Wir fragen oft, was Krieg kostet. Wir zählen die Bomben, die Städte, die Soldaten. Aber was ist der Preis für ein einzelnes Kind? Was bleibt von einem Jungen übrig, wenn ihm alles genommen wird? Seine Familie, sein Zuhause und sogar sein eigener Name? Bevor wir Manfreds Reise ins Ungewisse begleiten, stellen Sie sicher, dass Sie abonniert sind und die Benachrichtigungen aktivieren, um diese Geschichten nicht zu verpassen.
Unsere Geschichte beginnt in den letzten Tagen Ostpreußens, in der Dunkelheit eines Güterwagons. Es gab kein Licht, nur die absolute erdrückende Schwärze eines geschlossenen Raumes, der sich bewegte. Das einzige, was die Dunkelheit durchbrach, war das Geräusch, ein hohes schrilles metallisches Quietschen, das niemals aufhörte.

Es war der Klang von Stahl auf Stahl, der Klang von Rädern, die über gefrorene Schienen gezwungen wurden. Dieser Lärm war mehr als nur ein Geräusch. Er war eine physische Kraft, die sich in Manfreds Schädel bohrte und jeden anderen Gedanken verdrängte. Es war der Herzschlag ihrer Flucht, ein Rhythmus aus Panik und Eisen, der sie unaufhaltsam vorwärts trieb, weg von allem, was er kannte. In seinem Kopf schrie alles.
Er wollte sich die Ohren zuhalten, aber seine Arme waren zu schwach und er wagte nicht, die Hand seiner Schwester loszulassen. Das Geräusch machte ihn klein. Es erinnerte ihn daran, dass er gefangen war, ein Paket in einer Kiste, das irgendwohineschickt wurde, ohne dass er wusste, wohin. Es war ein Geräusch, das keine Hoffnung zuließ, nur die endlose mechanische Fortdauer des Augenblics.
Er versuchte sich an andere Geräusche zu erinnern, an das Summen seiner Mutter in der Küche, an das Lachen seiner Freunde auf der Straße. Aber das Quietschen der Räder war lauter. Es war das Geräusch der neuen Welt. Der Krieg, so dachte er, musste genauso klingen wie ein endloser Nagel, der über eine Schiefertafel gezogen wird.
Manfred presste die Augen zusammen, eine kleine angespannte Grimasse in der Finsternis. Er versuchte das Geräusch auszusperren, sich unsichtbar zu machen, sich in den kleinen Raum zwischen zwei Atemzügen zu falten. Er konzentrierte sich auf den Holzboden unter sich, fühlte die Vibration des Wagons durch seinen dünnen Mantel, eine Erschütterung, die bis in seine Knochen reichte.
Doch unter dem dominierenden Kreischen des Metalls lag ein anderer Klang. Es war kein mechanisches Geräusch, sondern ein menschliches, ein leises, vielstimmiges Wimmern. Es kam von überall um ihn herum, von den anderen Körpern. die in der Dunkelheit zusammengedrängt waren. Es waren die anderen Kinder. Sie weinten nicht laut. Es war kein Schreien.
Es war ein dünnes, fastisches Geräusch der Erschöpfung und des Elens, das kaum die Kraft hatte, sich gegen den Lärm des Zuges durchzusetzen. Sobald sich die Ohren an das Kreischen gewöhnt hatten, übernahm der Geruch die Sinne. Es war ein saurer Geruch.
Der Geruch von zu vielen Menschen auf zu engem Raum, der Geruch von Angst, die sich in kalten Schweiß verwandelt hatte. Es war der Geruch von ungewaschenen Körpern, von wochenaltem Schmutz, von Mänteln, die Regen und Schlamm und Schnee gesehen hatten. Und darunter lag etwas Schärferes, der unverwechselbare, bittere Geruch von Fäkalien und Urin, der sich in einer Ecke sammelte und den eisigen Boden zu durchdringen schien.
Manfred zog den Kopf ein und versuchte durch den Mund zu atmen, aber die Luft war so dick, dass man sie fast kauen konnte. Sie war kalt, ja, eine beißende Kälte, die durch die Ritzen in den Wänden pfiff. Aber sie war nicht frisch. Sie trug den Gestank des Leidens in sich.
Es war der Geruch der Hoffnungslosigkeit, eine unsichtbare Decke, die schwerer wog als die Dunkelheit selbst. Er erinnerte sich an den Geruch von Heu auf dem Dachboden seines Onkels, an den Geruch von Apfelkuchen an einem Sonntag. Diese Erinnerungen fühlten sich jetzt wie Lügen an, wie Geschichten aus einem Buch, das jemand anderem gehört hatte.
Die Propaganda hatte immer von Sauberkeit und Ordnung gesprochen, vom reinen deutschen Volk. Diese Realität hier roch nach Verfall. Sie roch nach dem Ende. Er drückte sein Gesicht in den Kragen seines Mantels. Der Stoff war rau und roch nur nach ihm selbst, nach Rauch und alter Asche. Es war kein Trost, aber es war eine winzige Barriere.
Er versuchte flach zu atmen, kleine vorsichtige Züge kalter, stinkender Luft zu nehmen, gerade genug, um zu überleben, aber nicht genug, um den vollen Horror dessen, was sie geworden waren, einzuatmen. Der kalte Luftzug, der durch die Planken schnitt, war unerbittlich. Er brachte keinen Sauerstoff, nur die Gewissheit, wie dünn die Wände waren, die sie von der Außenwelt trennten.
Die Kälte kroch über den Boden, gefror den Schmutz und machte seine Füße zu gefühllosen Klumpen. Der Geruch und die Kälte arbeiteten zusammen. Eine Zange, die den Körper von außen angriff, während die Angst ihn von innen aufraß. Eine verzweifelte Neugier, ein kindliches Bedürfnis zu verstehen, zwang ihn zur Bewegung.
Er musste sehen, er musste wissen, ob die Welt außerhalb dieses stinkenden Kastens noch existierte. Auf allen Vieren, wobei er darauf achtete, nicht auf die Gliedmaßen anderer zu treten, kroch Manfred über den vibrierenden Boden. Die Holzplanken waren rau, Splitter verfingen sich in seinen Handschuhen.
Er bewegte sich auf einen dünnen Lichtstreifen zu, der eine der Wände durchschnitt. Sein Herz pochte. Es war ein instinktiver Drang, fast wie der eines Tieres, das aus einem Käfig späht. Er erreichte die Wand. Die Luft, die durch die Ritze strömte, war wie ein Messer, aber er ignorierte sie. Er war ein Junge von 8 Jahren, aber sein Gesicht war das eines alten Mannes, eine Maske aus Schmutz und Ruß, die von gefrorenen Tränenbahnen durchzogen war.
Er dachte, wenn er hinausschauen könnte, würde er vielleicht einen vertrauten Hügel sehen, einen Kirchturm, irgendetwas, das ihm sagte, dass sie noch in der Heimat waren. Vielleicht waren sie nur auf einem Ausflug, einem schrecklichen, falschen Ausflug. Und bald würde der Zug anhalten und seine Mutter würde dort warten. Diese Hoffnung war eine kleine flackernde Flamme.
Er drückte sein Auge an die schmale Öffnung. Der Druck der Bewegung ließ den Wagon schwanken und er musste sich mit einer Hand abstützen. Sein Atem bildete sofort gefrierende Wolke an der Ritze. Er blinzelte und versuchte seine Sicht zu fokussieren. Was er sah, löschte die Flamme. Es war kein Zuhause.
Es war eine Welt, die in weiß und grau ertrunken war. zerstörtes Ostpreußen, endlose Schneefelder durchzogen von den schwarzen Skeletten verbrannter Bäume. Gelegentlich tauchte der Schatten eines zerstörten Bauernhofes auf, dessen Dach eingestürzt war wie ein gebrochener Rücken.
Am Horizont stand eine Rauchsäule, dick und ölig, die sich langsam in den tiefhängenden Himmel schraubte. Die Geschwindigkeit des Zuges verwischte die Details zu einem endlosen Band der Verwüstung. Der Wagon ruckelte heftig über eine Weiche und der Stoß warf Manfred fast um. Er fiel zurück auf seinen Platz und griff blind in die Dunkelheit.
Seine Finger fanden, was sie suchten, die Hand seiner jüngeren Schwester. Er klammerte sich daran fest. Es war seine einzige Aufgabe, sein einziger Befehl in diesem Chaos. Er war der große Bruder. Er mußte sie festhalten. Die Dunkelheit war wieder vollständig, aber seine Sinne waren jetzt auf diesen einen Punkt konzentriert, auf das Gefühl ihrer Hand in seiner.
Er hatte Angst, sie in dem Gedränge zu verlieren, Angst, dass sie ihm weggenommen werden könnte, während er nicht hinsah, obwohl es nichts zu sehen gab. Er versuchte sich an die Wärme ihrer Hand zu erinnern, aber diese Erinnerung war frisch und widersprach der Realität. Seine zentrale Überzeugung war einfach. Solange er sie hatte, solange er wußte, wer er war und zu wem er gehörte, war er nicht wirklich verloren.
Sie war sein Anker in dieser Dunkelheit. Er war Manfred und das war seine Schwester. Das war die Wahrheit. Er zog ihre Hand näher an sich, versuchte sie mit seinen beiden Händen zu umschließen, um ihr etwas von seiner eigenen schwindenden Körperwärme zu geben. Er rieb ihre Finger, aber da war keine Reaktion. Ihre Hand war klein, schlaff und entsetzlich passiv. Ihre Haut war nicht nur kalt, es war nicht die Kälte des Schnees draußen.
Es war eine andere Kälte, eine tiefe, stille Kälte, die von innen zu kommen schien. Sie war kalt wie Eis. Er rieb fester, eine wachsende Panik in seiner Brust. Er flüsterte ihren Namen in die Dunkelheit, aber das Quietschen der Räder und das Wimmern der anderen Kinder verschluckten den Klang. Ihre Hand blieb reglos.
Der Zug fuhr weiter. Stunde um Stunde. Vielleicht war es ein Tag, vielleicht waren es zwei. Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Sie wurde nur noch durch die Anfälle von Hunger und die Taubheit der Gliedmaßen gemessen. Der Zug hielt nicht an. Er schien kein Ziel zu haben.
Er fuhr ziellos durch eine gefrorene Hölle, ein Gespensterschiff auf eisernen Schienen. Manfreds Panik über die Kälte der Hand seiner Schwester wich einer dumpfen, schrecklichen Apathie. Er hatte keine Tränen mehr. Der Schock und der Hunger hatten ihn betäubt. Er saß einfach da, ein achtjähriger Junge, der ein kleines kaltes Gewicht in seinen Händen hielt.
Er dachte nicht mehr an Ankunft, er dachte nicht mehr an Rettung. Das Konzept von Zuhause war ein Wort aus einer anderen Sprache geworden. Die Propaganda hatte von Stärke und Durchhalten gesprochen, aber hier gab es nichts durchzuhalten. Es gab nur dieses endlose, laute, stinkende Vorwärts. Er hörte auf, durch die Ritze schauen zu wollen.
Die zerstörte Landschaft draußen war nur eine Bestätigung dessen, was er innen fühlte. Die Welt, wie er sie gekannt hatte, die Welt der warmen Küchen, der sicheren Betten, der elterlichen Fürsorge, war nicht nur außer Reichweite, sie war ausgelöscht. Er saß in der Dunkelheit, umgeben von den Geräuschen und Gerüchen des langsamen Sterbens und hielt eine Hand, die nicht mehr warm werden würde.
Der Zug ratterte weiter und Manfred, ruß verschmiert und leer, starrte in eine Dunkelheit, von der er wusste, dass sie nicht mehr weichen würde, selbst wenn die Sonne wieder aufging. Nach vier Tagen, oder vielleicht waren es fünf, geschah das Unmögliche. Das Geräusch hörte auf. Das endlose, ohrenbetäubende Quietschen von Metall auf Metall, das zu ihrem einzigen Zeitmaß geworden war, erstarrb mit einem letzten ächenden Ruck. Die Stille, die folgte, war lauter als der Lärm.
Sie war absolut schwer und erdrückend. Sie war gefüllt mit der angehaltenen Luft von dutzenden Lungen, eine kollektive Pause in der Dunkelheit. In diesem Vakuum war das einzige Geräusch das leise, hoffnungslose wimmern, das jetzt ohne den Lärm des Zuges, der es überdeckte, nackt und furchtbar klang. Manfreds Herz setzte einen Schlag aus.
Es war nicht Erleichterung, es war ein neuer, scharfer Anflug von Terror. Die Bewegung war eine Art von Sicherheit gewesen. Sie bedeutete Flucht. Stillstand bedeutete Ankunft. Stillstand bedeutete, dass sie gefangen waren. Die Dunkelheit fühlte sich plötzlich zehn kälter an. zehnmal bedrohlicher. Er lauschte, sein ganzer Körper angespannt.
