Trotz Milliarden-Segen: Deutschland vor historischer Schuldenkrise – Klingbeil sieht den Bund in akuter Finanznot

Article: Trotz Milliarden-Segen: Deutschland vor historischer Schuldenkrise – Klingbeil sieht den Bund in akuter Finanznot
Inmitten verbesserter Konjunkturaussichten und der Ankündigung überraschender Steuermehreinnahmen herrscht in Berlin eine paradoxe Stimmung. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) meldet zwar eine erfreuliche Entwicklung bei den Steuereinnahmen, die dem Staat bis 2029 zusätzliche 33,6 Milliarden Euro bescheren sollen, doch gleichzeitig schlägt er Alarm. Das beachtliche Plus entlastet vorrangig die Kassen von Ländern und Kommunen, während der Bundeshaushalt vor einem noch nie dagewesenen Loch klafft. Die Botschaft des Finanzministers ist unmissverständlich: Alle Kabinettskollegen sind zum Sparen aufgerufen, denn die Bundesrepublik steht vor der größten fiskalischen Herausforderung ihrer jüngeren Geschichte.
Steuermehreinnahmen: Ein Segen mit Schönheitsfehler
Nach einer dreitägigen Sitzung des Arbeitskreises „Steuerschätzung“ konnte Finanzminister Klingbeil am Donnerstag in Berlin positive Zahlen präsentieren. Im Vergleich zur jüngsten Frühjahrsschätzung kann der Gesamtstaat – Bund, Länder und Gemeinden – in den Jahren 2025 bis 2029 mit Mehreinnahmen von insgesamt 33,6 Milliarden Euro rechnen. Der Minister äußerte sich zufrieden und sah darin eine Bestätigung für die wachstumsstärkenden Maßnahmen der Bundesregierung, die zu einer erwarteten Steigerung der Wirtschaftsleistung von 1,3 Prozent im kommenden Jahr führen sollen.
Doch der Schein trügt. Was auf den ersten Blick wie eine finanzielle Entspannung aussieht, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als massive Verschiebung der Lasten und Einnahmen. Die ursprünglichen Erwartungen, die noch von einem Steuerüberschuss von rund 100 Milliarden Euro sprachen, mussten stark nach unten korrigiert werden. Grund dafür sind vor allem die verhaltene Entwicklung der Umsatz- und Lohnsteuerprognosen sowie die beschlossenen Steuerentlastungen für Unternehmen.
Der Bund: Ein Fass ohne Boden
Das Kernproblem liegt in der Verteilung der Mehreinnahmen. Die Steuerschätzer sehen vor, dass der Großteil des zusätzlichen Geldes – nämlich 24,2 Milliarden Euro bis 2029 – an die Länder fließt und weitere 14,9 Milliarden Euro den Städten und Gemeinden zugutekommen. Dies ist unter anderem auf eine im Sommer vereinbarte höhere Umsatzsteuerquote für Länder und Kommunen zurückzuführen.
Für den Bundeshaushalt jedoch bleibt die erhoffte Entlastung aus. Im Zeitraum 2025 bis 2029 prognostizieren die Experten für den Bund keine signifikanten Mehreinnahmen im Vergleich zur Schätzung im Mai. Obwohl für das Jahr 2027 ein kleines Plus von 7,7 Milliarden Euro erwartet wird, wird dieses in den beiden Folgejahren vollständig durch Mindereinnahmen aufgezehrt.
Der Blick auf die langfristige Planung ist alarmierend. Nach aktuellen Planzahlen rechnet Finanzminister Klingbeil im Zeitraum von 2027 bis 2029 mit einer Finanzierungslücke von insgesamt 172 Milliarden Euro. Ein solches Defizit ist in der Geschichte der Bundesrepublik, selbst nach der Wiedervereinigung oder in den Krisenzeiten der frühen 2000er-Jahre, in denen Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt, beispiellos. Die tatsächlichen finanziellen Probleme stehen dem Bund erst noch bevor: Für 2028 werden 63,8 Milliarden Euro und für 2029 sogar 74 Milliarden Euro Fehlbetrag erwartet.
