Sie war das helle Gesicht des deutschsprachigen Kinos, eine Ikone der 50er und 60er Jahre, deren Lachen Generationen prägte. Heute, im Schatten des 100. Geburtstags, spricht Lilo Pulver über das, was hinter der Strahlkraft immer da war: Traurigkeit. Nicht als Pose, sondern als gelebte Wahrheit einer Frau, die viel Glück hatte – und alles verlor, was man nicht ersetzen kann.
Der Schmerz, der bleibt.
Der tragische Tod ihrer Tochter Melis im Jahr 1981 zerschneidet Lilos Biografie wie ein Riss im Glas. Melis, 21, begabt, sensibel, künstlerisch – springt vom Glockenturm des Berner Münsters. Offiziell: Suizid. Inoffiziell: eine Mischung aus Sucht, Verzweiflung und stummem Hilferuf. Für Lilo ist es der Moment, der „das Herz aus dem Leben reißt“. Sie gibt sich die Schuld, sucht Rehazentren, führt endlose Gespräche, hält Tagebuch gegen das Vergessen. Doch die Zeit heilt nicht, sie nur ordnet Erinnerungen. Helmut Schmid, Ehemann und Partner am Set, beschreibt Lilos Trauer als „stillen Sturm“ – sichtbar nur an den Nächten, in denen sie weinend neben ihm liegt. 1990 stirbt er an einem Herzinfarkt. Da ist Lilo endgültig auf sich selbst zurückgeworfen.
Kindheit, Aufbruch, Kometenlauf.
Geboren 1929 in Bern – Liselotte Pulver, später „Lilo“ – wächst sie in einer unprätentiösen Mittelstandsfamilie auf. Spaziergänge an der Aare, Theater-AG, der leise Wunsch nach Bühne. Sie beginnt BWL, bricht ab, entscheidet sich fürs Rampenlicht. Von Bern und Zürich führt der Weg über frühe Filmrollen zu jenen Figuren, die das Nachkriegspublikum bezaubern: das quicklebendige Freneli, die kecke Ingeborg, die Gräfin, die Mut und Mélange aus Humor und Herz vereint. Billy Wilders „Eins, zwei, drei“, „La Fayette“, „Das Wirtshaus im Spessart“ – Namen wie Sternbilder über einer Karriere, der Kritiker Charme, Intelligenz und Takt zuschreiben. Sie kann komisch, ohne klein zu machen. Sie kann tragisch, ohne sentimental zu werden. Und sie kann beides zugleich – vielleicht der Grund, warum man sie mit Audrey Hepburn vergleicht, ohne sie je zu verwechseln.
Liebe im Scheinwerferkegel.
Am Set zu „Gustav Adolfs Page“ trifft sie Helmut Schmid. Zwei Stars, eine Ehe, zwei Kinder – Mark und Melis. Doch Ruhm hat Nebenwirkungen: Reisen, Distanz, Eifersucht ohne Rivalität, eher aus Sehnsucht. In den 70ern eine vorübergehende Trennung, die Tragödie um Melis vertieft die Risse. Und doch raufen sie sich zusammen, sitzen am Genfersee, sammeln Erinnerungen, schwören, es zu schaffen. Dann kommt Helmuts plötzlicher Tod – und Lilo bewahrt, was bleibt: Haltung.
Der Tag, der zwei Leben machte.
Nach dem Anruf der Polizei, dem Gang durch die eigene Ohnmacht, zieht Lilo sich zurück. Weniger Premieren, mehr Stille. Sie schreibt, pflanzt Edelweiß als Ritual der Erinnerung, sagt Rollen ab, hört Kindern in der „Sesamstraße“ zu und ihnen zu lachen helfen. Sie engagiert sich für Reha-Projekte, verwandelt die private Katastrophe in eine stille, praktische Nächstenliebe. Nicht laut, nie laut – aber verlässlich.
Altwerden als Arbeit.
Heute lebt Lilo in Bern, umsorgt, diszipliniert, wach. Sie steht früh auf, macht sanftes Yoga, geht Gänge auf und ab – der Körper will, was er will: Geduld. Arthritis und Osteoporose sind Gegner, die man nicht besiegt, aber klug managt: Physiotherapie, Vitamine, Bewegung und eine Küche, die mehr kann als schmecken. Blutdruck? Im Blick. Geist? Hell. Kreuzworträtsel, Tagebuchnotizen, Videoanrufe von den Enkeln. Musik – Mozart, Beethoven – als Geländer an schlechten Tagen. Und doch schleicht die Einsamkeit manchmal herein, wenn der Abend still wird. Dann helfen Briefe, Fanpost, Erinnerungen, die nicht nur schmerzen, sondern auch tragen.
Erbe und Vermächtnis.
Mehr als 50 Filme, Preise, Nominierungen, ausverkaufte Kinos, Standing Ovations. Aber vielleicht noch wichtiger: Rollen, die Frauen nicht auf Klischees reduzieren, sondern ihnen Bewegungsfreiheit schenken. Lilo Pulver hat Figuren gespielt, die lachten, liebten, scheiterten, neu begannen – und damit Schauspielerinnen nach ihr, von Europa bis Hollywood, eine Tür geöffnet. Auf der Bühne („Pygmalion“, „Ernst sein ist alles“) wie im Fernsehen zeigte sie, wie man Leichtigkeit ernst nimmt und Ernst leicht.
Geld, Besitz, Bedeutung.
Was bleibt, ist nicht nur Ruhm. Aus Jahrzehnten Arbeit erwächst ein finanzielles Polster – Immobilien, Rechte, ein gut verwaltetes Portfolio. Das ist solide, ja. Doch der eigentliche Reichtum, den dieses Leben aufgehäuft hat, hat keine Währung: die Treue des Publikums, die Briefe, die noch kommen; die Gewissheit, dass Kunst trösten kann; und jene Edelweißblüten im Garten, die jedes Jahr neu aufgehen, als wüssten sie nichts von Verlust.
Eine leise, standhafte Wahrheit.
Wenn Lilo heute sagt, das Leben sei traurig, dann klingt das nicht wie Resignation. Es klingt wie die Bilanz einer Frau, die nichts verklärt und trotzdem dankbar bleibt: für das, was war; für das, was noch ist. Traurigkeit, so versteht man sie in ihren Worten, ist kein Buhmann, sondern ein Unterton – der das Helle erst hörbar macht. Vielleicht ist das Lilos letzte große Rolle: uns beizubringen, dass Stärke nicht die Abwesenheit von Tränen ist, sondern die Entscheidung, trotz allem weiter freundlich zu sein.
Ausblick.
Sie träumt davon, hundert zu werden. Nicht, um eine Zahl zu erreichen, sondern um noch ein paar Frühlingsblüten mitzunehmen, ein paar Spaziergänge an der Aare, ein weiteres Rätsel, eine weitere Melodie. Und wenn man sie fragt, was bleibt, lächelt sie vielleicht und sagt: „Genug.“ Genug, um eine Ikone zu sein – und ein Mensch.