Was kam jetzt? Die Propagandapate hatten von Partisanen und wilden Horden gesprochen, die keine Gnade kannten. Waren sie am Ziel? War dies das Ende? Die Ungewissheit war schlimmer als die tagelange Fahrt ins nichts. Er klammerte sich fester an die kleine kalte Hand neben sich. Plötzlich wurde die Stille von außen zerrissen.
Ein lautes, schabendes Geräusch, das Geräusch von schwerem Metall, das zurückgezogen wurde, ein Riegel, dann das Krachen von Holz, als die schwere Wagontür gewaltsam aufgeschoben wurde. Und mit dem Geräusch kamen die Stimmen. Es war kein Deutsch, es waren harte guturale Befehle, die wie Peitschenhibe durch die kalte Luft knallten.
Wörter, die er nicht verstand, aber deren Absicht universell war. Raus, schnell. Es war die Sprache der Autorität, die keine Fragen duldete. Um ihn herum verwandelte sich das Wimmern in offene gellende Schreie. Die neue Welt war angekommen. Ein Rechteck aus gleißendem, brutalem Weiß schnitt in die Dunkelheit. Es war keine sanfte Morgendämmerung, es war ein Angriff.
Nach Tagen in fast völliger Finsternis war das plötzliche Licht, das vom unberührten Schnee reflektiert wurde, eine physische Qual. Es war eine sterile, kalte Helligkeit, die nicht wärmte, sondern brannte. Die Luft, die hereinströmte, roch sauber nach Kiefern und Eis. Ein Geruch, der so rein war, dass er den Gestank im Inneren des Wagons noch unerträglicher machte.
Manfred warf instinktiv einen Arm vor sein Gesicht. Seine Pupillen, geweitet von der langen Dunkelheit, zogen sich schmerzhaft zusammen. Das Licht fühlte sich an wie Nadeln, die ihm in die Augen stachen.
Er blinzelte, Tränen rannen ihm über die rußverschmierten Wangen und schwarze Flecken tanzten vor seinem Blick. Er war blind, exponiert. Er kämpfte gegen den Schmerz an, rieb sich die Augen und zwang sie sich zu öffnen. Er musste sehen. Er musste verstehen. Die Angst vor dem Unbekannten draußen war größer als der Schmerz durch das Licht. Die Propaganda hatte gesagt, der Feind sei unmenschlich. Er musste wissen, ob die Monster wahre Gesichter hatten.
Langsam wich die Blindheit einer verschwommenen, grausamen Klarheit. Das Licht war kein Retter, es war ein Verräter. Es enthüllte den ganzen Horror ihres Gefängnisses. Zum ersten Mal sah er die Gesichter der anderen Kinder. Sie waren nicht nur Kinder, sie waren Gespenster, ausgemergärgelte blasse Gestalten mit hohlen Augen und blauen Lippen, gehüllt in schmutzige Lumpen. Das Licht enthüllte, was die Dunkelheit gnädig verborgen hatte.

Es enthüllte den Dreck, den Kot in der Ecke und es enthüllte die Toten. Eine alte Frau, zusammengesunken an der Wand, ihr Mund offen in einem stillen Schrei, ein winziges Bündel, kaum als Kind zu erkennen, halb von einem Sack verdeckt. Das Licht brachte keine Hoffnung, es brachte nur die entsetzliche Wahrheit. Die Rufe von draußen wurden lauter, ungeduldiger. Raus, schnell.
Ein Stoß von hinten. Die Masse der Überlebenden erwachte zu einer panchen, drängenden Bewegung. Ein Adrenalinstoß durchfuhr Manfred, scharf und klar, trotz des Hungers. Sie mußten hier raus. Er musste seine Schwester beschützen. Das war seine Aufgabe. Die Überzeugung, die ihn die ganzen Tage wach gehalten hatte. Ich darf sie nicht verlieren.
Er wandte sich ihr zu. Sie hatte sich nicht bewegt. Anna, flüsterte er, seine Stimme ein trockenes Krächzen. Aufwachen, wir müssen raus. Er rüttelte an ihrer Schulter. Nichts, die Kälte, dachte er. Die Kälte macht müde. Vater hatte ihm das im letzten Winter erzählt, als sie Holz gehackt hatten. Man schlief einfach ein. Er rüttelte sie fester, eine wachsende kalte Panik in seiner Brust.
Anna, wach auf. Ihr Kopf fiel schlaff zur Seite. In dem grausamen grauen Licht des Schnees sah er ihr Gesicht. Es war nicht das Gesicht seiner schlafenden Schwester. Die Haut war wachsartig, gespannt über den kleinen Knochen. Die Lippen waren blass und hatten einen bläulichen Schimmer.
Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. Sie starrten ihn aus einem halben Spalt an, milchig und leer, ohne etwas zu sehen. Er hielt keine schlafende Schwester in seinen Armen. Er hielt ihre Jacke, aber die Hand darin war kein Teil von ihr mehr. Es war ein Gegenstand, ein kleines, steifes, gefrorenes Ding.
Sein Verstand weigerte sich, die Information zu verarbeiten. Es gab keinen Raum für Trauer, keinen Moment für das Entsetzen. Von hinten wurde er bereits nach vorne geschoben. Er hielt eine Leiche in den Armen und die Welt befahl, ihm zu rennen. Der Wagon explodierte in Chaos. Es war kein geordnetes Aussteigen. Es war eine panische Flucht.
Die Stärkeren, die wenigen Erwachsenen und größeren Kinder stießen und traten sich einen Weg zur Tür. Die Luft füllte sich mit den Schreien derer, die vielen und dem dumpfen Geräusch von Körpern, die auf den gefrorenen Boden prallten. Die Tür war ein Nadelöhr der Verzweiflung und Manfred war mittendrin. Sein Gehirn war taub. Er konnte den Tod nicht begreifen, nicht jetzt. Er konnte nur reagieren. Er klammerte sich reflexartig an den kleinen Körper.
Ein nutzloser, väterlicher Instinkt. Ich kann sie nicht hier lassen. Er konnte sie nicht in diesem stinkenden dunklen Loch zurücklassen. Er versuchte sich auf den Beinen zu halten, sie hochzuziehen, aber die Flut war zu stark. Ein Mann mit wahnsinnigen Augen stieß ihn zur Seite. Weg da, Junge. Manfred fiel gegen die Wand, rappelte sich wieder auf, wurde weitergeschoben. Er erreichte den Rand des Wagons.
Es war ein hoher Sprung nach unten in den tiefen Schnee. Er zögerte, nur eine Sekunde lang, den Blick auf das starre Gesicht seiner Schwester gerichtet. In dieser Sekunde traf ihn ein harter Stoß von hinten. Er sah nicht von wem. Ein Stiefel, ein anderer Flüchtling. Es spielte keine Rolle. Er wurde gestoßen. Er verlor das Gleichgewicht.
Seine Hände öffneten sich im Schock des Sturzes. Er fiel Er fiel aus der Dunkelheit ins Licht, aus dem Gestank in die brennende Kälte. Er landete hart, der Atem wurde ihm aus der Lunge gepresst, als er kopfüber in eine tiefe pulverige Schneewehe neben den Gleisen stürzte. Die Welt war weiß und ohrenbetäubend laut.
Schnee füllte seinen Mund. Er schmeckte nach nichts, nach reinem Eis. Er rang nach Luft, die so kalt war, daß sie seine Lungen wie Feuer verbrannte. Um ihn herum herrschte ein Inferno aus Lärm. Menschen fielen aus den Wagons, Soldaten in schweren Mänteln, schrien auf russisch, trieben die Menschen mit Gewehrkolben zusammen.
Desorientierung: Wo war sie? Die Taubheit in seinem Gehirn zersprang und wurde durch einen blitzartigen Gedanken ersetzt. Wo ist Anna? Der finale absolute Horror traf ihn. Er rappelte sich mühsam auf. Seine Glieder zitterten vor Kälte und Schwäche. Er blickte zurück auf den Wagon. Menschen purzelten immer noch heraus. Er blickte auf den Schnee, wo er gelandet war.
Er sah nichts, nur den aufgewühlten, zertrampelten Schnee. “Ana”, versuchte er zu schreien, aber es kam nur ein heiseres Würgen heraus. Er drehte sich im Kreis, seine Augen wild. Er sah einen fetzen blauen Stoff, ihren Mantel, ein paar Meter entfernt, halb im Schnee begraben, während die Menge darüber hinwegtrampelte.
Er versuchte darauf zuzulaufen, machte zwei Schritte, doch er wurde von einer Welle rennender Menschen erfasst und in die andere Richtung gestoßen. Er fiel erneut. Als er aufblickte, war die Menge zwischen ihm und der Stelle. Sie war weg. Ob ihr Körper zertrampelt oder von jemandem mitgerissen wurde, er wusste es nicht. Es spielte keine Rolle. Er war allein.
Er starrte auf seine Hände, die jetzt leer waren, nur mit schmelzendem Schnee bedeckt. Der Anker war zerrissen. Der letzte Faden zu dem Jungen namens Manfred war gekappt. Der Schnee war tief und furchtbar kalt. Eine weiße Wüste, die sich in alle Richtungen erstreckte. Manfred stand einfach da.
Er war eine kleine, unbewegliche Gestalt in der Weite des Feldes, ein dunkler Fleck auf einer reinen Leinwand, das Chaos am Zug, die Schreie, die Befehle, das Weinen, schien sich von ihm zurückzuziehen. Es war als stünde er unter einer Glasglocke.
Er spürte, wie der Wind an seinem dünnen Mantel zerrte und hörte das entfernte Bällen der Soldaten, aber es erreichte ihn nicht wirklich. Sein Gehirn war stillgelegt. Es war ein leerer Raum, ein weißes Rauschen, das den Schock übertönte. Er starrte auf seine Hände. Sie waren leer. Vor wenigen Augenblicken hatten sie noch eine andere Hand gehalten. Jetzt hielten sie nichts.
Der Gedanke, sie ist weg, formte sich in seinem Kopf, aber er hatte kein Gewicht, keine Bedeutung. Es war eine Tatsache, so abstrakt wie die Zahl der Sterne am Himmel. Er dachte, er sollte etwas tun, weinen, schreien, zurücklaufen, aber seine Füße schienen im gefrorenen Boden verwurzelt zu sein.
Die Propaganda hatte immer von Heldenmut und Opfertot gesprochen. Sie hatten nie von dieser Art von Lähmung gesprochen, diesem absoluten Versagen des Körpers, dem Verstand zu gehorchen, wenn der Verstand selbst aufgehört hatte zu existieren. Er bewegte sich nicht, er atmete kaum. Er war ein Zeuge seines eigenen Verschwindens. Die Welt ging um ihn herum weiter, gewalttätig und laut.
Aber der Junge namens Manfred war bereits gestorben. Er stand einfach nur da und wartete darauf, dass der Rest seines Körpers es begriff. Ein Soldat, nicht weit entfernt, stieß eine alte Frau zu Boden, die nicht schnell genug war. Er sah es, aber er fühlte nichts. Die Kälte kroch durch seine durchnästen Schuhe und begann seine Zehen zu beißen.
Die Lähmung war nicht nur mental, sie war physisch. Er gefror von außen nach innen. Die Welt um ihn herum war in Bewegung, eine Flut von panischen Körpern, die sich vom Zug wegbewegten. Er war der einzige Fels in diesem Strom. Er sah, wie die Soldaten begannen, die Menschen in eine grobe Kolonne zu zwingen, wie sie ihre Gewehre benutzen, um diejenigen anzutreiben, die zögerten. Ein Schuss fiel, flach und trocken in der kalten Luft.
Es war nicht auf ihn gerichtet, aber der Klang ließ ihn zusammenzucken. Er wußte, dass er rennen sollte. Aber wohin? Der Zug war weg. Anna war weg. Das Konzept von zu Hause war ein Wort, das er einmal gekannt hatte. Er hatte kein Ziel mehr. Wo zu rennen, wenn es keinen Ort mehr gab, an den man rennen konnte.
Seine Überzeugung, seine Aufgabe, war in der Dunkelheit des Wagons gestorben. Plötzlich prallte etwas Hartes gegen ihn, warf ihn fast aus dem Gleichgewicht. Es war kein Soldat, es war ein anderer Junge, vielleicht zwölf oder Jahre alt, mit einem harten alten Gesicht, das von Ruß und Dreck geschwärzt war.
Der Junge war außer Atem, seine Augen waren weit vor Angst, aber klar vor Entschlossenheit. Der Ältere verschwendete keine Zeit. Er packte Manfred am Kragen seines Mantels. Der Stoff spannte sich, seine Finger waren wie Klauen. Er zerrte Manfred zu sich heran, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Der Atem des Jungen war eine heiße, saure Wolke in der eisigen Luft.
