Dora Ness hat ihre Erinnerungen oft veröffentlicht, in Russland wie im Westen. Sie spricht ehrlich über das, worüber viele Deutsche heute nicht mehr laut reden möchten und was sie lieber vergessen würden. Aber Dora vergisst nicht. Sie kann nicht vergessen. Ihre Geschichte ist eine von Millionen. Doch sie hat den Mut gefunden, sie zu erzählen – ohne Beschönigung, ohne falsche Scham.

Sie erinnert sich, wie Hitler und die Nazis an die Macht kamen. Sie erinnert sich an den Beginn des Krieges, an die jubelnden Menschenmassen auf dem Wilhelmplatz. Sie sah Berlin brennen, ihre Heimatstadt in Schutt und Asche verwandelt. Und sie beschreibt sehr ehrlich jene sowjetischen Soldaten, die sie zum ersten Mal sah und mit denen sie die ersten Tage nach der Kapitulation des Dritten Reiches verbrachte. Einer von ihnen hinterließ eine Spur in ihrem Leben, die niemals verblasste.
Wie lässt sich diese Begegnung beschreiben? Kurz gesagt: Es war Entsetzen und dann tiefe Überraschung. Aber um diese Geschichte wirklich zu verstehen, müssen wir zurückgehen. Zurück in die Jahre vor 1945, in das Leben einer jungen Frau, die im nationalsozialistischen Deutschland aufwuchs.
Ein deutsches Mädchen im Dritten Reich. Dora wurde 1924 geboren, in den turbulenten Jahren der Weimarer Republik. Ihre Kindheit fiel zusammen mit dem Aufstieg der NSDAP, ihre Jugend mit der Festigung der Nazierrschaft. Sie war, wie sie später selbst einräumte, ein Kind ihrer Zeit, ein Produkt des Systems, in dem sie aufwuchs. “Ich war kein Monster”, sagte sie Jahrzehnte später in einem Interview. “Ich war ein ganz normales deutsches Mädchen, und genau das ist das Erschreckende daran. Wir alle waren normal. Wir alle machten mit. Wir alle schauten weg, wenn es nötig war.”
In den 1930er Jahren war Dora Mitglied im Bund Deutscher Mädel, der weiblichen Jugendorganisation der NSDAP. Sie trug Uniform, marschierte bei Aufmärschen mit, sang Lieder über Treue und Vaterland. Dies war nicht außergewöhnlich. Millionen deutsche Jugendliche taten dasselbe. Die Mitgliedschaft war ab 1936 de facto obligatorisch. Sie erinnert sich an die Massenveranstaltungen auf dem Tempelhofer Feld, an die orchestrierten Begeisterungsstürme, wenn Hitler sprach. “Seine Stimme füllte den gesamten Platz”, erzählte sie. “Wir hingen an seinen Lippen. Wir glaubten, er würde Deutschland aus der Demütigung von Versailles führen, uns wieder zu einer großen Nation machen.”
1938 war Dora 14 Jahre alt, als sie Zeuge der Reichspogromnacht wurde. Sie lebte in Charlottenburg, einem Berliner Bezirk mit einer bedeutenden jüdischen Bevölkerung. In dieser Nacht brannten Synagogen, jüdische Geschäfte wurden geplündert, Menschen auf offener Straße geschlagen. “Ich hörte das Klirren von zerbrochenem Glas”, erinnerte sie sich. “Am nächsten Morgen sah ich die zerstörten Schaufenster in unserer Straße. Die Familie Goldstein, die im Nachbarhaus wohnte, war verschwunden – einfach weg. Niemand sprach darüber. Wir fragten nicht, wohin sie gebracht wurden.”
Dies war ein Muster, das sich über Jahre wiederholte. Nachbarn verschwanden. Jüdische Klassenkameraden kamen nicht mehr zur Schule. Leere Wohnungen wurden neu belegt. Man stellte keine Fragen. Man machte weiter, als wäre nichts geschehen. “Man sagte uns, sie seien in Arbeitslager gebracht worden”, erzählte Dora. “Wir glaubten es, weil wir es glauben wollten. Die Alternative wäre gewesen, die Wahrheit zu erkennen, und damit hätten wir nicht leben können.”
Als 1939 der Krieg begann, war Dora 15. Die ersten Jahre waren von Siegesmeldungen geprägt: Polen in Wochen geschlagen, Frankreich in sechs Wochen besiegt. Die Wehrmacht schien unaufhaltsam. Die Wochenschauen im Kino zeigten marschierende Truppen, jubelnde Menschenmengen in eroberten Städten, stolze Soldaten. “Wir waren überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen”, sagte Dora. Deutschland expandierte, gewann Lebensraum, setzte sich durch. “Wir sahen nicht die Millionen Toten, die Zerstörung, das Leid. Das zeigte man uns nicht.”
1940 besuchte Benito Mussolini, der italienische Diktator, Berlin. Dora stand mit tausenden anderen an der Straße und winkte, als die Wagenkolonne vorbeifuhr. “Es war ein großes Spektakel”, erinnerte sie sich. “Zwei große Führer, zwei verbündete Nationen. Wir fühlten uns stark, Teil von etwas Größerem.” Im selben Jahr zog Doras Familie in eine neue Wohnung, ein geräumiges Haus in einem besseren Viertel. Erst später erfuhr sie, dass dieses Haus zuvor einer polnischen Familie gehört hatte, die vertrieben worden war. “Wir stellten keine Fragen”, sagte sie. “Das Haus war schön, geräumig. Wir genossen es einfach.”
