schwester, Jessica Tal, erzählte der Polizei: “Elisabeth habe von einem heimlichen Freund gesprochen. Er sei älter gewesen, nicht von hier. Niemand wusste, wer er war. Kommissar Maura und seine vier Beamten arbeiteten Tag und Nacht. Sie überprüften Kennzeichen, befragten Badegäste, fuhren zum See, zogen Netze durchs Wasser, suchten in Schuppen, auf Lichtungen, in verlassenen Bootshäusern.
Sie fanden Zigarettenkippen, Reifenspuren im Sand, Fingerabdrücke auf den Colaflaschen, alles Indizien, die ohne moderne Technik kaum auszuwerten waren. Zwei Tage später traten Richard und Maria Blauer in der Abendschau des Regionalsenders auf. Maria hielt ein Taschentuch in der Hand, dass sie kaum noch losließ. “Bitte”, sagte sie mit zitternder Stimme.
“Wenn jemand etwas weiß, bitte meldet euch. Wir wollen nur, daß unsere Mädchen nach Hause kommen. Doch die Tage vergingen und das Schweigen blieb. Eine Woche nach dem Verschwinden kam ein Hinweis. Ein Angler aus einem Nachbardorf hatte in der Dämmerung ein Mädchenkleid im Schilf treiben sehen.
Die Polizei durchsuchte die Stelle, doch das Kleid gehörte keiner der Schwestern. Mit jedem Tag, an dem keine Spur auftauchte, wuchs die Beklemmung in der Stadt. Mühlfeld, sonst friedlich und verschlafen, war plötzlich ein Ort des Misstrauens geworden. Eltern begleiteten ihre Kinder nun bis zur Schule. Abends blieben die Straßen leer. Ein Radiomoderator sagte: “So etwas passiert hier nicht.
nicht in Bayern, nicht bei uns. Aber es war passiert und niemand konnte erklären, wie zwei Mädchen mitten am Tag am See verschwinden konnten, ohne dass jemand etwas bemerkte. Am fünften Tag zog Nebel über den Mühlsee. Männer mit Stiefeln warteten durchs Wasser, während Hunde bellten und Reporter Mikrofone hinhielten, doch der See schwieg.
Hauptkommissar Maura stand am Ufer, die Hände in den Taschen und starrte auf die glatte Oberfläche. “Wenn Sie hier sind”, sagte er leise zu seinem Kollegen, “dann der See sie nicht hergeben.” Er sollte recht behalten. Die Tage dehnten sich zu Wochen und das Verschwinden der Schwestern wurde zum Gesprächsthema in jedem Gasthaus, in jedem Friseursalon und an jeder Straßenecke.
Der Sommer ging weiter, aber für die Familie Blauer schien die Zeit stillzustehen. Maria erschien nicht mehr zur Arbeit im Härtihaus. Sie saß meist am Fenster des Wohnzimmers und starrte hinaus auf die Straße, als könnten die Mädchen jeden Moment auf ihren Fahrrädern zurückkehren.
Richard hingegen stürzte sich in die Arbeit im Papierwerk Mühlfeld, wo er seit Jahren in der Zellstoffabteilung tätig war. Nach Feierabend ging er direkt in die Gaststätte Krone, trank bis spät in die Nacht und kam schweigend nach Hause. Die Nachbarn begannen zu flüstern. Einige sagten: “Richard sei wie ausgewechselt.” Andere fanden, man solle ihn in Ruhe lassen. Jeder trauere anders.
Die Polizei arbeitete weiter, doch die Spur wurde kälter. Der Bundeskriminaldienst schickte einen Berater, der allerdings erklärte, dass ohne Hinweise auf eine Entführung über die Landesgrenzen hinaus keine Zuständigkeit bestünde. Es gab keine Erpressung, keine Forderung, keine Zeugen, nur zwei Fahrräder, zwei Handtücher und das unheimliche Schweigen des Sees.
Im September, als Elisabeth eigentlich ihre ersten Vorlesungen in München hätte besuchen sollen, wurde das provisorische Suchzentrum aufgelöst. Die Helfer kehrten in ihren Alltag zurück. Das Plakat mit den Gesichtern der Mädchen blieb an der Polizeistation hängen, vom Regen ausgebleicht. Kommissar Maurer legte die Akte in einen Karton, beschriftete ihn mit Fallblauer und stellte ihn in das Archiv im Keller des Rathauses.
Von Zeit zu Zeit nahm er die Mappe wieder hervor, blätterte darin, als könnte ein übersehener Hinweis plötzlich zu ihm sprechen. Doch der Fall blieb still. Eingefroren im Sommer 1978. Die Jahre vergingen. Neue Bürgermeister kamen und gingen. Das Papierwerk expandierte. Der Mühlsee blieb ein beliebter Ort für Familien und Jugendliche. Aber niemand schwamm mehr nahe dem Nordufer.
Dort, wo die Fahrräder gefunden worden waren, dort legte man manchmal Blumen ab. Und 1983 fand ein Junge am Ufer einen kleinen silbernen Anhänger in Herzform. Die Gravur war kaum noch zu lesen. EB. Seine Mutter brachte das Fundstück zur Polizei. Maura nahm es entgegen, legte es zu den Beweisstücken und schrieb möglicherweise von Elisabeth Blau war. Mehr passierte nicht.