“Steh nicht rum!”, schrie er, seine Stimme ein heiseres Krächzen. “In den Wald, sie bringen uns um.” Der physische Schock des Griffs, die rohe, unverfälschte Panik in der Stimme des anderen Jungen, durchbrach die Glasglocke. Es war kein Befehl eines Erwachsenen, es war der reine Überlebenswille eines anderen Kindes. Sie bringen uns um.
Dieses Wort verstand er. In den Wald, das war ein Ziel. Adrenalin schoss durch Manfreds Körper, eine schmerzhafte elektrische Welle, die die Taubheit verjagte. Der Verstand war immer noch leer, aber der Körper hatte einen Befehl erhalten. Fliehen. Es war kein Gedanke. Es war ein Instinkt, der älter war als er selbst. Es war der Instinkt des gejagten Tieres.
Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, so laut, dass er dachte, es würde zerspringen. Die Welt wurde zu einem Tunnelblick. Vor ihm, der dunkle verlockende Schatten des Waldes, vielleicht 100 m entfernt. Hinter ihm die Schreie und die Gewehre. Er rannte. Seine Beine waren wie Blei, steif von der Kälte und den Tagen der Enge im Zug.
Er stolperte durch den tiefen, unberührten Schnee, der sich wie nasser Zement um seine Knöchel legte. Er fiel. Sein Gesicht schlug hart in die pulverige Oberfläche. Der Schock raubte ihm den Atem. Für eine Sekunde lag er da, keuchend: “Schnee in Mund und Nase. Sie bringen uns um.” Die Stimme des Jungen halte in seinem Kopf wieder. Er stieß sich hoch, seine Hände brannten vor Kälte. Er bemerkte, daß er einen Handschuh verloren hatte, aber es war ihm egal.
Er rannte weiter, unbeholfen, ein stolpernder, verzweifelter Lauf, angetrieben von einer blinden tierischen Panik. Er hörte weitere Rufe hinter sich, aber er drehte sich nicht um. Er sah nur den Waldrand, der langsam näher kam. Die Bäume waren eine Wand, ein Versprechen auf Schatten und Deckung. Er war nicht mehr Manfred der Bruder, er war nur noch etwas, das rannte.
Er erreichte die ersten Bäume und stürzte fast hinein. Seine Lungen brannten, als würden sie Eis und Feuer gleichzeitig einatmen. Er lehnte sich gegen den rauen, harzigen Stamm einer Kiefer und sog tiefen, zittrigen Zügen ein. Hier, unter dem dichten Dach der Äste war die Welt stiller. Der Wind sang ein hohes, trauriges Lied in den Wipfeln.
Der Geruch war anders. nicht mehr der Gestank des Zuges, sondern der scharfe, saubere Geruch von Schnee und feuchtem Kiefernholz. Die plötzliche Stille war fast so ohrenbetäubend wie der Lärm zuvor. Er fühlte sich für einen Moment sicher, verborgen. Die unmittelbare Bedrohung war hinter ihm.
Er schloss die Augen nur für eine Sekunde, und sein ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass er nicht allein war. Der ältere Junge, der ihn angestoßen hatte, war bereits da, tiefer im Schatten, und mit ihm waren andere, eine kleine zerlumpte Ansammlung von Kindern, ein Mädchen, vielleicht 10 Jahre alt, mit Augen, die zu groß für ihr Gesicht waren.
Zwei kleinere Jungen, die sich aneinander schmiegten. Es war eine stumme Versammlung. Niemand sprach, niemand weinte. Sie sahen sich nur an, eine gegenseitige Anerkennung ihres gemeinsamen Schicksals. Dies war kein Schulausflug, es war keine Familie. Es war ein Rudel. Winzige Gestalten, die von der riesigen Schneebedeckten Landschaft fast verschluckt worden wären, hatten sich am Rande der Zivilisation zusammengefunden, vereint nur durch die Flucht. Manfred langsam zu ihnen. Ein kleiner Junge wich zurück,
aber das Mädchen nickte ihm kaum merklich zu. Es war eine Einladung. Er war jetzt einer von ihnen, ein Wolfskind. Der ältere Junge hob den Kopf und lauschte. Die Geräusche vom Zug waren gedämpft, aber immer noch präsent. Man hörte das Rasseln von Ausrüstung, das gelegentliche Aufheulen eines LKW-motors.
“Sie sind beschäftigt”, flüsterte der Junge. “aber nicht lange. “Wir müssen tiefer rein. Weg von den Gleisen.” Er gab ein Zeichen und die kleine Gruppe begann sich zu bewegen, einer nach dem anderen tiefer in den dichten, schneebedeckten Wald hinein. Bevor Manfred sich endgültig abwandte, bevor er dem einzigen Ort, den er kannte, den Rücken kehrte, warf er einen letzten Blick zurück. Er sah die Szene aus der Ferne. Der lange schwarze Zug wie eine Wunde im Schnee.
Die Soldaten, dunkle Ameisenähnliche Figuren, die methodisch vorgingen. Er sah die Gruppe der Gefangenen, die zusammengedrängt wurden. Er sah die verstreuten Bündel auf dem Feld, die sich nicht mehr bewegten. Ein Wort stieg in ihm auf. Normalität.
Er dachte an sein Bett zu Hause, an den Geruch von Suppe in der Küche, an die Hand seiner Mutter, die ihm über das Haar strich. Diese Bilder waren nicht mehr nur Erinnerung, sie waren Fiktion. Sie gehörten zu einer Geschichte, die zu Ende erzählt war. Die Welt, in der diese Dinge existiert hatten, war ausgelöscht. Der Junge namens Manfred, der eine Schwester hatte und zu einer Familie gehörte, war dor hinten auf dem Feld gestorben, neben dem Zug.
Der, der sich jetzt umdrehte und den anderen Kindern in die kalte, gleichgültige Dunkelheit des Waldes folgte, war jemand anderes, ein Überlebender, ein Geist. Die erste Woche im Wald war kein Leben. Es war ein langsames Erstarren. Die Trauer um Anna, der Schock über den Verlust seiner Welt. All das wurde von einer neuen alles beherrschenden Kraft an den Rand gedrängt, dem Hunger. Es war kein gewöhnlicher Hunger, nicht das Warten auf das Abendessen.
Es war ein Schmerz, ein hohles, nagendes Gefühl, das in seinem Magen begann und sich wie eine Klaue in seinen Eingeweiden festsetzte. Es war ein ständiger dumpfer Alarm, der jede andere Empfindung übertönte. Die Angst vor den Soldaten, die Erinnerung an den Zug, das Bild von Annas leerem Gesicht. All das verblasste.
Der Hunger war jetzt, er war körperlich, er war unerbittlich, der Wald selbst war still, als hielte er den Atem an. Der Schnee lag schwer auf den Kiefernäen und dämpfte jeden Laut zu einem dumpfen Flüstern. Diese Stille war keine friedliche Stille. Es war die Stille eines leeren Vorratsschrankes. In seinem Verstand begannen sich Bilder zu bilden, schärfer als jede Erinnerung. Ein Leib Brot, dampfend und mit dicker Kruste.
Eine Schüssel Kartoffelsuppe, so heiß, dass sie ihm den Mund verbrannte. Es waren keine Erinnerungen mehr, es waren Halluzinationen. Sie quälten ihn. Die Propaganda hatte ihnen beigebracht. Für das Vaterland zu hungern sei eine Ehre. Sie hatten nicht erwähnt, daß es sich anfühlen würde, als würde man von innen aufgefressen. Die kleine Gruppe bewegte sich kaum noch.
Sie kauerten zusammen, nicht mehr aus Angst, sondern nur noch, um die letzte schwindende Körperwärme zu teilen. Sie waren zu schwach, um zu rennen, zu schwach, um weit zu gehen. Ihr Überleben wurde in Stunden gemessen, nicht in Tagen. Das Schlimmste war nicht das Geräusch des Hungers, sondern sein Ende.

In den ersten Tagen hatten die jüngsten Kinder noch geweint, jetzt waren sie still. Sie hatten keine Energie mehr für Tränen. Das einzige Geräusch war das gelegentliche trockene Knirschen von Stiefeln auf verkrustetem Schnee, wenn sich jemand bewegte und das hohle Geräusch des Windes in den Khlen Ästen über ihnen.
Sie hatten sich auf einer kleinen Lichtung niedergelassen, wo ein schwacher Sonnenstrahl den Schnee geschmolzen hatte und den gefrorenen Boden freilegte. Hier sah Manfred den älteren Jungen, den sie nur den Langen nannten, bei der Arbeit. Der Lange war ihr stillschweigender Anführer, derjenige, der sie in den Wald geführt hatte. Er kniete im Dreck, den Rücken gebeugt und griff in die Erde. Der Geruch war scharf.
Feuchte, kalte Erde, ein Geruch nach Kellern und Gräbern. Manfred beobachtete ihn mit einer Intensität, die nichts mit Neugier zu tun hatte. Es war eine fokussierte Verzweiflung. Er sah nicht zu, um zu lernen. Er sah zu, um nachzuarmen, was immer nötig war, um nicht zu sterben.
Sein Verstand war ausgeschaltet, nur seine Augen funktionierten noch und saugten jedes Detail auf. Er sah die Hände des Langen. Sie waren nicht mehr die Hände eines Jungen, sie waren Werkzeuge, rissig und blau vor Kälte. Die Knöchel waren aufgesprungen und bluteten leicht, aber der Junge schien es nicht zu bemerken.
Manfred begriff in diesem Moment, dass Stärke nichts mit den Soldaten zu tun hatte, die er gesehen hatte. Stärke war die Fähigkeit, die gefrorene Erde mit bloßen Händen aufzureißen. Der Lange benutzte einen scharfen Stein, um den Boden aufzubrechen. Dann grub er mit den Fingern weiter. Er grunzte leise vor Anstrengung. Nach einer Minute zog er etwas triumphierend heraus.
Es war keine Kartoffel, keine Rübe, es war eine dünne, faserige, schmutzige Wurzel, nicht dicker als sein kleiner Finger. Er klopfte sie gegen seinen Stiefel, um den gröbsten Dreck abzuschlagen. Er blickte auf, seine Augen trafen Manfreds. Ohne ein Wort zu sagen, brach er lange die Wurzel in zwei Teile. Es machte ein trockenes knackendes Geräusch.
Er warf Manfred das kleinere Stück zu. Es landete im Schnee zu seinen Füßen. Das entscheidende Detail war die gefrorene Erde, die noch wie eine zweite Haut an der Wurzel klebte, als Manfred sie aufhob. Manfred zog sich hinter einen umgestürzten Baum zurück. Er hielt die Wurzel in seiner bloßen Hand, die sofort taub wurde vor Kälte. Er starrte sie an.
Sie sah nicht wie Essen aus, sie sah aus wie ein Stück Dreck. Aber der lange aß seinen Teil, kaute methodisch, sein Gesicht ausdruckslos, der Geruch von feuchter Erde stieg ihm in die Nase. Er steckte das Ende in seinen Mund. Der Geschmack explodierte auf seiner Zunge, überwältigend bitter, holzig und scharf.
Es war, als würde er auf einen nassen Stock beißen, gemischt mit dem körnigen und kalten der Erde. Ein Würgereflex stieg in ihm auf. Er wollte es ausspucken, aber sein Körper schrie ihn an. schlucken. Der Befehl war stärker als der Ekel. Es war keine Nahrung. Es war nur etwas, etwas, das den hohlen Schmerz füllen konnte. Er erinnerte sich an den süßen Geschmack von Marmelade, die seine Mutter gemacht hatte.
Diese Wurzel war das genaue Gegenteil von allem, was er als Essen kannte. Es war die erste und wichtigste Lektion des Waldes. Essen ist nicht Genuss. Essen ist Überleben. Alles, was man schlucken kann, ist Essen. Er biss ab. Seine Kiefer schmerzten von der Anstrengung, die zähen harten Fasern zu zermalen.
Es war wie das Kauen auf einem Stück Seil. Er kaute und kaute, sein Gesicht schmerzvoll verzogen, bis es ein Brei war, den er mühsam hinunterschlucken konnte. Es kratzte in seinem Hals. Der nagende Hunger in seinem Magen ließ nicht nach. Er war immer noch da, ein lauerndes Tier. Aber die Anstrengung des Kauens, die Konzentration auf diese bittere Faser, ersetzte den Schmerz für einen Moment. Ein kleiner Faden der Wurzel blieb zwischen seinen Zähnen stecken.
Eine rauhe Erinnerung an seine Mahlzeit. Es war vielleicht eine Woche später oder zwei. Die Zeit verschwamm zu einem einzigen grauen Zustand des Frierens und Hungerns. Der Wald gab nicht mehr genug her. Die wenigen Wurzeln, die sie fanden, waren zu dünn. Die Rinde, die sie von den Bäumen schälten, bot keine Nahrung. Der Schnee war nicht mehr weich, sondern eine harte, eisige Kruste. In der Stille des Waldes wurde ein Geräusch unüberhörbar.