1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion, begann sich die Stimmung allmählich zu ändern. Die ersten Verwundeten-Transporte kehrten zurück. Die Rationierungen wurden strenger. Doch die Propaganda arbeitete auf Hochtouren. Der jüdisch-bolschewistische Feind musste vernichtet werden. Der Krieg im Osten wurde als existenzieller Kampf dargestellt. “Wir hatten Angst vor den Russen”, sagte Dora. “Man erzählte uns Geschichten von barbarischen, asiatischen Horden, die Europa überrennen wollten.” Diese Angst wurde systematisch geschürt, Jahr für Jahr.
Die Jahre 1942 und 1943 brachten die ersten massiven Luftangriffe auf Berlin. Dora arbeitete mittlerweile in einer Rüstungsfabrik, wie Millionen deutscher Frauen, die die zur Front eingezogenen Männer ersetzten. Die Nächte verbrachte sie oft im Luftschutzkeller, während die Bomber der Royal Air Force die Stadt erschütterten. “Die Sirenen heulten, und wir rannten in die Keller”, erzählte sie. “Manchmal stundenlang. Wir beteten, dass unser Haus nicht getroffen würde. Manche Nächte kamen wir heraus und sahen ganze Straßenzüge in Flammen.”
Doch selbst in diesen dunklen Stunden hielt die Propaganda die Menschen bei der Stange. Goebbels’ Sportpalastrede vom Februar 1943, in der er den totalen Krieg ausrief: “Halte durch, Deutschland!” Die Menschen schrien ihre Zustimmung. Auch Dora war dort, in der brüllenden Menge. “Wollt ihr den totalen Krieg?” fragte Goebbels, und wir schrien: “Ja!” “Wenn ich heute daran denke, schäme ich mich. Aber damals, damals waren wir überzeugt, dass nur noch fanatischer Widerstand Deutschland retten könne.”
1944 wurde die Lage verzweifelt. Die alliierten Armeen rückten von Westen vor, die Rote Armee von Osten. Die Luftangriffe wurden intensiver. Operation Gomorrha in Hamburg hatte 1943 Zehntausende Tote gefordert. Dresden würde im Februar 1945 folgen. Berlin wurde Nacht für Nacht bombardiert. “Die Stadt verwandelte sich in eine Ruinenlandschaft”, erinnerte sich Dora. “Ganze Viertel existierten nicht mehr. Wir lebten in ständiger Angst.” Und dennoch, die Propaganda sagte uns, die Wunderwaffen würden alles ändern. Wir klammerten uns an diese Hoffnung.
Im Januar 1945 begann die große sowjetische Winteroffensive. Die Rote Armee überquerte die Oder, Berlin lag nun in Reichweite. Die Flüchtlingsströme aus dem Osten brachten schreckliche Berichte: Geschichten von Rache, Plünderungen, Gewalt. Die Angst vor den Russen wurde zur Panik. “Meine Mutter sagte, wenn die Russen kommen, nehmen wir Gift”, erinnerte sich Dora. “Das war kein Scherz. Viele Familien hatten Zyankalikapseln. Die Angst war real und allgegenwärtig.”
Die letzten Tage (April 1945). Am 16. April 1945 begann die Schlacht um Berlin. Über 2 Millionen sowjetische Soldaten standen bereit, die Hauptstadt des Dritten Reiches zu erobern. Ihnen gegenüber standen etwa 45.000 reguläre Soldaten, aufgefüllt mit Volkssturmeinheiten, alte Männer und Jungen, viele kaum 15 Jahre alt. Dora befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Luftschutzbunker im Bezirk Mitte. Die Bombardierungen hatten eine neue Intensität erreicht. Tag und Nacht dröhnte die sowjetische Artillerie. Die Erde bebte unter den Einschlägen.
“Am 20. April saßen wir im Bunker”, erzählte Dora. “Über uns tobte die Schlacht. Der Lärm war ohrenbetäubend. Wir hörten das Rattern der sowjetischen Katjuscha-Raketenwerfer. Wir nannten sie Stalin-Orgeln. Ein schrecklicher, durchdringender Klang.” Im Bunker herrschte eine surreale Atmosphäre. Etwa 100 Menschen drängten sich auf engstem Raum. Alte und junge Frauen und einige wenige verwundete Soldaten. Kerzen flackerten, die Luft war stickig und roch nach Schweiß, Angst und Verzweiflung.
“Jemand hatte ein Radio”, erinnerte sich Dora. “Wir lauschten den Nachrichten. Sie sprachen von deutschen Gegenangriffen, von der Wehrmacht, die sich im Norden Berlins sammelte und bald zurückschlagen würde. Wir wollten es so verzweifelt glauben.” In Wirklichkeit existierte diese Wehrmacht nicht mehr. Was übrig war, waren versprengte Einheiten, erschöpfte Männer, die mit veralteten Waffen gegen eine übermächtige Armee kämpften. Die Neunte Armee war bei Halbe eingekesselt. Die Zwölfte Armee unter General Wenck kam nicht durch. Berlin war dem Untergang geweiht.
“Die Gerüchte im Bunker waren wild”, sagte Dora. Einige behaupteten, Hitler würde mit neuen Wunderwaffen die Sowjets zurückwerfen. Andere flüsterten, er sei bereits tot. “Niemand wusste die Wahrheit. Wir lebten in einer Blase der Desinformation.” Am 30. April nahm sich Hitler im Führerbunker das Leben. Diese Nachricht erreichte die Bevölkerung erst Tage später. Das Regime hielt die Illusion aufrecht, solange es konnte.
Am 2. Mai kapitulierte die Berliner Garnison. Der Kampf um Berlin war vorbei. “Als die Schießerei aufhörte, war es zunächst unheimlich still”, erzählte Dora. “Wir wagten kaum, aus dem Bunker zu kommen. Was würde uns erwarten? Die Geschichten über die Russen hatten uns jahrelang terrorisiert. Wir hatten Angst um unser Leben.”