Der Fall war offiziell noch offen, aber längst vergessen. In den spätenziger Jahren zog ein neues Ehepaar in das Haus in der Ahhornstraße. Die Wände wurden neu gestrichen, der Garten umgepflügt und niemand sprach mehr über die verschwundenen Mädchen. Nur Maria Blauer blieb. Sie ging kaum noch aus dem Haus, besuchte jeden Sonntag den Friedhof, wo leere Gedenksteine für Elisabeth und Anna standen.
Sie zündete zwei Kerzen an, stellte frische Blumen hin und sprach leise, als würden ihre Töchter sie hören. Richard kam nie mit. In der Stadt flüsterte man: “Die Ehe sei zerbrochen, lange bevor die Wahrheit ans Licht kam.” Doch diese Wahrheit lag tief unter der Oberfläche des Mühlsees, still, verborgen und vergessen. Im Sommer 1980 veranstaltete die Stadt Mühlfeld eine Mahnwache am See.
Mehr als 300 Menschen kamen, trugen Kerzen und standen schweigend am Ufer. Ein Pfarrer sprach Gebete und die Wasseroberfläche glitzerte im Schein der Flammen. Maria Blauer hielt die Hände gefaltet, ihr Gesicht vom Kerzenlicht erhält. Richard stand ein Stück entfernt, den Blick gesenkt, der Kragen seines Hemdes nass vom Schweiß. Als die Glocken der Kirche elf schlugen, sagte Maria kaum hörbar: “Bitte lass sie uns zurück.
” Im folgenden Jahr kamen schon weniger Menschen und im dritten Jahr nur noch eine Hand voll. Nachbarn, alte Schulfreunde, Kommissar Maurer. Die Geschichte der Schwestern wurde zur Mahnung für Eltern, ihren Kindern zu sagen, sie sollen nicht allein zum See gehen. Im Alltag aber verschwand sie in der Vergangenheit, sowie die vergilbten Zeitungen, die man irgendwann zum Einwickeln von Obst benutzte.
Die 80er verging, die Berliner Mauer fiel, die Welt veränderte sich. Doch in Mühlfeld blieb der Schmerz eingefroren in der Erinnerung einer Handvoll Menschen. Maurer, inzwischen pensioniert, bewahrte die Fallakte in einer braunen Ledertasche auf, die er unter seinem Bett verstaute. “Man lässt so etwas nicht los”, sagte er einmal zu seiner Frau.
“Man wartet nur darauf, dass die Wahrheit irgendwann auftaucht.” Maria starb im Winter 2004. Der Tod kam still, wie ein müder Besucher, der sich setzt ohne zu sprechen. Ihr Mann Richard überlebte sie nur um ein halbes Jahr. Die Nachbarn fanden ihn eines Morgens im Sessel, die Flasche Korn noch neben ihm. Auf ihrem gemeinsamen Grabstein stand geliebte Eltern von Elisabeth und Anna.
Daneben zwei kleine Steine, namenlos leer. Das Haus in der Ahhornstraße wurde bald verkauft. Ein junges Paar aus Augsburg zog ein, renovierte alles. Neue Tapeten, neue Möbel, helles Holz, Lachen in den Räumen. Niemand erzählte ihnen von den Mädchen.
Erst als sie eines Tages auf dem Dachboden eine alte Kiste fanden, kam die Vergangenheit zurück. In der Kiste lagen Schulhefte, Fotos, ein Tagebuch mit einem zerbrochenen Schloss. Auf dem Einband stand Lissy 1978. Die neuen Besitzer wussten nicht, was sie mit diesen Dingen tun sollten, also brachten sie sie zur heimatgeschichtlichen Sammlung Mühlfeld im alten Rathaus.
Dort nahm sie der Kurator Harald Jenke entgegen, ein Mann mit grauem Bart, der schon in den Siebzigern als Schüler die Suchaktionen miterlebt hatte. Er stellte die Kiste in ein Regal, beschriftet mit Fallblau war. Niemand ahnte, daß genau diese Kiste Jahrzehnte später den Schlüssel zur Wahrheit enthalten würde, denn was damals unterging, sollte wieder auftauchen, wie alles, was der See irgendwann freigibt.
Im Frühling 2017 herrschte in Bayern eine ungewöhnliche Dürre. Wochenlang hatte es nicht geregnet und die Pegel der Seen sanken auf Rekordtiefstände. Am Mühlsee ragten Wurzeln und Steine aus dem Boden, die seit Jahrzehnten unter Wasser gelegen hatten. Eine Gruppe von Studenten der technischen Hochschule Rosenheim kam an einem Samstag, um Wasserproben für ein Umweltprojekt zu nehmen.
Unter ihnen war eine junge Frau namens Klarer Vogel, die als erste etwas im Schlamm bemerkte. Es war ein gebleichter, knochiger Gegenstand, halb im Erdreich versunken. Zuerst dachte sie an ein Stück Treibholz, doch als sie näher trat und mit dem Stock darauf zeigte, erstarrte sie. “Das ist kein Holz”, flüsterte sie.