Das laute hohle Knurren von Manfrids eigenem Magen, die Angst vor dem Wald, vor der Kälte, vor dem langsamen Verhungern begann eine andere Angst zu überwinden. Die Angst vor den Menschen. Sie wussten, dass da draußen Bauernhöfe waren. Sie hatten den Rauch gesehen.
Aber die Höfe bedeuteten Menschen und Menschen bedeuteten Soldaten, Fremde, Feinde. Manfred erinnerte sich an die klaren Warnungen seiner Mutter. sprich niemals mit Fremden. Er erinnerte sich an die Plakate, die den slawischen Untermenschen oder den bolschewistischen Mörder zeigten, aber die Bilder auf den Plakaten konnten den Schmerz in seinem Bauch nicht lindern.
Der Körper war im Krieg mit der Ideologie und der Körper war kurz davor zu gewinnen. Der Lange war der Erste, der es aussprach. Er war auf einen Baum geklettert und zeigte schweigend nach Osten. Am fernen Horizont, kaum sichtbar, stieg eine dünne Rauchsäule auf, ein Schornstein, ein Haus. Die Gruppe hielt inne. Eine stumme Debatte fand statt, nur mit Blicken.
Zu bleiben bedeutete den sicheren Tod. Zu gehen bedeutete eine Chance oder einen schnelleren Tod. Der Hunger traf die Entscheidung für sie. Sie konnten sich nicht ewig verstecken. Sie mußten das Risiko eingehen oder hier im Schnee sterben. Langsam wie ein echtes Wolfsrudel, das seine Beute beobachtet, begannen sie sich am Waldrand zu bewegen, von Baum zu Baum auf den fernen Rauch zu. Sie erreichten den Rand eines weiten gefrorenen Feldes.
Auf der anderen Seite lag er, ein kleiner ärmlich wirkender Bauernhof, eher eine Hütte, aus deren Schornstein grauer Rauch aufstieg. Die Luft war so still, dass man fast glauben konnte, den fernen Geruch von verbranntem Holz zu riechen. Und vielleicht, nur vielleicht, den Hauch von gekochtem Kohl. Dieser Gedanke ließ Manfred fast ohnmächtig werden. Extreme Angst lähmte ihn.
Dies war ein Verstoß gegen die einzige Regel, die sie hatten. Bleib unsichtbar. Sein Herz hämmerte so stark gegen seine Rippen, dass er fürchtete, man könnte es über das Feld hinweg hören. Was, wenn dort Russen waren? Was, wenn sie auf Kinder schossen? Der Lange legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ein harter, knochiger Griff. Du gehst, flüsterte er.
Manfred starrte ihn entsetzt an. Du bist der Jüngste. Sie sehen dich an und denken nicht an einen Soldaten. Sie werden dir nichts tun. Manfred verstand. Es war kein Befehl. Es war eine Strategie. Seine Kleinheit, seine Schwäche war seine einzige Waffe, seine einzige Währung. Er sollte nicht um Hilfe bitten, er sollte Mitleid erregen.
Der Lange gab ihm einen sanften Stoß. Manfred aus der Deckung der Bäume. Das offene Feld war eine weiße Todeszone. Jeder Schritt fühlte sich an, als ginge er auf Glas. Er zwangen Fuß vor den anderen. Sein Blick starr auf die Holztür gerichtet. Er fühlte die Augen der anderen Kinder in seinem Rücken.
Er war allein. Er erreichte die Tür. Sie war aus groben, wettergegärbten Brettern gezimmert. Er hob seine kleine, schmutzige, rissige Faust. Er zögerte. Dann klopfte er. Drei leise Schläge. Das Geräusch halte in der Stille unnatürlich laut wieder. Er stand da, zitternd vor Kälte und Angst, bereit beim ersten Anzeichen von Gefahr zurück in den Wald zu fliehen und starrte auf die gesplitterte Oberfläche des Holzes vor seinen Augen. Wochen waren vergangen, vielleicht einen Monat.
Die Zeit wurde nicht mehr in Tagen gemessen, sondern in Mahlzeiten, die sie nicht hatten. Der Hunger war ihr Kompass und er trieb Osten. Sie folgten Gerüchten, Flüstern anderer Flüchtlinge, die sie im Schutz der Dämmerung trafen. Sie sprachen von einem Land jenseits der Grenze, in dem die Bauern noch Brot hatten.
Eines späten Nachmittags endete der Wald abrupt. Sie traten aus der letzten Reihe verkrüppelter Kiefern und erstarrten. Vor ihnen lag keine Straße, kein Dorf. sondern eine riesige weiße Leere. Der Wind, der ihnen hier entgegenschlug, war anders. Er roch nicht mehr nach trockenem Schnee und Kiefernharz, sondern trug einen feuchten, tiefen Geruch von uraltem Eis.
Ein Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit senkte sich auf Manfred herab. Es war ein Hindernis, das kein Kind überwinden konnte. Es war das Ende der Welt. Sie waren so weit gekommen, hatten im Dreck gegraben und gefroren, nur um von dieser unbeweglichen weißen Wand aufgehalten zu werden.
Die Erschöpfung war so tief, dass er das Verlangen spürte, sich einfach in den Schnee zu setzen und nicht mehr aufzustehen. Der lange, der neben ihm stand, atmete zischend aus. “Die Memel”, sagte er leise. “Es war kein Fluss mehr, es war ein arktisches Feld. Der Name halte in Manfreds Kopf wieder die Memel, die Grenze. Das war es, wovon die Erwachsenen gesprochen hatten, bevor der Zug kam. Ostpreußen war hinter ihnen.
Dort drüben, auf der anderen, unerreichbar scheinenden Seite war Litauen. Die Gruppe zog sich instinktiv in den Schutz der letzten Büsche zurück. Niemand sprach. Die Stille war schwer, nur vom Heulen des Windes durchbrochen. Sie waren winzige Gestalten am Rande einer riesigen feindseligen Ebene, die keinerlei Deckung bot.
Von hier aus waren sie für jeden sichtbar. Der lange kniff die Augen zusammen und spähte über die blendende Oberfläche. Er suchte nach Bewegung, nach Patrouillen, nach Rauch, aber da war nichts, nur das Eis. Der Fluss war kein Fluss mehr, er war eine Mondlandschaft, verlassen und tot. Der Wind legte sich für einen Moment und in der plötzlichen ohrenbetäubenden Stille hörten sie es.
Es war kein lautes Geräusch, aber es drang durch Mag und Bein. Ein tiefes, stöhnendes Geräusch, als würde ein Riese im Schlaf ächtzen. Unmittelbar darauf folgte ein scharfes, splitterndes Knacken, das von irgendwo aus der Mitte des Flusses kam. Es war das Geräusch von lebendigem Eis, das Geräusch von tausenden von Tonnen gefrorenem Wasser, das sich unter seinem eigenen Gewicht bewegte, brach und wieder gefror. Manfred spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog.
Dies war eine andere Art von Angst als die vor den Soldaten. Jene Angst war heiß und schnell gewesen. Diese Angst war kalt, langsam und urzeitlich. Es war die Angst, verschluckt zu werden, in die unsichtbare, schwarze eisige Tiefe, unter der trügerischen Oberfläche zu fallen und spurlos zu verschwinden. Er begriff, dass dies kein fester Boden war. Es war kein gefrorener See.
Es war ein gewaltiger, beweglicher Fluss, der nur an der Oberfläche zu Eis erstarrt war. Er erinnerte sich an die Warnungen seines Vaters vor dem Eis auf dem Dorfteich, betritt es nie, wenn es Geräusche macht. Dieses Eis hier schrie. Eines der kleineren Mädchen begann leise zu wimmern. Ihre Zähne klapperten vor Angst, nicht nur vor Kälte.
“Ich will nicht”, flüsterte sie. “Es bricht.” Der Lange zischte ihr zu, sie solle still sein, aber seine eigenen Augen waren starr auf die Oberfläche gerichtet. Er versuchte das Muster der Risse zu lesen, die Gefahr abzuschätzen. Das Geräusch kam wieder, diesmal näher, ein langes knirschendes Geräusch.
Manfred sah, wie sich eine Linie im Schnee, etwa 50 m entfernt, wie von Geisterhand öffnete und wieder schloss. Und er bemerkte etwas anderes. Dunkle Flecken, Stellen, an denen das Eis nass aussah, fast schwarz. Das waren die Wunden des Flusses, die Stellen, an denen die Strömung zu stark war, als das sie zufrieren konnte.
Sie kauerten sich hinter einen Schneehügel, der mit hohem gefrorenem Schilf bewachsen war. Der Geruch von feuchtem Eis mischte sich mit dem säuerlichen Geruch ihrer eigenen ungewaschenen Körper. Der Hunger, der für einen Moment von der Angst verdrängt worden war, kehrte mit aller Macht zurück.
Er war eine physische Präsenz in der Gruppe, ein weiteres unsichtbares Kind, das bei ihnen kauerte und sie antrieb. Manfreds Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Es war ein tiefer, hohler Schmerz, der jede Vernunft ausschaltete. In diesem Moment wurde ihm klar, dass die Angst vor dem Verhungern größer war als die Angst vor dem Eis.
Die Vorstellung umzukehren, zurück in den ausgeplünderten toten Wald zu gehen, war nun gleichbedeutend mit dem sicheren Tod. Das Eis war nur ein möglicher Tod. Der Lange sprach den Gedanken aus, der in ihnen allen gärte. In Litawn gibt es Essen. Es war mehr als ein Gerücht. Es war zu einem Glaubensartikel geworden. Eine verzweifelte Hoffnung, die sie von Bauernhof zu Bauernhof getrieben hatte.
Sie sagten, die Bauern dort würden die Kinder nicht verjagen. Sie sagten, sie würden ihnen Arbeit geben. Sie sagten es gäbe Kartoffeln. “Wir gehen”, sagte der lange. Es war keine Frage, die zur Debatte stand. Es war eine Feststellung. Er blickte in die Runde, seine Augen hart. Einer nach dem anderen. Halte 20 Schritte Abstand.
Wenn einer fällt, lauft weiter. Dreht euch nicht um. Die Brutalität dieser Anweisung hing schwer in der Luft. Niemand widersprach. Eines der Kinder, ein Junge von vielleicht 9 Jahren, zog ein Stück getrocknete Rinde hervor, das er in seiner Tasche aufbewahrt hatte. Er steckte es in den Mund, kaute darauf herum und spuckte es angewiedt aus.
Es war kein Essen mehr, es war nur noch bitteres Holz. Die Entscheidung war gefallen. Der Lange ging als erster. Er trat aus dem Schilf und ließ sich auf alle Viere fallen. Nicht auf dem Bauch kriechend, sondern auf Händen und Knien, wie ein Tier, um sein Gewicht auf vier Punkte zu verteilen. Er bewegte sich langsam, methodisch, auf die weiße Fläche hinaus.
20 Schritte. Dann hielt er an und winkte dem Nächsten zu. Es war ein Mädchen. Sie folgte ihm. Dann der nächste. Dann war Manfred an der Reihe. Er trat auf das Eis. Es fühlte sich unter seinen Händen seltsam an, nicht fest wie Stein, sondern körnig und fast weich an der Oberfläche. Der Wind pfiff ihm ins Gesicht und trieb ihm Eiskristalle in die Augen.
Er ließ sich auf die Knie fallen. Der Schmerz der Kälte war sofort da, drang durch den dünnen Stoff seiner Hose, aber er ignorierte ihn. Er sah nur den Rücken des Mädchens vor sich. Wie eine Spinne, hatte der Lange gesagt. Manfred begann sich zu bewegen. Rechte Hand vor, linkes Knie nachziehen, linke Hand vor. rechtes Knie nachziehen.
Es war ein langsamer hypnotischer Rhythmus. Die Welt schrumpfte auf den kleinen Kreis aus Eis direkt vor ihm. Er wagte nicht, nach links oder rechts zu blicken. Der einzige laut war das leise, rhythmische Knirschen seiner eigenen Hände und Knie auf der Schneekruste des Eises und der hohle Gesang des Windes.
Er konzentrierte sich auf seine Atmung, kleine flache Züge, als ob ein tiefer Atemzug das Eis unter ihm zum Brechen bringen könnte. Und dann spürte er es. Es war kein Geräusch, es war eine Vibration direkt unter seiner Handfläche, ein tiefes, resonantes Stöhnen, das durch seine Knochen bis in seinen Schädel wanderte. Es war das Eis. Es war der Fluss, der direkt unter ihm lebte und atmete und sich gegen sein Gewicht stemmte.
“Nicht hier”, betete er lautlos. “Babitte nicht hier.” Sie waren in der Mitte. Der Punkt, an dem beide Ufer gleich weit entfernt schienen, eine endlose, blendend weiße Wüste, die keinen Schutz bot. Die Luft war hier noch kälter. Der Geruch von offenem schwarzem Wasser war unverkennbar. Das andere Ufer, Litau schien sich mit jedem Meter, den er kroch, weiter zu entfernen.