Als sie schließlich ans Tageslicht traten, bot sich ein apokalyptisches Bild. Berlin lag in Trümmern. Gebäude waren nur noch Fassaden, Straßen voller Schutt. Die Luft roch nach Rauch, Staub und Tod. Überall lagen Leichen – Soldaten, Zivilisten – nicht begraben, nicht beachtet. “Es war die Hölle auf Erden”, sagte Dora. “Ich dachte, so muss das Ende der Welt aussehen. Alles, was ich kannte, war zerstört. Meine Stadt existierte nicht mehr.”
Dora und einige andere Frauen machten sich auf den Weg zu ihrem Wohnblock. Sie bewegten sich vorsichtig durch die Ruinen, immer auf der Hut vor umherstreifenden Soldaten, deutschen Deserteuren oder sowjetischen Plünderern. Beide waren gefährlich. “Wir hörten Schüsse in der Ferne”, erinnerte sie sich. “Schreie, das Geräusch von Glas, das zerbricht. Wir versteckten uns mehrmals, wenn wir Stimmen hörten. Wir wussten nicht, wer Freund oder Feind war.”
Ihr Wohnhaus stand noch, wenn auch beschädigt. Die Fenster waren zerborsten, die Treppe halb eingestürzt, aber die Struktur hielt. Sie richteten sich notdürftig ein, sammelten Trümmer, um nachts ein kleines Feuer zu machen. Lebensmittel gab es kaum. Wasser mussten sie von einer öffentlichen Pumpe holen, oft unter Lebensgefahr. “Diese ersten Tage waren am schlimmsten”, sagte Dora. “Wir wussten nicht, was passieren würde. Würden die Sowjets uns alle erschießen? Würden sie uns deportieren?” Die Ungewissheit war lähmend.
Die Begegnung (3. Mai 1945). Am 3. Mai, einem sonnigen Frühlingstag, der so gar nicht zur apokalyptischen Umgebung passen wollte, sah Dora Ness den ersten sowjetischen Soldaten. “Wir standen vor unserem Haus”, erzählte sie. “Plötzlich bemerkten wir in der Ferne einen Wagen. Wir hatten keine Zweifel, das waren russische Soldaten. Mein Herz hämmerte. Alle Geschichten, die ich jahrelang gehört hatte, schossen mir durch den Kopf.”
Der Wagen, ein abgenutzter sowjetischer GAZ, hielt vor ihrem Gebäude. Drei Soldaten stiegen aus. Ihre Uniformen waren staubig und verschlissen. Sie trugen die Insignien der Panzertruppen. Einer von ihnen, ein junger Mann, vielleicht Ende 20, ging direkt auf Dora und die anderen Frauen zu. “Ich war entsetzt”, sagte sie. “Ich dachte, das war’s.”
Aber dann – und das war der erste Schock – sprach er Deutsch. Er sprach sehr gutes Deutsch. Der Soldat lächelte. Es war ein müdes, aber freundliches Lächeln. “Guten Tag”, sagte er. “Ich heiße Boris. Wir sind hier, um zu helfen, nicht, um zu schaden. Ihr habt nichts zu befürchten.”
Dora konnte es kaum glauben. Jahre der Propaganda hatten sie auf Monster vorbereitet, auf unmenschliche Bestien. Stattdessen stand vor ihr ein höflicher junger Mann, der sie auf Deutsch ansprach und versuchte, ihre Ängste zu zerstreuen. “Meine erste Reaktion war Verwirrung”, erinnerte sie sich. “Das passte nicht zu dem Bild, das man uns über Jahre eingetrichtert hatte. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.”
Boris setzte sich auf die Trümmersteine vor dem Haus. Er bedeutete Dora, sich ebenfalls zu setzen. Langsam, zögernd tat sie es. Die anderen Frauen blieben in sicherer Entfernung stehen, beobachteten misstrauisch. “Er begann zu reden”, erzählte Dora, “über seine Heimat, über seine Familie.” Er zog ein kleines, abgegriffenes Foto aus seiner Brusttasche. Darauf waren eine Frau und zwei kleine Kinder. “Meine Frau und meine Söhne”, sagte er. “Ich habe sie seit drei Jahren nicht gesehen.”
In diesem Moment, sagte Dora später, begann etwas in ihr zu brechen. Die sorgfältig aufgebaute Mauer aus Propaganda und Vorurteilen bekam Risse. Dieser Mann war kein Monster. Er war ein Vater, ein Ehemann, ein Mensch. “Ich zeigte ihm meine Fotos”, erzählte sie, “von meiner Familie, meinen Eltern.” Er betrachtete sie aufmerksam, nickte. “Familie ist das Wichtigste”, sagte er. “Der Krieg hat zu viele Familien zerstört.”
Sie sprachen lange. Boris erzählte von seinem Dorf in Baschkirien, weit im Osten der Sowjetunion, von den endlosen Weizenfeldern, den harten Wintern, den einfachen Freuden eines Lebens, das der Krieg unterbrochen hatte. Er hatte Deutsch in der Schule gelernt, eine Fähigkeit, die ihm nun zugutekam.
“Ich fragte ihn, was er vom Krieg dachte”, sagte Dora. “Er schwieg lange. Dann sagte er: ‘Ich habe Schreckliches gesehen. Zerstörte Dörfer in meiner Heimat, verhungerte Kinder, erhängte Partisanen. Der Krieg macht Menschen zu Tieren, aber wir müssen versuchen, Menschen zu bleiben.'”
Diese Worte, sagte Dora, vergaß sie nie. Sie waren so anders als alles, was sie erwartet hatte. Hier saß ein Feindsoldat, der über Menschlichkeit sprach, über das Bedürfnis, trotz aller Greuel anständig zu bleiben.
Boris blieb drei Tage. Er quartierte sich im Erdgeschoss des Hauses ein, zusammen mit zwei anderen Soldaten seiner Einheit. Am wichtigsten: Er hängte ein kleines Schild an die Haustür. Darauf stand auf Russisch: “Besetzt durch die Erste Garde-Panzerarmee. Eintreten verboten.”