Die Schuldenbremse: Der Engpass des Bundes
Auf den ersten Blick erscheint die Finanznot des Bundes widersprüchlich. Durch die Reform der Schuldenbremse und die Einrichtung des 500 Milliarden Euro schweren „Sonderfonds Infrastruktur“ hat Klingbeil theoretisch mehr Kreditspielraum als seine Vorgänger. Allerdings gilt diese Lockerung der Kreditgrenzen nur für Verteidigungsausgaben. Für den restlichen Kernhaushalt bleibt die verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse in Kraft. Und genau das wird dem Bund zum Verhängnis.
Trotz der zusätzlichen Einnahmen beim Gesamtstaat verschärft die strikte Anwendung der Schuldenbremse die Situation des Bundes. Der Finanzminister bekräftigte daher den „strengen Konsolidierungskurs“, um das klaffende Haushaltsloch ab 2027 zu stopfen. Alle Ministerien sind aufgerufen, zügig Sparvorschläge vorzulegen.
Wachsende Skepsis und politische Zerreißprobe
Die präsentierten Zahlen stoßen in der Politik auf geteilte Resonanz. Sebastian Schäfer, haushaltspolitischer Sprecher der Grünen, äußerte sich skeptisch. Er sieht in der steigenden Einnahmeprognose kein Zeichen erfolgreicher Bundespolitik, sondern vielmehr „ein Gesamtbild mit hohen Risiken“. Er kritisiert, dass „die Konservativ-Rote-Koalition Reformen und wachstumswirksame Steuersenkungen verschleppt, statt die strukturellen Probleme grundlegend anzugehen“. Die Steuerschätzung bestätige lediglich die bestehenden Risiken, darunter geopolitische Konflikte und deren Auswirkungen auf den Welthandel.
Die Zwangslage des Bundes droht, bereits beschlossene Entlastungen zu gefährden. Klingbeil erteilte Forderungen der Länder und Kommunen nach einer Kompensation der Steuerausfälle für die beschlossene Senkung der Gastronomie-Mehrwertsteuer und die Erhöhung der Pendlerpauschale eine klare Absage. Er mahnt die Länder, ihren vereinbarten Anteil an den Steuererleichterungen mitzutragen. Ein Scheitern dieser Entlastungsgesetze würde das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit der Politik zusätzlich untergraben.
Sparpläne und unkonventionelle Auswege
Im Finanzministerium wird fieberhaft nach Einsparmöglichkeiten gesucht. Im Gespräch sind die Kürzung von Subventionen, die Streichung von Förderprogrammen, die Erhöhung der Dienstwagensteuer für Verbrenner sowie die Anhebung der Erbschaftssteuer, auch wenn letztere direkt den Ländern zugutekäme. Daneben prüft der Finanzminister unkonventionelle Wege, um den Haushalt zu entlasten.
So lässt Klingbeil derzeit prüfen, ob Zinsausgaben für die Finanzierung von Verteidigungsausgaben zukünftig von der Schuldenbremse ausgenommen werden könnten. Sollte dieser Plan umgesetzt werden, könnte er dem Bund bis 2029 zusätzliche Flexibilität von rund 20 Milliarden Euro verschaffen. Diese Idee stößt jedoch auf Widerstand beim Koalitionspartner, der darin die Gefahr eines „Schneeballeffekts“ durch neue Schulden zur Finanzierung alter Schulden sieht.
Deutschland steht am Scheideweg. Die verbesserten Steuereinnahmen sind ein Strohfeuer, das die strukturellen Defizite des Bundes nicht verdeckt. Nur ein strenger Konsolidierungskurs, flankiert von echten Strukturreformen und möglicherweise unpopulären Entscheidungen bei Ausgaben und Einnahmen, kann die größte Haushaltskrise der jüngeren Geschichte abwenden und die Handlungsfähigkeit des Bundes langfristig sichern. Die Verantwortung lastet nun schwer auf den Schultern des Bundesfinanzministers und des gesamten Kabinetts.
 
								 
								 
								 
								 
								