Plötzlich zerriss ein Geräusch die Luft, das lauter war als alles, was er je gehört hatte. Es war kein Stöhnen, es war ein explosives Krach, wie ein Kanonenschuss oder ein Blitz, der direkt neben ihm einschlug. Es kam von rechts, vielleicht 30 m entfernt. Es war der Klang der Welt, die zerbrach. Absoluter reiner Terror flutete seinen Körper und löschte jeden Gedanken aus. Die Anweisungen des Langen waren vergessen.
Das methodische Kriechen war vergessen. Er hörte einen Schrei. Ein kurzer gellender Schrei, der sofort von einem lauten, platschenden Geräusch verschluckt wurde. Manfred drehte sich nicht um. Er wusste, wenn er hinsah, würde er erstarren. Wenn er zögerte, würde er ebenfalls versinken. Der Instinkt übernahm die Kontrolle.
Er sprang auf seine Füße. Die Regel, das Gewicht zu verteilen, war egal. Nur Flucht zählte. Seine Stiefel fanden keinen Halt auf dem glatten Eis. Er rutschte, fiel fast hin, seine Arme ruderten wild. Er rannte, er rannte um sein Leben. Seine Lungen brannten. Tränen der Panik gefror ihm auf den Wangen.
Er hörte nichts mehr außer dem Hämmern seines eigenen Herzens und dem verzweifelten Geräusch seiner Stiefel, die über das Eis scharten. Das Ufer kam näher. Er fiel die letzten Meter, stolperte über den gefrorenen Uferdamm und stürzte kopfüber in eine Schneewehe, die mit Schilf durchsetzt war. Er lag da, keuchend, unfähig, sich zu bewegen und starrte in den grauen Himmel.
Er hatte es geschafft. Er lag im Schnee und zitterte. Es war kein Zittern mehr von der Kälte. Es war der Nachbeben des Terrors, ein unkontrollierbares Zucken seiner Muskeln. Er hatte litauischen Boden erreicht. Das Schilf am Ufer war dicht und bot einen minimalen Windschutz. Der Geruch hier war anders als auf der anderen Seite.
Es roch nach stehendem Wasser und faulenden Blättern, die unter dem Eis gefangen waren. Die Stille nach dem Schrei war absolut. Das Heulen des Windes war das einzige Geräusch, das der Fluss machte, als wäre nichts geschehen. Erleichterung war nicht das, was er fühlte. Es war eine tiefe, hohle Lehrere.
Die Taubheit, die ihn am Zug ergriffen hatte, kehrte zurück, aber diesmal war sie vermischt mit dem Geschmack von Adrenalin auf seiner Zunge. Er war ein Tier, das einer Falle entkommen war, nur um festzustellen, dass es sich in einem größeren Käfig befand. Ein Gedanke, kalt und klar wie das Eis selbst, formte sich in seinem Kopf. Einer ist weg.
Er wusste nicht, wer es gewesen war. Er hatte sich nicht umgedreht. Er fühlte keine Trauer, nur eine nüchterne Feststellung. Eine weitere Kerbe in der wachsenden Liste der Verluste. Die Gruppe war auch verschwunden. Der lange, das Mädchen, die anderen. Sie waren im Wald vor ihm verschwunden. Er stemmte sich auf einen Ellbogen. Die Bewegung war schmerzhaft.
Er blickte zurück. Die riesige weiße Fläche des Flusses starrte ihn an, unbewegt und gleichgültig. Es gab keine Spur von dem Kind, das gefallen war. Kein Loch im Eis, keine Bewegung, nur der Wind, der Schnee über die Kruste fegte. Er war allein. Dies war keine Vermutung mehr. Keine Angst. Es war eine Tatsache. Auf dem Zug hatte er seine Schwester verloren. Im Wald hatte er sich einer Gruppe angeschlossen.
Auf dem Eis hatte er die Gruppe verloren. Er war jetzt wirklich endgültig allein. Einzelner achtjähriger Punkt in einem fremden feindlichen Land. Der Wind heolte auf. Eine Erinnerung daran, dass das Ufer keinen Schutz bot. Und mit dem Wind kam ein anderes Geräusch. Oder vielleicht war es nur die Einbildung seiner panischen Fantasie.
Ein fernes tiefes Bällen, Hunde, Patrouillen. Das Wort explodierte in seinem Kopf. Er war auf offenem Feld. Eine Zielscheibe. Der Waldrand, vielleicht 200 m entfernt, war die einzige Rettung. Ein neuer Anflug von Panik, anders als die auf dem Eis, ergriff ihn. Dies war die alte Angst vor dem Menschen, vor dem Soldaten, vor dem Gefangen genommen werden.
Er war zu schwach zum Laufen, aber die Angst gab ihm eine letzte fieberhafte Kraft. Gesehen werden, gefangen werden. Er wusste nicht, was schlimmer war. Die Propagandaplakate kamen ihm wieder in den Sinn. Bilder von grinsenden Soldaten mit großen Hunden, die Flüchtlinge durch den Schnee jagten. Er dachte, er würde lieber im Eis versinken, als von ihnen erwischt zu werden.
Der Fluss war die Grenze gewesen, aber die Gefahr war nicht vorbei. Sie war nur anders. Er stand wankend auf. Seine Beine fühlten sich nicht wie seine eigenen an. Sie waren zwei nasse schwere Holzklötze, die sich weigerten, seinem Willen zu gehorchen. Er machte einen Schritt, fiel auf die Knie. Er begann zu kriechen.
Er schleppte sich durch den Schnee, der hier tiefer war am Ufer. Jeder Meter war eine Qual. Er erreichte die ersten Bäume und zerrte sich mit letzter Kraft hinter eine dichte gefrorene Tanne, deren unterste Äste den Boden berührten. Er war verborgen. Der Ansturm des Adrenalins ließ nach und hinterließ eine alles verzehrende Erschöpfung.
Er legte den Kopf auf den Schnee. Die Schneeflocken, die auf sein Gesicht fielen, schmolzen nicht mehr. Er schloss die Augen und sank in eine Dunkelheit. die kälter war als die Nacht. Er wachte auf durch ein Geräusch. Es war nicht das Bällen von Hunden, nicht das Schreien von Soldaten. Es war ein leises rhythmisches Knacken.
Das Geräusch von jemandem, der trockene Äste zerbricht. Es war nah. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er riss die Augen auf. Die Welt war für einen Moment verschwommen, grau und weiß. Der Geruch von feuchter Wolle und dem schwachen, sauberen Geruch von Holzrauch lag in der Luft.
Schreck! Ein reiner kindlicher Schreck ließ ihn erstarren. Er war gefunden worden. Er versuchte sich kleiner zu machen, sich in den Schnee zu drücken, unsichtbar zu werden. Er hielt den Atem an, betete, dass das Geräusch weiterziehen würde, dass es nur ein Tier war. Aber es war kein Tier gefunden. Das war es das Ende. Er war zu schwach, um zu fliehen.
Er war zu erfroren, um zu kämpfen. Er schloss die Augen und wartete auf den Schlag, den Schuss, den rauen Griff, der ihn packen würde. Er dachte an nichts. Er war nur noch ein Bündelangst, das auf den Tod wartete. Dann öffnete er die Augen wieder. Eine Gestalt stand über ihm. Es war kein Soldat in Uniform.
Es war eine Frau. Sie war groß, trug ein dickes graues Kopftuch, das tief ins Gesicht gezogen war und einen schweren Wollrock über Filzstiefeln. In ihren Armen hielt sie ein Bündel reisig. Sie hatte ihn gesehen. Ihr Gesicht. Es war das Gesicht des Landes, in das er gekommen war.
Es war nicht mitleidig, es war nicht freundlich, es war hart wetter gegärbt, von tiefen Furchen durchzogen. Es war das Gesicht einer Frau, die keine Zeit für Sentimentalitäten hatte. Sie betrachtete ihn nicht wie ein verlorenes Kind. Sie betrachtete ihn wie ein Bauer. Ein verletztes oder streunendes Tier betrachtet mit Misstrauen, mit einer kalkulierenden Distanz. Das war ona.
Die Stille zwischen ihnen war absolut. Sie stand da, unbeweglich, das reiß ich in den Arm. Er lag am Boden, zu schwach, um sich aufzusetzen. Er konnte nur starren. Sein Atem bildete kleine zitternde Wolken in der kalten Luft. Er konnte ihren Atem nicht sehen. Sie war so still wie der Wald um sie herum.
Und dann durch die kalte Luft nahm er einen anderen Geruch wahr, der nicht vom Wald kam. Er kam von ihr. Ein schwerer, saurer, unendlich verlockender Geruch. Roggen. Sein ganzer Körper spannte sich bei diesem Geräusch an. Der Hunger, der in der Bewusstlosigkeit geschlummert hatte, erwachte mit einer alles verzehrenden Gewalt. Er vergaß die Angst vor der Frau. Er vergaß die Soldaten.
Er wurde von diesem einen primitiven Bedürfnis beherrscht. Er verstand ihre Sprache nicht. Sie sprach nicht. Sie sah ihn nur an. Er dachte, sie würde ihn wegschicken, ihn anschreien oder sich umdrehen und gehen, ihn hier sterben lassen. Er war Deutscher. Er war der Feind. Das hatten sie ihm immer gesagt. Er versuchte etwas zu sagen. Hunger. Das Wort kam als heiseres Krächzen heraus.
Kaum ein Laut. Er hob eine Hand, eine zitternde nutzlose Geste des Betteln, aber er hatte nicht die Kraft, sie oben zu halten, und ließ sie wieder in den Schnee fallen. Er starrte sie nur an, seine Augen riesig in seinem eingefallenen, schmutzigen Gesicht. Sie starrte eine lange, unleserliche Sekunde zurück. Ihr Blick war unergründlich.
Dann langsam, als hätte sie eine Entscheidung getroffen, ließ sie das Bündel reisig mit einem dumpfen Geräusch in den Schnee fallen. Ihre Hand eingehüllt in einen groben, löchrigen Handschuh bewegte sich langsam zur Tasche ihrer dicken Schürze. Sie griff tief hinein und zog ein dunkles Bündel heraus. Es war in ein Tuch gewickelt. Es war ein Stück Brot. Ihre Hand.
Sie zog den Handschuh aus, um das Brot besser greifen zu können. Und Manfred sah ihre Hand. Sie war groß, schwielig, die Haut war rot und rissig von Kälte und Arbeit, die Knöchel waren geschwollen. Es war nicht die weiche Hand seiner Mutter, es war die Hand einer Bäuerin, eine Hand, die Erde umgegraben, Vieh versorgt und Holz gehackt hatte. Es war eine Hand, die wusste, was Überleben bedeutete. Und diese Hand hielt das Brot.
Es war keine Reaktion, es war ein Instinkt. Sein Verstand hatte keine Zeit, Dankbarkeit oder Vorsicht zu formulieren. Sein Körper übernahm die Kontrolle. Der Anblick des Brotes löschte jeden anderen Gedanken aus. Brot, das Wort war kein Wort mehr. Es war Rettung. Es war Wärme, es war Leben. Sie bewegte sich nicht, sie hockte sich nicht zu ihm hinunter.
Sie stand einfach da und hielt es ihm hin. Die Geste war weder freundlich noch grausam. Sie war neutral. Eine bloße Transaktion. Manfred stieß sich mit einer Kraft vom Boden ab, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie noch besaß. Er schnellte vorwärts, mehr kriechend als sitzend, und riss ihr das Brot fast aus der Hand. Seine Zähne trafen es, bevor es seine Finger vollständig umschlossen.
Er biss hinein, riss ein Stück ab und begann zu schlucken, bevor er überhaupt gekaut hatte. Er verschlang es wie ein Tier. Das Brot war dunkel, schwer und feucht, fast bitter, aber es war das köstlichste, was er je geschmeckt hatte. Er wirkte fast daran, hustete, aber er hörte nicht auf zu essen, stopfte das nächste Stück hinein und sie sah zu. Ihr Gesicht war immer noch hart, keine Spur von einem Lächeln, keine Emotion. Aber sie wandte sich nicht ab.
Sie beobachtete diesen verzweifelten, unmenschlichen Hunger. Dann nickte sie langsam. Einmal. Sie hatte es gesehen. Sie hatte verstanden. Ona wandte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sie nahm ihr Rei Bündel auf und stapfte durch den Schnee auf den Hof zu. Für einen Moment erstarrte Manfred das letzte Stück Brot in seiner Hand.
Sollte er ihr folgen? War das eine Einladung? Oder würde sie ihn jetzt verjagen, da er gegessen hatte? Er sah sie zögern, dann blickte sie über die Schulter zurück. Ihr Gesicht war ungeduldig. Ein Ruck ihres Kopfes. Das war der Befehl. Er stand wackelig auf und folgte ihr. Ein kleiner Schatten, der im Abstand von zehn Schritten hinter ihr her stolperte.