“Dieses Schild rettete uns”, sagte Dora. In den ersten Wochen nach der Kapitulation herrschte Chaos. Marodierende Soldaten, Plünderer, Gewalt. Aber unser Haus wurde nicht angetastet. Andere Gebäude in unserer Straße wurden geplündert, Frauen vergewaltigt. Wir blieben verschont, weil Boris uns beschützte.
Die drei Tage mit Boris waren surreal. Während draußen die Ruinen Berlins rauchten und die Ordnung zusammenbrach, saßen sie im Haus und sprachen über das Leben vor dem Krieg, über Hoffnungen für die Zukunft, über Familie und Frieden. “Er teilte seine Rationen mit uns”, erinnerte sich Dora. “Brot, Konserven, sogar etwas Zucker. Wir hatten seit Wochen so etwas nicht mehr gesehen. Ich wollte ablehnen, aus Stolz, aus Scham. Aber ich war zu hungrig.”
Am zweiten Tag brachte Boris einen Eimer Wasser. Eine einfache Geste, aber in diesen Tagen von unschätzbarem Wert. Wasser zu holen bedeutete, sich den Gefahren der Straße auszusetzen. Er ging für sie, nahm das Risiko auf sich. “Ich fragte ihn, warum er das tat”, sagte Dora, “warum er uns half.” Er zuckte mit den Schultern. “Weil ihr Menschen seid”, sagte er einfach, “und weil genug Menschen gelitten haben.”
Aber es war nicht alles idyllisch. Dora betonte immer, dass sie keine Märchen erzählen wollte. Die Realität war komplexer, dunkler. “Am zweiten Tag”, erzählte sie, “wurde ich auf der Straße von einem anderen sowjetischen Soldaten angehalten. Er war betrunken, aggressiv. Er riss mir meine Handtasche aus der Hand und dann – ich werde es nie vergessen – urinierte er direkt vor mir auf meine Tasche. Dann lachte er und ging weg.”
Diese Erfahrung, sagte Dora, war ein Schock, aber auch eine Lektion. Nicht alle waren wie Boris. In einer Armee von Millionen gab es Heilige und Teufel, Beschützer und Verbrecher. Der Krieg brachte das Beste und das Schlimmste im Menschen zum Vorschein. “Boris war entsetzt, als ich ihm davon erzählte”, sagte sie. “Er entschuldigte sich, als wäre er persönlich verantwortlich. Er sagte: ‘In jeder Armee gibt es solche Elemente. Sie sind eine Schande für uns alle.'”
Der Abschied und die jahrzehntelange Suche. Am 9. Mai 1945, dem Tag des offiziellen Kriegsendes, musste Boris aufbrechen. Seine Einheit wurde in den Osten verlegt, als Teil der Vorbereitungen für den möglichen Kampf gegen Japan. “Er kam zu mir am Morgen”, erinnerte sich Dora. Er sagte: “Ich muss gehen. Pass auf dich auf.” “Ich wollte ihm danken, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Wie dankt man jemandem dafür, dass er dein Leben gerettet hat?”
Boris gab ihr ein Stück Papier mit einer Adresse: Sein Dorf in Baschkirien. “Wenn du jemals die Möglichkeit hast”, sagte er, “schreib mir. Ich möchte wissen, dass es dir gut geht.” Dann war er weg. Der Wagen fuhr die zerstörte Straße hinunter und verschwand hinter den Ruinen. Dora stand da, das Stück Papier in der Hand, und weinte. Es waren Tränen der Erleichterung, der Trauer, der Verwirrung.
In diesem Moment, sagte sie später, brach meine gesamte Welt sich zusammen. All die Jahre der Propaganda, der Lügen, der Feindbilder – sie zerfielen wie Asche. Boris hatte mir gezeigt, dass die Untermenschen, vor denen man uns gewarnt hatte, Menschen waren. Oft bessere Menschen als wir.
Dora überlebte die Nachkriegszeit. Sie fand Arbeit im Wiederaufbau Berlins, wie Millionen deutscher Frauen, die Trümmerfrauen, die aus den Ruinen eine neue Stadt schufen. Sie heiratete, bekam Kinder, baute sich ein Leben auf. Aber Boris vergaß sie nie.
Jahrzehntelang versuchte sie, ihn zu finden. Sie schrieb Briefe an sowjetische Behörden, an das Rote Kreuz, an jede Organisation, die helfen könnte. Die meisten Briefe blieben unbeantwortet. “Ich wusste nicht einmal seinen richtigen Namen”, sagte sie. “Boris war vielleicht nur ein Spitzname. Ich hatte keine Dokumentnummer, keine Einheit, nichts. Nur die Erinnerung an einen freundlichen jungen Mann, der mir das Leben rettete.”
1990 erreichte einer ihrer Briefe tatsächlich das Zentralkomitee in Moskau. Ein Beamter antwortete höflich, aber ohne konkrete Hilfe. Es gäbe Millionen Soldaten namens Boris. Ohne weitere Details sei eine Suche aussichtslos. Die Jahre vergingen. Dora wurde älter. Die Welt veränderte sich. Der Kalte Krieg teilte Europa. Die Mauer wurde gebaut, trennte Berlin in zwei Welten. Die Hoffnung, Boris jemals wiederzufinden, schwand. “Manchmal”, erzählte sie, “fragte ich mich, ob ich ihn mir eingebildet hatte, ob es wirklich passiert war. Die Erinnerung fühlte sich unwirklich an, zu gut, um wahr zu sein in einer Zeit, die so dunkel war.”