Der Hof war klein, zwei niedrige Holzgebäude und eine Scheune, die aussahen, als wären sie aus der Erde selbst gewachsen. Sein Herz hämmerte vor einer neuen Art von Angst. Es war nicht mehr die Angst vor dem Tod im Schnee, sondern die Angst vor dem Unbekannten in diesem neuen geschlossenen Raum.
Würden sie ihn schlagen, ihn einsperren? Er folgte ihr über den zertrampelten, schmutzigen Hofschnee. Sie öffnete nicht die Tür zum Haus, aus dessen Schornstein der Rauch kam. Sie ging direkt zur Scheune. Sie schob die schwere Holztür zur Seite und eine Welle warmer feuchter Luft schlug ihm entgegen. Es war dunkel darin, aber es war eine lebendige Dunkelheit, erfüllt von Geräuschen.
Ona stieß ihn hinein. Er stolperte über die hohe Schwelle und landete fast im Stroh. Bevor seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erfassten ihn die Gerüche. Es war überwältigend. Nicht der saure Gestank von Angst und Tod aus dem Güterwaggon. Dies war der Geruch von Leben, so rau er auch sein mochte.
Ein scharfer, erdiger, stechender Geruch von Schweinen, gemischt mit dem süßlichen, staubigen Duft von feuchtem Heu. Es roch nach Mist, aber auch nach Wärme und Tieren. Sie deutete mit dem Kinn auf eine leere Pferdebox, die bis zur Hälfte mit frischem Heu gefüllt war. Sie sagte etwas in ihrer Sprache, dass er nicht verstand.
Dann zog sie die Tür von außen zu und erhörte das schwere Geräusch eines Holzriegels, der vorgeschoben wurde. Er war allein, aber er war nicht im Schnee. Er war eingesperrt, aber er war in der Wärme. Stunden vergingen. Die Dunkelheit in der Scheune war nicht vollkommen. Licht drang durch die breiten Ritzen zwischen den Planken, zeichnete gelbe Streifen auf das Heu. Er konnte die Geräusche des Hofes hören.
Ein fernes Moon, das Hacken von Holz, die Stimme von, die kurz und befehlend rief. Er grub sich tief in das Heu. Es war rau und kratzig, viel kratziger als das Sacklein, das er im Wald gefunden hatte. Aber es war warm. Das Heu hatte einen trockenen, fast süßen Geruch, der ihn an den Sommer erinnerte, an eine Zeit vor dem Krieg. Sein Körper endlich in relativer Wärme begann zu schmerzen.
Die Erfrierungen an seinen Fingern und Zehen pochten. Der Hunger, der durch das Brot nur gereizt worden war, kehrte als tiefer, krampfartiger Schmerz zurück. Er war so müde, müder, als er es je in seinem Leben gewesen war. Er schlief ein, einen unruhigen, fiebrigen Schlaf, erfüllt von fallendem Eis und dem Geräusch von schreienden Rädern. Er wachte abrupt auf.
Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war der Riegel. Die Tür quietschte. Manfred schnellte hoch, sein Herz raste und er kroch instinktiv tiefer in die dunkelste Ecke der Box. Seine Augen waren jetzt an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah die Silhouette eines Mannes, der sich bückte, um in die Scheune zu treten. Es war nicht Ona. Der Mann war alt, gebeugt und er bewegte sich langsam.
Er trug eine Mistgabel. Er schien Manfred nicht zu bemerken, sondern ging zu der Box, in der die Schweine leise grunzten. Er begann den Mist methodisch herauszuschaufeln. Manfred wagte nicht zu atmen. Er war eine Maus, die sich im Stroh versteckte. Der Mann stürtzte sich auf die Gabel und hustete, ein tiefer, rasselnder Husten.
Dann drehte er sich langsam um. Sein Blick wanderte durch die Dunkelheit und blieb an der Pferdebox hängen. Er sah Manfred. Sein Blick war nicht hart wie der von Ona. Er war anders. Es war eine tiefe, unmittelbare, unverhoene Angst. Der alte Knecht ließ die Mistgabel fallen. Sie fiel mit einem leisen Klirren auf den Steinboden.
Er hob eine Hand, nicht als Drohung, sondern als Zeichen, still zu sein. Er blickte sich nervös um, zur geschlossenen Scheunentür, als ob er befürchtete, jemand könnte ihm gefolgt sein. Er trat näher an Manfreds Box. Er sprach und Manfred erstarrte. Er sprach Deutsch. Es war gebrochen mit einem schweren Akzent, aber es war deutsch. Still, flüsterte er, ganz still.
Manfri Herz pochte so laut, dass er sicher war, der Mann konnte es hören. Endlich jemand, der seine Sprache sprach. Eine Welle der Erleichterung, eine absurde Hoffnung, stieg in ihm auf. Vielleicht würde dieser Mann ihm helfen, ihn verstecken, ihn nach Hause bringen. Der Mann sah ihn nicht mitleidig an.
Er sah ihn an wie ein Problem, wie ein Stück glühende Kohle, das ihm in die Hand gefallen war. Die Angst in den Augen des Mannes war nicht auf Manfred gerichtet, sie war auf etwas Größeres gerichtet, etwas draußen. Russen! Flüsterte der Mann und machte eine Geste in Richtung der Straße, die Manfred nicht sehen konnte. Immer hier, Patrouille.
Er kam noch näher, bis sein Gesicht direkt über dem Rand der Box war. Sein Atem roch nach Zwiebeln und billigem Tabak. Wenn die Russen dich hier finden”, sagte er, und seine Stimme war so leise und dringlich, dass Manfred sich vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen, sind wir alle verloren. “Vstehst du?” “Ale.
” Er machte eine Geste, die den Hof, die Scheune, sich selbst und Ona umfasste. Sie nehmen Ona, mich, sie verbrennen den Hof. Die unmittelbare tödliche Gefahr hing schwer in der stinkenden Luft. Es war nicht nur sein eigenes Leben, das auf dem Spiel stand. Seine bloße Anwesenheit, seine deutsche Identität war eine Bombe, die diesen ganzen Ort auslöschen konnte.
Der Knecht starrte ihn an, seine Augen prüfend, kalkulierend. Er schätzte ihn ab. Manfred spürte, wie er innerlich schrumpfte. Er war kein Junge mehr. Er war eine Gefahr. Er war eine ansteckende Krankheit. Die Propaganda hatte ihm gesagt, er gehöre einer überlegenen Rasse an. Dieser Mann sagte ihm, er sei der Tod. Die zentrale Überzeugung, die er im Zug gehabt hatte, solange ich weiß, wer ich bin und zu wem ich gehöre, bin ich nicht wirklich verloren, fühlte sich jetzt wie eine kindische Fantasie an. Zu wissen, wer er war, war genau das Problem. Zu sein, wer er war, würde
diese Menschen töten. Der Knecht stellte die Frage, die Manfreds Schicksal besiegeln würde. Er beugte sich so nah vor, dass Manfred die weißen Stoppeln auf seinem Kinn sehen konnte. Du bist Deutscher”, flüsterte er. Es war keine Frage, es war eine Anklage. Manfred öffnete den Mund. Das Wort ja formte sich auf seinen Lippen. Es war das einzige, was er noch hatte. Seine Sprache, sein Name, Manfred.
Er war Deutscher. Aber bevor er den Laut von sich geben konnte, bevor er sich selbst verraten konnte, hielt der Knecht ihm eine Hand vor den Mund. Die Hand war rau und roch nach Mist. “Nein”, zischte der Mann. Jetzt nicht mehr. Er nahm die Hand weg und blickte Manfred direkt in die Augen.
Der Geruch des Heus, der scharfe Geruch der Schweine. All das wurde zur Kulisse für diesen einen Moment des Tausches. Dein Name, sagte der Knecht langsam, als würde er einem Tier einen Befehl beibringen. Ist Jonas. Jonas? Er wiederholte es, schlug das Wort in die Luft. Du verstehst, Jonas. Manfred starrte ihn an. Sein Gehirn fühlte sich langsam an, taub Kälte und Hunger.
Jonas, das Wort war fremd, es schmeckte falsch auf seiner Zunge. Es war ein Verrat, ein Verrat an seiner Mutter, seinem Vater, an Anna. Wenn er nicht Manfred war, wer war er dann? Er war niemand. Er war nur ein leeres Gefäß. Der Knecht sah die Weigerung, die Verwirrung in seinen Augen. Er wurde ungeduldig. “Jonas”, wiederholte er schärfer. Litauischer Junge, du verstehst nichts Deutsch, nichts.
Er schüttelte Manfred leicht an der Schulter. Willst du essen? Willst du hier bleiben? Oder willst du zurück ins Eis? Zurück zu den Russen. Das war der Tausch. Es war so einfach und so brutal wie das Stück Brot, das Ona ihm gegeben hatte. Sein Name für sein Leben, seine Identität für einen Platz im Heu.
In diesem Moment drang ein Geruch aus dem Haupthaus herüber, als jemand die Tür öffnete. Der Geruch von kochenden Kartoffeln. Dieser Geruch, er war eine physische Kraft. Er zog an Manfreds eingeweiden, stärker als jede Erinnerung, stärker als jeder Stolz. Der Geruch von warmem Essen, der Gedanke an das Eis, der Gedanke an die Soldaten. Der Konflikt dauerte nur eine Sekunde. Manfred sah den alten Knecht an. Er sah die Angst in seinen Augen, die Ungeduld. Er sah die Mistgabel auf dem Boden.
Er roch das Heu und die Schweine. Das war die neue Realität. Der Junge namens Manfred war ein Luxus, den er sich nicht mehr leisten konnte. Langsam, ganz langsam, nickte er. Einmal: “Ich bin Jonas.” Der Winter war gewichen, einer kurzen, feuchten Kälteperiode gefolgt, die sie Frühling nannten. Und nun lag die schwere, feuchte Hitze des Sommers über dem Land.
Die Zeit hatte ihre Form verändert. Sie wurde nicht mehr in Tagen der Flucht gemessen, sondern in den endlosen, sich wiederholenden Zyklen der Hofarbeit. Der Geruch von Schweinefutter und feuchtem Heu war nicht länger fremd. Er war die Luft, die er atmete, der Geruch, der sich in seine Haut gefressen hatte.
Mit dieser Veränderung der Zeit hatte sich auch der Junge verändert. Der Hunger war verschwunden, nicht ersetzt durch Fülle, sondern durch die stumpfe Sättigung einfacher Nahrung. Kartoffeln, dunkles Brot, manchmal ein Stück Speck. Er war nicht mehr der verhungerte Geist aus dem Wald.
Seine Glieder waren här geworden, senig von der Arbeit, schwere Eimer zu schleppen und Holz zu hacken. Die Kälte in seinem Inneren war geblieben. Es war nicht mehr die Panik der Flucht, sondern eine wachsame, stumpfe Resignation. Er war nicht sicher, er war nur verborgen. Er war ein Tier, das gelernt hatte, in der Scheune zu schlafen und das wusste, dass der Bauer es jederzeit vertreiben konnte.
Er dachte selten an den Namen Manfred. Dieser Name gehörte zu einem Jungen in einem Zug, zu einer Hand, die er gehalten hatte, zu einer Welt, die zu Asche zerfallen war. Jonas war der Name für den Jungen, der Wasser holte. Jonas war der Name, der ihn vor dem Verhungern bewahrt hatte.
Seine Gedanken kreisten nicht mehr um die Vergangenheit, sondern um die unmittelbare Gegenwart, die Schweine füttern, den Stall ausmisten, das Feuerholz holen, bevor Ona schimpfte. Er wachte auf, bevor die Sonne aufging. Nicht durch einen Wecker, sondern durch das erste Krähen des Hahns.
Er stand von seinem Holbett auf und zog das Hemd an, das Ona ihm gegeben hatte. Es war nicht sein Hemd, es war aus grobem, unnachgiebigem Sackleinen Jute, die ständig an seinem Hals und seinen Handgelenken scheuerte. Diese rauhe Textur war das erste, was er jeden Morgen spürte, eine ständige kratzige Erinnerung daran, dass er nicht hierher gehörte.
Er blickte auf seine Hände im grauen Zwielicht der Scheune. Es waren nicht mehr die Hände eines Kindes. Die Haut war aufgesprungen, schmutzig, die Handflächen bedeckt von einer dicken gelblichen Schwele vom Griff der Axt und dem Henkel des Eimers. Seine alte deutsche Jacke, die Verbindung zu seinem früheren Leben war längst verschwunden, von Ona verbrannt oder an die Schweine verfüttert. Er war nun vollständig in die grobe Tracht des Hofes gekleidet. Die Scheune war sein Klassenzimmer.
Es gab keine Bücher, keine Lehrer, nur Befehle. Die Sprache war seine zweite Lektion im Überleben gewesen, gleich nach dem Essen der Wurzeln. Er lernte nicht durch Verstehen, er lernte durch Assoziation und Angst. Die Geräuschkulisse seines Lebens war nicht mehr das sanfte Deutsch seiner Mutter, sondern die harten, abgehackten Laute des Litauischen. Es war eine Sprache, die ihm wie Stein und Eisen vorkam.
Eine Sprache, die keine Zärtlichkeit kannte, nur Notwendigkeit. Seine erste Reaktion auf die Flut dieser fremden Geräusche war Verwirrung und eine tiefe, isolierende Furcht gewesen. Er war taub und stumm, aber der Hunger und die Kälte waren effektive Lehrer. Wenn Ona auf den leeren Wassereimer zeigte und Wanduo rief, lernte er, das Wanduo laufen bedeutete.
Wenn der alte Knecht ihm einen Sack hinelt und Bulfs knurrte, lernte er Kartoffeln zu holen. Er dachte nicht mehr darüber nach. Er übersetzte nicht im Kopf von Litauisch nach Deutsch. Er reagierte ein scharfes Wort von Ona. Graciao. Schneller ließ ihn zusammenzucken und seine Beine schneller bewegen.
Die Sprache war untrennbar mit der Handlung verbunden und die Handlung war untrennbar mit der Vermeidung von Konsequenzen verbunden, einem Schimpfwort, einem Klaps auf den Hinterkopf oder schlimmer noch dem Entzug des Abendessens. Ona stand am Schweinestall und blickte auf den leeren Trog. Sie drehte sich nicht einmal zu ihm um. “Jonas, Scherti füttern! Es war kein Ruf, es war ein bellen. Er hielt nicht inne, um zu nicken.
Er ließ das Holzstück fallen, das er getragen hatte, rannte zum Schuppen, griff den schweren Metalleimer mit dem Futter und schleppte ihn zum Trog. Seine Antwort war physisch, automatisch. Er konnte jetzt die einfachen Worte sprechen, die er zum Überleben brauchte. Durner, Brot, Ash einu, ich gehe. Schalter kalt. Das Entscheidende war, daß er begann, in diesen abgehackten, einfachen Fetzen zu denken.
Die deutschen Worte, die Worte für Trost und Familie zogen sich zurück. Sie wurden blass und fremd, wie Erinnerungen an ein Buch, das er vor langer Zeit gelesen hatte. Es war ein klarer kalter Nachmittag im Spätherbst. Der Geruch von feuchtem Laub lag in der Luft. Jonas war in der Nähe der Straße, die am Hof vorbeiführte und hackte Holz.
Die Axt war schwer für ihn, aber er hatte gelernt, sein ganzes Gewicht einzusetzen, um die Scheite zu spalten. Die Luft war still, und in diese Stille hinein drang ein Geräusch. Es war kein Geräusch, das zum Hof gehörte. Es war nicht das Knirschen des Karrenrades oder das Moon der Kuh.
Es war ein tiefes mechanisches Rumpeln, das anschwoll, ein Motoreng, eine Welle reinen kalten Adrenalins durchfuhr ihn. Es war kein Gedanke. Es war ein elektrischer Schlag, der direkt vom Ohr in die Beine fuhr. Sein Magen zog sich zusammen. Sein Atem stockte. Gefahr, das war das einzige Wort, das sein Gehirn formte. Er fragte sich nicht, wer es sein könnte. Er wusste es. Russen.
Die Warnung des alten Knechts, die er vor Monaten erhalten hatte, war nicht verblasst. Sie war in jede Phaser seines Wesens eingebrannt. Wenn die Russen dich hier finden. Er war nicht nur in Gefahr, er war die Gefahr. Er war der Funke, der den Hof niederbrennen konnte. Bevor der Lastwagen überhaupt um die Biegung der Straße sichtbar wurde, ließ er die Axt fallen.
Das Geräusch, als das Metall dumpf auf dem Holzhaufen aufschlug, war der Startschuss. Er blickte nicht zurück zum Haus. Er sah nicht nach Ona. Er drehte sich um und rannte. Ein stiller, verzweifelter Sprint barfuß über den kalten feuchten Boden. Er rannte nicht in Panik, sondern mit einem Ziel.
Es war keine Flucht mehr, es war eine einstudierte Übung. In dem Moment, als der dunkelgrüne sowjetische Militärlastwagen um die Kurve bog und vor dem Hoftor langsamer wurde, war der Junge bereits verschwunden. Er rannte hinter den Schweinestall. Der Geruch traf ihn wie eine Wand, ein scharfer, stechender Gestank nach Ammoniak und feuchtem Dreck, der ihm den Atem nahm.
Er ignorierte ihn. Er pres sich in den engen Spalt zwischen der Stallwand und dem Stapel alten Zaunholzes. Der Boden war nass und schlammig, aber der Ort war perfekt. Er war tief im Schatten, unsichtbar vom Hof aus. Das laute zufriedene Grunzen der Schweine direkt hinter der Holzwand überdeckte das Geräusch seines schnellen Atems.
Sein Herz war ein Hammer, der gegen seine Rippen schlug. Er warf sich nicht einfach hin. Er nahm eine Position ein. Er zwang sich langsam durch den Mund zu atmen. Kein Geräusch. Ich bin nicht hier. Ich bin Luft. Ich bin ein Schatten. Er war klein. Er war unsichtbar. Das war seine einzige Verteidigung. Er kannte diesen Ort.
Er hatte ihn bereits zweimal benutzt. Sein Verstand arbeitete schnell und überprüfte die Winkel. Er dachte an die Lücken zwischen den Brettern des Schweinestalls. Konnten sie ihn sehen, wenn sie näher kamen? Er dachte an Ona. Würde sie ihn verraten, um sich selbst zu retten? Er dachte an den alten Knecht. Er vertraute niemandem.
nur der Geschwindigkeit seiner Beine und der Tiefe dieses Verstecks. Er zog die Knie fest an seine Brust und machte sich so klein wie ein Igel. Er war nicht mehr Manfred der Junge. Er war Jonas, das Tier, das wusste, wie man sich verbirgt. Er drückte sein Gesicht gegen eine schmale Ritze zwischen zwei Brettern, die ihm einen winzigen Seeschlitz auf den Hof gewährte.
Sein ganzer Körper war angespannt, eine Feder, die bereit war, sich zu entladen, bereit über den Zaun und in die offenen Felder zu fliehen, falls sie auf die Scheune zugingen. Und dann sah er es, das entscheidende Detail, der Eimer, den er benutzt hatte, um Wasser für das Holzspalten zu holen. Er lag umgestürzt mitten auf dem Hof, eine stille Anklage, dass jemand genau hier gewesen war, Sekunden zuvor.
Er starrte ihn mit Entsetzen an und betete, daß sie ihn nicht bemerken würden. Durch die schmale Ritze war die Welt zu einem einzigen angespannten Bildausschnitt reduziert. Er sah zwei Männer in Uniformen. Sowjets. Ihre Stiefel knirschten auf dem Kies des Hofes. Er konnte das tiefe Brummen ihrer Stimmen hören, die auf Russisch sprachen und dann Onas scharfe, flache Antworten auf Litauisch. Er verstand die Worte nicht, aber er verstand den Ton.
Es war der Ton von Autorität, kalt, fordernd und Onas Ton war unterwürfig, aber hart. Jedes Mal, wenn einer der Soldaten lachte, ein kurzes bellendes Geräusch, zuckte Jonas zusammen. Jede Geste mit der Hand, die in Richtung der Scheunen oder Felder zeigte, ließ einen Eisstachel durch seinen Magen fahren. Er war überzeugt, dass sie nach ihm fragten.
Er war überzeugt, dass Ona jeden Moment innerhalten und mit ihrem knochigen Finger auf sein Versteck zeigen würde. Schau nicht hierher. Geh weg. Schau nicht hierher. Er versuchte sie mit der Kraft seiner Angst wegzustoßen. Er sah sein ganzes zerbrechliches Leben auf diesem Hof, das Heubett, die Kartoffeln, die relative Sicherheit vor seinen Augen zerfallen. Er sah sich selbst wieder im Schnee, auf dem Eis.
Er wusste, dass es keinen anderen Ort mehr gab, an den er gehen konnte. Er blieb regungslos, sein Auge an das Holz gepresst. Er blinzelte nicht. Er sah, wie einer der Soldaten lachte und eine Zigarette hervorholte. Der andere Soldat sprach mit Ona, die nur mit den Schultern zuckte, eine Geste der Ahnungslosigkeit. Sie reichte ihm ein Dokument, wahrscheinlich ein Produktionsprotokoll. Der Soldat nickte knapp. Die Stiefel knirschten wieder. Sie drehten sich um.
Er hörte das laute Zuschlagen der Lastwagentüren, das Aufheulen des Motors. Aber er bewegte sich nicht. Er blieb verborgen, hielt den Atem an, zählte. Er wartete, bis das Geräusch des Motors vollständig in der Ferne verklungen war. Er wartete noch fünf weitere Minuten in der stinkenden Dunkelheit. Erst dann, ganz langsam entrollte er seine steifen Glieder.
Er blickte noch einmal ängstlich über die Schulter auf die leere stille Straße, bevor er aus seinem Versteck trat. Es war eine Aufgabe für einen regnerischen Tag. Ona hatte auf eine dunkle, fast vergessene Ecke der Scheune gezeigt, einen Raum hinter den leeren Kälboxen, der als Müllhalde diente.
Es war nicht der lebendige Teil der Scheune mit dem Geruch von Tieren und Heu. Hier war der Geruch anders. Es war der Geruch von trockener Vollnis, von Staub, der sich über Jahre angesammelt hatte und der scharfe, beißende Geruch von altem Mäusekoot. Staubige Lichtstrahlen fielen durch eine einzige rissige Fensterscheibe und beleuchteten eine Szähne des Verfalls.
Zerrissene Säcke, ein zerbrochenes Joch, rostige Metallteile, deren Zweck längst vergessen war. Jonas Aufgabe war es, diesen Müll hinauszuschaffen und zu verbrennen. Es war eine stumpfsinnige Arbeit. Genau die Art von Arbeit, die er bevorzugte. Sie erforderte keine Gedanken, keine Sprache, nur die Bewegung seiner Hände.
Er war in der Dunkelheit verborgen, allein mit dem Staub. Er fühlte nichts, während er arbeitete. Er war ein Werkzeug des Hofes, nicht mehr und nicht weniger. Er zog an einem Haufen steifer ölgetränkter Lumpen, die Ona benutzte, um die Achsen des Karrens zu schmieren. Sie waren mit Spinnenweben bedeckt. Er dachte nicht an seine Vergangenheit.
Er dachte nicht an seine Zukunft. Er dachte an das Gewicht des nächsten Sacks und an die Suppe, die es vielleicht am Abend geben würde. Seine Hände waren rau und schwielen bedeckt. Sie spürten die scharfen Kanten von Metall oder die Grobheit der Säcke kaum. Die Arbeit war mechanisch. Er griff in den Haufen, packte einen Klumpenstoff und zog daran.
Er war ein Teil dieses Ortes geworden, so wie der Staub ein Teil der Balken war. Die Scheune war sein Zuhause. Der Geruch von Mist war der Geruch von Sicherheit. Der Klang von Onas schimpfender Stimme war die Bestätigung. daß er noch hier war, daß er noch nützlich war, daß er noch essen durfte. Er griff erneut in den Haufen.
Er packte ein Bündelstoff, das sich anders anfühlte. Es war steif, aber nicht von Öl, sondern von Feuchtigkeit und anschließendem Trocknen. Es war dünner als das Sacklein. Er zog es ins Licht. Es war ein tiefes, schmutziges Blau, fast schwarz vor Dreck. Es war ein Ärmel, ein kleiner Ärmel, und er erkannte die Textur Wolle.
Es war seine alte deutsche Jacke. Das Bündel, das er für einen Lappen gehalten hatte, war der letzte zerrissene Rest des Kleidungsstücks, in dem er angekommen war. Eine Waage Neugier, eine Regung, die er seit Monaten nicht mehr gespürt hatte, ließ ihn innehalten. Er hatte die Jacke nicht vermisst, sie war nur ein Gegenstand gewesen.
Aber jetzt, als er sie sah, erinnerte er sich daran, dass er etwas in die Innentasche gestopft hatte damals, als der Zug kam. Eine Anweisung seiner Mutter. Verlier das nicht. Er fühlte eine plötzliche kalte Angst. Was, wenn Ona es gefunden hätte? Er begann den Stoff hektisch mit seinen schmutzigen Fingern zu durchwühlen.