Doch 2010, als Dora bereits 86 Jahre alt war, geschah ein Wunder. Ein deutscher Journalist, fasziniert von ihrer Geschichte, nahm die Suche auf. Mit modernen Methoden, Zugang zu russischen Archiven und der Hilfe von Freiwilligen begann eine systematische Recherche. Sie fanden heraus, dass Boris in Wirklichkeit Bachtia hieß: Bachtia Abdulgassin. Er stammte tatsächlich aus Baschkirien, aus einem kleinen Dorf namens Staro Baltachevo. Er hatte nach dem Krieg in seinem Heimatdorf gelebt, als Lehrer gearbeitet, war 1988 gestorben.
“Als ich seinen richtigen Namen hörte”, sagte Dora, “brach ich in Tränen aus. Nach 65 Jahren hatte ich endlich eine Antwort. Er war kein Phantom. Er war real gewesen, und er hatte überlebt.”
Noch bewegender war die nächste Entdeckung. Bachtias Enkelin, Gusalia Abdulgassina, lebte noch. Sie war bereit, mit Dora Kontakt aufzunehmen. Die beiden Frauen begannen, Briefe zu schreiben. Eine Deutsche und eine Russin. Verbunden durch die Erinnerung an einen Mann, der inmitten des Chaos Menschlichkeit bewahrte.
“Gusalia erzählte mir”, sagte Dora, “dass ihr Großvater oft von Berlin gesprochen hatte, von den zerstörten Straßen, den verzweifelten Menschen und von einer jungen deutschen Frau, der er geholfen hatte.” Er hatte seinen Kindern geraten, Deutsch zu lernen. “Nicht alle Deutschen sind Nazis”, hatte er gesagt. “Erinnert euch daran.”
2011 trafen sich Dora und Gusalia persönlich in Berlin. Es war eine emotionale Begegnung. Zwei Frauen, getrennt durch Sprache, Kultur und Geschichte, vereint durch die Erinnerung an einen guten Menschen. “Als ich sie sah”, erzählte Dora, “sah ich Bachtia in ihren Augen. Die Familienähnlichkeit war da. Wir umarmten uns und weinten. Keine Worte waren nötig. Wir verstanden uns ohne Sprache.”
Die Bedeutung der Erinnerung. Heute, im hohen Alter, reflektiert Dora über die Bedeutung ihrer Geschichte. Sie gibt Interviews, spricht in Schulen, erzählt ihre Erfahrung jedem, der zuhören will – nicht aus dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, sondern aus einem tiefen Verantwortungsgefühl. “Ich schäme mich für die Jahre, in denen ich Teil des Systems war”, sagt sie. “Ich schwenkte Hakenkreuzfahnen. Ich hörte den Reden zu und glaubte den Lügen. Ich schaute weg, als meine jüdischen Nachbarn verschwanden. Diese Schuld trage ich jeden Tag.”
Aber ebenso wichtig ist ihr, die Wahrheit über die sowjetischen Soldaten zu erzählen. Nicht, um die schrecklichen Dinge zu leugnen, die geschahen: Vergewaltigungen, Plünderungen, Gewalt. “Diese Verbrechen fanden statt und sie dürfen nicht vergessen werden.” Aber, betont Dora, “es gab auch die anderen, die Bachtias dieser Welt, die Männer, die trotz allem, was sie erlebt hatten – die Zerstörung ihrer Heimat, den Tod ihrer Kameraden, die Grausamkeiten, die deutsche Soldaten in der Sowjetunion begangen hatten –, die trotz allem ihre Menschlichkeit bewahrten.”
Sie spricht oft über ihre Verwandlung. Wie Bachtia ihr half zu verstehen, dass Menschen im Osten lebten. Echte Menschen wie sie selbst. Menschen mit Familien, Hoffnungen, Träumen. “Die Nazipropaganda hatte uns jahrelang eingeredet, die Slawen seien Untermenschen”, sagt sie. “Bachtia zeigte mir in drei Tagen, was Jahre der Indoktrination versucht hatten zu zerstören: Unsere gemeinsame Menschlichkeit.”
Besonders bewegend ist ihre Einschätzung des Kriegsendes. Viele Deutsche ihrer Generation sehen 1945 als Niederlage, als Demütigung. Dora sieht es anders. “Ich betrachte euren Sieg 1945 als Befreiung”, sagt sie und meint damit die Sowjets. “Ihr habt damals die Deutschen befreit. Befreit von einem verbrecherischen Regime, von einer Ideologie des Hasses. Ja, es war schmerzhaft. Ja, wir verloren viel. Aber wir gewannen unsere Menschlichkeit zurück.”
Diese Worte sind umso wertvoller, als Dora heute nichts zu befürchten hat. Die Berliner Mauer fiel vor Jahrzehnten. Sie lebt in einem freien Deutschland, in dem sie sagen kann, was sie will. In einem Europa, in dem antirussische Stimmungen oft Mode sind, könnte sie sich der Mehrheitsmeinung anschließen, könnte schweigen oder umdeuten. Aber sie wählt die Wahrheit. “Ich bin politisch nicht korrekt”, sagt sie mit einem leichten Lächeln. “Ich sage, was ich erlebt habe. Und ich habe erlebt, dass mich ein sowjetischer Soldat vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Das ist meine Wahrheit, und niemand kann sie mir nehmen.”
Die größere historische Perspektive. Doras Geschichte ist nicht einzigartig, aber sie ist außergewöhnlich dokumentiert und ehrlich erzählt. Um sie vollständig zu verstehen, muss man sie in den größeren Kontext der letzten Kriegstage in Berlin einordnen. Als die Rote Armee Berlin eroberte, waren etwa 2,5 Millionen sowjetische Soldaten an der Operation beteiligt. Sie kamen aus allen Teilen der riesigen Sowjetunion – von Moskau und Leningrad, aus der Ukraine und Weißrussland, aus Zentralasien, dem Kaukasus, Sibirien. Jeder brachte seine eigene Geschichte mit, seine eigenen Erfahrungen mit dem Krieg.
Viele dieser Männer hatten Unvorstellbares durchgemacht. Sie hatten ihre Heimatdörfer in Flammen gesehen, ihre Familien ermordet gefunden, Kameraden sterben sehen. Sie hatten die verbrannte Erde der deutschen Rückzüge erlebt, die ausgehungerten Gefangenen in befreiten Lagern, die Massengräber von Babyn Jar und tausenden anderen Orten. Historiker schätzen, dass etwa 27 Millionen sowjetische Bürger im Zweiten Weltkrieg starben – fast die Hälfte davon Zivilisten. Jeder sowjetische Soldat, der Berlin erreichte, hatte persönliche Verluste erlitten: Väter, Brüder, Söhne, die nicht zurückkehrten; Mütter, Schwestern, Töchter, die unter deutscher Besatzung umkamen.
Mit dieser Last, diesem Trauma, diesem Hass im Herzen kamen sie nach Deutschland. Und die sowjetische Propaganda hatte ihren Teil getan. Der berühmte Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte in Flugblättern geschrieben: “Tötet, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist.” Diese Worte wurden an Millionen Soldaten verteilt.
In diesem Kontext ist es fast ein Wunder, dass es Männer wie Bachtia gab. Männer, die trotz allem, was sie erlebt hatten, trotz der Propaganda, trotz des berechtigten Zorns, ihre Menschlichkeit nicht verloren. “Bachtia war kein Engel”, betont Dora. “Er war ein Mensch. Aber er war ein Mensch, der sich entschied, anständig zu bleiben, in einer Zeit, in der Anstand die Ausnahme war.”
Gleichzeitig verschweigt Dora nicht die dunkle Seite. Die Massenvergewaltigungen in Berlin sind historisch dokumentiert. Schätzungen gehen von mindestens 100.000 Frauen aus. Wahrscheinlich waren es mehr. Viele wurden mehrfach vergewaltigt. Tausende begingen Selbstmord. Es war ein Verbrechen gigantischen Ausmaßes. “Diese Wahrheit darf nicht verschwiegen werden”, sagte Dora. “Es geschah. Es war schrecklich. Deutsche Frauen litten entsetzlich.” Aber, und das ist wichtig: “Es war nicht universell. Es gab Täter und es gab Beschützer. Die Welt ist nicht schwarz-weiß.”
Historiker wie Antony Beevor haben diese Ereignisse ausführlich dokumentiert. Aber sie haben auch darauf hingewiesen, dass sowjetische Offiziere versuchten, die Disziplin wiederherzustellen. Stalin selbst erließ am 20. April 1945 einen Befehl, der sexuelle Gewalt unter Todesstrafe stellte. Die Umsetzung war uneinheitlich, aber der Wille war da. Bachtia gehörte zu jenen, die diesen Befehl ernst nahmen. Sein Schild an Doras Haus war mehr als symbolisch. Es war ein Schutzschild gegen das Chaos, eine kleine Insel der Ordnung in einem Meer der Gewalt.
Was deutsche Soldaten in der Sowjetunion taten – ein Aspekt von Doras Geschichte, den sie selbst immer betont – ist ihre späte Erkenntnis über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion. Jahrelang wusste sie es nicht oder wollte es nicht wissen. Nach dem Krieg, als die Wahrheit langsam ans Licht kam, war sie entsetzt. “Ich erfuhr erst Jahre später”, sagt sie, “was deutsche Soldaten auf sowjetischem Boden getan hatten. Die verbrannten Dörfer, die erhängten Partisanen, die systematische Vernichtung, die 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in deutschen Lagern verhungerten oder erschossen wurden.”
Der Vernichtungskrieg im Osten war von Anfang an anders als der Krieg im Westen. Die Wehrmacht kämpfte nicht nur gegen die Rote Armee, sondern führte einen ideologischen Krieg gegen die slawische Bevölkerung. Der Kommissarbefehl befahl die Erschießung politischer Offiziere. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass suspendierte praktisch jedes Kriegsrecht. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Weißrussland verlor ein Viertel seiner Bevölkerung. Die Blockade von Leningrad kostete über eine Million Menschen das Leben durch Verhungern. In der Ukraine starben Millionen durch direkte Gewalt, durch Hunger, durch die Politik der verbrannten Erde.
“Wenn ich daran denke”, sagt Dora, “begreife ich Bachtias Größe noch besser. Er hatte allen Grund, mich zu hassen. Seine Heimat war überfallen worden. Seine Landsleute waren abgeschlachtet worden von Deutschen, von Soldaten, die aussahen wie mein Vater, wie mein Bruder. Und trotzdem half er mir.”
Diese Erkenntnis kam zu ihr nicht sofort, sondern über Jahre. Die Nürnberger Prozesse brachten Beweise ans Licht. Dokumentarfilme zeigten die Realität. Bücher wurden geschrieben. Langsam, schmerzhaft musste sich eine ganze Generation Deutscher mit der Wahrheit auseinandersetzen. “Für eine russische Frau”, sagt Dora, “konnte die Begegnung mit einem deutschen Soldaten den sicheren Tod bedeuten: Vergewaltigung, Folter, Mord. Das war alltäglich auf sowjetischem Boden. Und dann komme ich, eine Deutsche, und treffe einen sowjetischen Soldaten, der mich beschützt. Die Ironie ist bitter.”
Bachtias Hintergrund: ein baschkirischer Lehrer im Krieg. Nach der Entdeckung von Bachtias Identität erfuhr Dora mehr über sein Leben. Durch Gusalia und andere Familienmitglieder entstand ein klareres Bild des Mannes, der ihr Leben rettete.