Der Stoff war fast zu Müll zerfallen, die Näte waren morsch. Seine Finger trafen auf etwas Hartes, etwas flaches und rechteckiges, das in den Überresten der Tasche feststeckte. Es war feucht und klebte am Futter. Er musste es vorsichtig herauslösen. Seine Finger zitterten leicht. Er zog es heraus. Es war ein kleines Bündel zusammengefaltet. Er entfaltete es. Es war ein Foto, das Gesicht nach innen geknickt, um es zu schützen.
Das Papier war weich und zerknittert, die Kanten waren ausgefranzt. Er klappte es auf. Er starrte auf die Gesichter. Sie waren verblasst, ein Sepiaton, der vom Wasser fast ausgelöscht worden war. Ein Mann und eine Frau. Sie standen vor einem Haus, das er nicht wieder erkannte. Sie lächelten in die Kamera. Der Mann trug einen Anzug, die Frau ein helles Kleid.
Sie sahen jung aus und blickten ihn hoffnungsvoll an. Eine intellektuelle Erkenntnis traf ihn. Eltern, das Wort formte sich in seinem Kopf. Das waren die Menschen, die ihn gemacht hatten. Er wusste es, so wie er wusste, dass die Sonne aufging. Aber der Anblick löste nichts in ihm aus.
Da war kein Schmerz, keine Wärme, keine Sehnsucht. Sein Herz schlug nicht schneller. Er fühlte sich nicht traurig. Er starrte auf die Gesichter, als würde er ein Bild in einem Geschichtsbuch betrachten, das von einer längst vergangenen, irrelevanten Zeit berichtete. Er versuchte sich an ihre Stimmen zu erinnern. Er konnte es nicht.
Er versuchte sich an den Geruch seiner Mutter zu erinnern. Da war nichts, nur der Geruch von Staub und Mäusekoot in der Scheune. Er dachte, er sollte etwas fühlen. Er war der Junge auf dem Zug gewesen, der geschworen hatte, seine Schwester nicht loszulassen. Jetzt hielt er das Bild seiner Eltern in der Hand und fühlte nur eine kalte Distanz. Sie waren fremde, fremde, die ihn anglächelten.
Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand etwas geschrieben mit blasser Tinte. Ein Name: “Manfred.” Er starrte auf das Wort Manfred. Er flüsterte das Wort in die staubige Luft. Der Klang war seltsam. Es war ein harter deutscher Laut. Er rollte schwerfällig von seiner Zunge. Es fühlte sich an wie ein Stein im Mund. Es war ein langes, kompliziertes Geräusch.
Es passte nicht mehr zu ihm. Er versuchte es noch einmal. Manfred. Es war die Sprache des Feindes. Es war die Sprache, die er instinktiv versteckte, die Sprache, die die Russen auf dem Hof nicht hören durften. Er verglich es mit den Wörtern, die er jeden Tag benutzte. Jonas, Wanduo, Duona.
Diese Wörter waren kurz, schnell, praktisch. Sie waren die Geräusche des Überlebens. Für einen schrecklichen, verwirrenden Moment war er sich nicht sicher. War Manfred wirklich sein Name gewesen? Es fühlte sich an wie eine Lüge. Es fühlte sich an wie der Name eines anderen Jungen, eines Toten Jungen.
Der Junge, der er war, der Junge, der das Heu mistete und die Schweine fütterte, hieß Jonas. Diese Diskrepanz, diese sprachliche Dissonanz machte ihm Angst. Es war als würde der Boden unter ihm nachgeben. Wenn er nicht Manfred war, wer war er dann? Und wenn er nicht Jonas war, was würde er essen? Die Frage war nicht, wer er war, sondern was es ihn kosten würde, sich zu erinnern. Das Foto in seiner Hand war kein Schatz. Es war ein Beweisstück.
Es war der Beweis, dass er der Deutsche war, der Junge, den der Knecht gewarnt hatte, der Junge, der den Hof in Gefahr brachte. Jonas. Die Stimme kam von draußen, scharf, schneidend, ungeduldig. Ona, der Klang traf ihn wie ein Peitschenhieb. Er zuckte zusammen, als wäre er bei einer Straftat ertappt worden. Die Verbindung zur Vergangenheit zerriss augenblicklich.
Der Junge, der über seinen Namen nachdachte, verschwand. Das gejagte Tier kehrte zurück. Seine Reaktion war augenblicklich. Es war nicht Sentimentalität, es war Angst. Er faltete das Foto schnell zusammen. Seine Finger zitterten jetzt vor Furcht, nicht vor Kälte. Er blickte sich wild um. Wohin damit? Es zu behalten, war gefährlich. Es wegzuwerfen. Er zögerte.
Jonas Greiao, schneller. Sie war näher gekommen. Er hörte ihre Stiefel auf dem Hof. Er traf eine Entscheidung. Er zerknüllte die Reste seiner alten Jacke, dieses letzte Stück seiner deutschen Identität und schob sie tief unter einen Haufen faulender Säcke. Er steckte das Foto nicht hinein.
Er schob es tief tief in die Tasche seiner groben Leinenhose, wo es gegen seinen Oberschenkel drückte. Er versteckte es nicht, um es zu bewahren. Er versteckte es, um es zu verbergen. Er griff nach einem leeren Sack und begann ihn hektisch mit Müll zu füllen. Als OA die Scheunentür aufriss und ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah, war er nur Jonas der faule Junge, der bei der Arbeit trödelte.
Er blickte auf, sein Gesicht leer und unterwürfig. Er war wieder sicher, der Kreis hatte sich geschlossen. Der Schnee war zurückgekehrt. Es war nicht der tiefe, unberührte Pulverschnee Ostpreußens, sondern ein dünner, feuchter, litauischer Schnee, der den Hof in ein trostloses Grau tauchte. Die Dämmerung brach herein, nicht mit einem dramatischen Sonnenuntergang, sondern durch ein langsames Verdicken der Luft, das die Umrisse der Scheune und des Hauses verwischte. Die Luft roch nach nassem Holz und dem bevorstehenden
Frost. Es war die Stunde, in der die Tiere unruhig wurden, die Stunde, in der die Arbeit getan sein musste. Auf dem Hof bewegte sich eine einzelne Gestalt. Es war nicht Manfred, es war Jonas. Er war allein. Ona und der alte Knecht waren im Haus, wo das gelbe warme Licht eines Kaminfeuers aus dem Fenster fiel.
Aber er war hier draußen in der Kälte und erledigte die letzte Aufgabe des Tages. Er war jetzt 9 Jahre alt, obwohl er seinen Geburtstag nicht kannte. Er war immer noch klein für sein Alter, aber die Proportionen seines Körpers hatten sich verändert. Er war kein Kind mehr, er war eine Miniatur eines Arbeiters.
Er trug grobe Filzstiefel, die mit Stroh ausgestopft waren, um seine Füße vor der Kälte zu schützen und einen dicken geflickten Wollmantel, der ihm viel zu groß war. Wahrscheinlich hatte er dem Knecht gehört. Er kam von der Pumpe und bewegte sich langsam über den vereisten Hof. Er trug einen schweren Holzeimer.
Die Stille war tief, nur unterbrochen vom Knirschen seiner Stiefel auf dem gefrorenen Boden und dem leisen rhythmischen Schwappen des Wassers im Eimer. Die Kamera zoomt heran, fokussiert auf die Details dieser Anstrengung. Sie zeigt nicht sein Gesicht, sie zeigt seine Hände. Es sind die Hände, die Ona im Wald gesehen hat, aber verwandelt. Sie sind nicht mehr die eines Kindes. Die Knöchel sind rot und aufgesprungen von der Kälte.
Die Haut ist rau wie Rinde. Sie umklammern den hölzernen Griff des Eimers mit einer Kraft, die nicht von Muskeln, sondern von Gewohnheit kommt. Der Eimer ist eindeutig zu schwer für ihn. Er trägt ihn mit beiden Händen. Sein ganzer Oberkörper ist zur Seite geneigt, um das Gewicht auszugleichen. Manfred hätte diesen Eimer nicht tragen können.
Manfred hätte geweint oder sich beschwert. Jonas nicht. Jonas wußte, dass das Wasser getragen werden mußte, damit die Kuh trinken konnte, damit es am Morgen Milch gab, damit es Suppe gab. Sein Rücken ist gekrümmt. Er bewegt sich nicht schnell. Er bewegt sich stetig. Ein Schritt, ein Anhalten, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
Das Wasser schwappt gefährlich nah an den Rand. Noch ein Schritt. Es ist die Bewegung eines alten Mannes, eine Bewegung der Ausdauer, nicht der Kraft. Er ist eine Maschine, die darauf programmiert ist, die nächste Aufgabe zu erfüllen. Es gibt keinen Widerstand in ihm, keine Rebellion, nur die kalte, stumpfe Notwendigkeit der Arbeit.
Er hat gelernt, den Schmerz in seinen Armen zu ignorieren, so wie er gelernt hat, die Kälte zu ignorieren. Es sind nur Empfindungen, sie sind nicht wichtig. Wichtig ist nur, den Einimer zur Scheune zu bringen. Während er geht, zieht sich die Kamera langsam zurück. Wir sehen ihn jetzt von hinten.
Eine kleine einsame Gestalt, die sich durch die graue Weite des Hofes kämpft. Das warme Licht des Hauses, nur drei Meter entfernt, scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Es ist nicht für ihn. Sein Ziel ist die große dunkle Öffnung der Scheune, die wie ein offener Mund auf ihn wartet. Diese Perspektive von hinten ist absichtlich.
Sie verweigert uns den Zugang zu seinen Augen. Wir können nicht wissen, was er denkt, weil er vielleicht gar nichts mehr denkt. Er ist zu einer Funktion geworden, zu einem Teil der Landschaft. Ist er traurig? Ist er wütend? Erinnert er sich an irgendetwas? Die Fragen sind irrelevant. Er ist hier. Er lebt. Er atmet die kalte Luft ein.
Er wird diese Nacht in einem Heubett schlafen, das nicht friert. Das ist alles, was zählt. Er ist kein Junge mehr, der über seine Identität nachdenkt. Er ist ein Überlebender, reduziert auf die wesentlichsten Funktionen. Arbeit, Essen, Wärme, Verstecken. Er ist das, was übrig bleibt, wenn einem Kind alles genommen wird.
Was ist in seinem Kopf? Es ist nicht das Bild seiner Eltern, das verblasst ist. Das Foto ist immer noch tief in seiner Tasche versteckt. Aber er denkt nicht daran. Es ist nicht die Erinnerung an Annas kalte Hand. Diese Erinnerung ist begraben unter tausend Eimern Wasser, unter tausend gemisteten Stellen. Sein Verstand ist nicht leer.
Er ist fokussiert. Er denkt an das Wasser im Eimer nicht verschütten, Ona wird schimpfen. Er denkt an das Geräusch, das die Kuh machen wird, wenn sie ihn hört. Er denkt an das Gefühl, wenn er den Eimer endlich absetzen kann und der Schmerz in seinen Armen nachlässt. Er denkt an die Wärme der Scheune. Er denkt an den Geruch von heu und warmen Tierkörpern.
Und er denkt an die Schüssel mit dünner Kartoffelsuppe, die ihn erwartet, wenn diese Arbeit getan ist. Das ist sein Horizont, das ist seine ganze Welt, das warme Licht, die Familie, der Name. All das ist Luxus aus einer Zeit vor dem Eis. Die Maschine, die jetzt den Hof überquert, braucht diesen Luxus nicht, um zu funktionieren. Die kleine Gestalt erreicht die Schwelle der Scheune.
Er hält einen Moment inne, sammelt seine letzte Kraft, um den schweren Eimer über die hohe Kante zu heben. Dann verschwindet er in der Dunkelheit des Innenraums. Der Hof ist wieder leer, nur der Schnee fällt leise in die Fußstapfen, die er hinterlassen hat. Er ist ein Überlebender, daran besteht kein Zweifel. Der Körper des Jungen hat den Zug, den Wald und das Eis besiegt.
Er hat gelernt, sich anzupassen, sich zu verwandeln, zu werden, was nötig war, um den nächsten Tag zu sehen. Aber die Antwort auf die erzählerische Frage, die wir zu Beginn gestellt haben, ist klar. Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn ihm alles genommen wird? Es bleibt ein Körper, der funktioniert. Es bleibt ein Instinkt, der sich versteckt.
Es bleibt ein Junge namens Jonas. Aber der Junge namens Manfred, der Junge, der eine Identität hatte, der zu jemandem gehörte und einen Namen kannte, den seine Mutter ihm gegeben hatte, dieser Junge ist verloren. Er ist dort draußen geblieben, irgendwo in den tiefen, stillen, schneebedeckten Wäldern Ostpreußens.
Vielen Dank, dass Sie uns begleitet haben, um sich an diese Geschichte zu erinnern. Die Erfahrungen, die wir hier erforscht haben, sind Echos realer Tragödien, die durch den Krieg genährt wurden, und ihre Aufmerksamkeit gibt den zum Schweigen gebrachten eine Stimme.
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