Bachtia Abdulgassin wurde 1916 in Starobaltachevo geboren, einem kleinen Dorf in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Baschkirien. Die Baschkiren sind ein turkstämmiges Volk im südlichen Ural, Muslime mit einer reichen kulturellen Tradition. Seine Familie waren Bauern. Bachtia war das Älteste von fünf Kindern. Er besuchte die Dorfschule, zeigte früh akademisches Talent. In den 30er Jahren, während Stalins Kollektivierung, erlebte seine Familie Hunger und Repression, überlebte aber. 1935 ging Bachtia nach Ufa, der Hauptstadt Baschkiriens, um Lehrer zu werden. Er studierte Sprachen: Russisch, Deutsch, etwas Englisch. Seine Deutschkenntnisse erwarb er von einem alten Lehrer, einem Wolgadeutschen, der selbst später Opfer von Stalins Deportationen werden sollte.
1939 heiratete Bachtia Saida, eine junge Frau aus dem Nachbardorf. Sie bekamen zwei Söhne: Russlan und Farid. Bachtia arbeitete als Lehrer in seiner Heimat, unterrichtete Kinder in Sprachen und Geschichte. Als 1941 der Krieg ausbrach, wurde er sofort eingezogen. Seine militärische Ausbildung war minimal: sechs Wochen. Dann wurde er an die Front geschickt, zunächst als einfacher Infanterist.
Seine Deutschkenntnisse wurden bald entdeckt und er wurde als Dolmetscher eingesetzt. Die ersten Kriegsjahre waren katastrophal. Die Wehrmacht stieß tief ins sowjetische Territorium vor. Bachtias Einheit erlitt schwere Verluste. Er überlebte die Schlacht um Moskau im Winter 1941, wurde verwundet, kehrte zurück. 1943 wurde er zu den Panzertruppen versetzt, nicht als Panzerfahrer, sondern als Teil der Aufklärungseinheit. Seine Aufgabe war es, mit lokalen Bevölkerungen zu kommunizieren, Gefangene zu verhören, Dokumente zu übersetzen.
Er kämpfte in der Schlacht von Kursk, der größten Panzerschlacht der Geschichte. Er erlebte die Befreiung der Ukraine, Weißrusslands. Er sah die Überreste deutscher Grausamkeiten: die zerstörten Dörfer, die Massengräber, die verhungerten Kriegsgefangenen. In einem Brief an seine Frau, der erhalten blieb, schrieb er 1945: “Ich habe Dinge gesehen, über die ich nie sprechen kann. Die Deutschen haben unserer Heimat unvorstellbare Wunden zugefügt. Aber ich will nicht wie sie werden. Ich will nach Hause kommen und noch ein Mensch sein.”
Diese Worte, so betont Dora, sind der Schlüssel zu Bachtias Charakter. Inmitten des totalen Krieges, um Tod und Hass, entschied er sich bewusst, seine Menschlichkeit zu bewahren.
Die letzten Tage in Berlin aus Bachtiars Perspektive. Durch Familiendokumente und Berichte seiner Kameraden wurde auch bekannt, wie Bachtia die Tage in Berlin erlebte. Seine Einheit, Teil der Ersten Garde-Panzerarmee, erreichte Berlin Ende April 1945. Die Schlacht war brutal. Haus-zu-Haus-Kämpfe, jede Straße verteidigt. Sowjetische Verluste waren hoch. Bachtia sah Kameraden sterben, junge Männer, die die Heimat nie wiedersehen würden. Die Wut war groß, der Wunsch nach Vergeltung nachvollziehbar.
Aber Bachtia schrieb später: “Als wir die Zivilisten sahen, die verhungerten Kinder, die verzweifelten Frauen, wurde mir klar: ‘Sie waren nicht unsere Feinde. Sie waren Opfer wie wir. Opfer eines wahnsinnigen Regimes.'” Am 3. Mai, als der Kampf vorbei war, erhielt seine Einheit Befehl, Wohngebiete zu sichern. Sie sollten Ordnung wiederherstellen, Plünderungen verhindern. Bachtia und zwei Kameraden wurden einem Wohnblock in Mitte zugewiesen.
“Als ich die deutschen Frauen sah”, erinnerte er sich später, “sah ich meine eigene Mutter, meine Schwestern. Sie hatten dieselbe Angst in den Augen, die ich in sowjetischen Dörfern gesehen hatte. In diesem Moment beschloss ich, zu helfen.”
Seine Entscheidung, bei Doras Familie zu bleiben, war nicht nur menschlich, sie war auch strategisch klug. Indem er das Haus als besetzt markierte, schützte er es vor anderen Soldaten. Sein Rang als Offizier gab ihm die Autorität dazu.
Die drei Tage dort waren für ihn, wie Dora später erfuhr, ebenso bedeutsam. Er hatte seit Jahren keine normale Konversation mehr geführt. Kein Gespräch über Familie, über Hoffnungen, über das Leben nach dem Krieg. Mit Dora konnte er das. “Sie war jung, verängstigt, aber ehrlich”, erzählte er später seiner Familie. “Sie versuchte nicht zu lügen oder sich herauszureden. Sie hörte zu, als ich von meiner Heimat erzählte. In diesen drei Tagen fühlte ich mich wieder wie ein Mensch, nicht wie ein Soldat.”
Am 9. Mai, als der Krieg offiziell endete, musste er aufbrechen. Seine Einheit wurde nach Osten verlegt. Die Sowjetunion bereitete sich auf einen möglichen Krieg gegen Japan vor. Bachtia nahm die Erinnerung an Dora mit, ein Lichtblick in Jahren der Dunkelheit.
Er kehrte im Herbst 1945 nach Hause zurück. Sein Dorf hatte den Krieg überlebt, wenn auch gezeichnet. Viele Männer kehrten nicht zurück. Bachtia hatte Glück gehabt. Er lebte, war relativ unversehrt. Er nahm seine Arbeit als Lehrer wieder auf. Er sprach selten über den Krieg, wie die meisten Veteranen. Aber eine Geschichte erzählte er oft: die von einer jungen deutschen Frau in Berlin und drei Tagen, in denen Menschlichkeit über Hass siegte.
Das Vermächtnis für die Nachwelt. Heute, Jahrzehnte nach Bachtias Tod und in Doras hohem Alter, gewinnt ihre Geschichte neue Relevanz. In einer Zeit, in der Europa wieder von Spannungen geprägt ist, in der alte Feindbilder neu aufleben, ist ihre Erzählung eine Mahnung.
Dora spricht regelmäßig in deutschen Schulen. Sie erzählt Jugendlichen ihre Geschichte, zeigt ihnen, wie Propaganda funktioniert, wie leicht Menschen manipuliert werden können. Aber auch, wie wichtig es ist, die Menschlichkeit im anderen zu sehen. “Junge Menschen heute”, sagt sie, “wachsen in Frieden auf. Das ist wunderbar. Aber sie müssen verstehen, wie zerbrechlich dieser Frieden ist, wie schnell aus Nachbarn Feinde werden können, wenn man Hass sät.” Sie warnt vor einfachen Narrativen, vor der Versuchung, Geschichte in Gut und Böse einzuteilen. “Die Welt ist kompliziert”, sagt sie. “Es gab deutsche Verbrecher und deutsche Opfer. Es gab sowjetische Helden und sowjetische Verbrecher. Wir müssen beides anerkennen.”
In Russland, wo Gusalia lebt, wird Bachtias Geschichte ebenfalls erzählt. Lokale Zeitungen haben berichtet. Schulen laden Gusalia ein. Für junge Russen ist es wichtig zu hören, dass ihre Vorfahren nicht nur Krieger waren, sondern auch Menschen mit Mitgefühl. “Mein Großvater”, sagt Gusalia, “hat mir beigebracht, dass Mut nicht nur im Kampf gezeigt wird. Mut ist auch, anständig zu bleiben, wenn alle um dich herum die Menschlichkeit verlieren.”
Die Geschichte hat auch eine versöhnende Dimension. Deutsche und russische Jugendliche treffen sich im Rahmen von Austauschprogrammen, sprechen über die Vergangenheit, bauen Brücken. Doras und Bachtias Geschichte ist dabei oft ein Ausgangspunkt. “Wenn wir nur über die Verbrechen sprechen”, sagt Dora, “bleiben wir im Hass gefangen. Aber wenn wir auch die Lichtblicke zeigen, die Momente der Menschlichkeit, dann gibt es Hoffnung.”
Schlussgedanken. Was uns diese Geschichte lehrt. Dora Ness ist heute weit über 90 Jahre alt. Ihr Gedächtnis ist noch scharf. Ihre Stimme klar, wenn sie erzählt. Sie weiß, dass sie nicht mehr lange Zeit hat. Deshalb ist es ihr so wichtig, ihre Geschichte weiterzugeben. “Ich erzähle das nicht, um mich selbst in ein gutes Licht zu rücken”, betont sie immer wieder. “Ich war Teil eines verbrecherischen Systems. Ich habe mitgemacht, habe weggeschaut. Diese Schuld trage ich.”
Aber ebenso wichtig ist ihr die andere Botschaft: In den dunkelsten Zeiten gibt es immer noch Menschen, die das Richtige tun. “Bachtia hätte mich ignorieren können, hätte weitergehen können. Niemand hätte ihn verurteilt. Aber er entschied sich anders. Das ist das Wunder.” Sie spricht oft von der Bedeutung persönlicher Begegnungen. “Propaganda funktioniert nur, wenn der Feind abstrakt bleibt”, sagt sie. “Sobald man dem Feind in die Augen schaut, sobald man seine Geschichte hört, seine Familie sieht, dann bricht das Feindbild zusammen.”
Das ist vielleicht die wichtigste Lektion von Doras Geschichte: dass Menschlichkeit universell ist, dass sie Grenzen, Ideologien und Kriege überschreitet, dass jeder Mensch die Wahl hat, anständig zu sein oder nicht. “Bachtia hatte allen Grund, mich zu hassen”, sagt Dora. “Ich hatte allen Grund, ihn zu fürchten. Aber wir haben beide die Menschlichkeit im anderen gesehen. Das rettete mich und vielleicht auch ihn.”
Zum Schluss ihrer Erzählungen kommt Dora immer auf denselben Punkt zurück: “Der sowjetische Soldat wird immer für mich Bachtia Abdulgassin sein. Ein glorreich kämpfender Mann, aber vor allem ein Mensch. Der sowjetische Soldat brauchte Wahrheit und Gerechtigkeit. Der sowjetische Soldat wollte nach einem langen Krieg nach Hause, weil seine Familie auf ihn wartete. Er war kein Monster, er war wie wir alle jemand, der sich nach Frieden sehnte.”
Diese Worte, gesprochen von einer Frau, die das Naziregime erlebte, die Propaganda glaubte, die dann durch eine einfache Begegnung transformiert wurde, diese Worte haben Gewicht. Sie sind ein Vermächtnis, eine Botschaft an kommende Generationen. In einer Welt, die immer noch von Konflikten geprägt ist, in der immer noch Feindbilder kultiviert werden, ist Doras Geschichte eine Erinnerung: Der Weg zum Frieden führt über die Anerkennung unserer gemeinsamen Menschlichkeit, über die Bereitschaft, im anderen nicht den Feind zu sehen, sondern den Menschen. Bachtia und Dora. Ein sowjetischer Soldat und eine deutsche Frau. Zwei Menschen, die sich in den Trümmern Berlins begegneten und einander zeigten, dass selbst im dunkelsten Moment der Geschichte Menschlichkeit möglich ist. Ihre Geschichte ist ein Licht in der Dunkelheit, ein Hoffnungsschimmer, eine Mahnung und ein Versprechen zugleich – möge sie niemals vergessen werden.